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Fee | Mai 2011

Die Hoffnung stirbt zuletzt
von Nicole Müller

Langsam kommt Conni zu sich. Der faule Geruch klettert ihr in die Nase, legt sich wie ein Teppich auf die Zunge und beginnt allmählich Erinnerungen zu wecken.
‚Nicht schon wieder‘, schnellt es ihr durch den Kopf. Alles um sie herum ist schwarz. Sie bleibt auf dem Rücken liegen und bewegt vorsichtig die Hände, hebt leicht die Arme, wackelt mit einem Zeh, dann mit den Füßen. ‚Alles noch dran‘, stellt sie erleichtert fest. Sie tastet mit ihrer Hand den matschigen, bekannten Untergrund ab.
„Scheiße“, brüllt sie.
Wie oft ist sie hier gewesen?

Bevor sie das erste Mal hier war, lag sie im Bett, schlief in Toms Armen ein und genoss seine Nähe. Als sie aufwachte, fand sie sich plötzlich in der Dunkelheit wieder. Sie ist nicht mit der Nacht zu vergleichen, da leuchteten Sterne. Hier gibt es keinen Funken von Licht oder Energie.
„Tom!“, rief sie damals. Beim Versuch sich hinzusetzen, knallte ihr von oben etwas gegen den Kopf. Erst dachte sie, jemand habe zugeschlagen, doch nun weiß sie, dass sie sich in einem sehr engen unterirdischen Tunnel oder Ähnlichem befindet.
Sie rollte sich auf den Bauch und stieß gegen etwas.
„Tom?“
Voller Hoffnung griff sie zur Seite und fühlte eine reglose kalte Hand.
„Da bist du ja!“, stellte sie erleichtert fest. Doch schnell wurde ihr bewusst, dass es nicht Tom sein konnte. Die Hand war kleiner, zarter, glich eher ihrer eigenen. Eine Frauenhand? Sie ließ schnell los. Bitte nicht! Sie tastete den Arm der fremden Hand ab, spürte eine gewölbte Brust und fühlte eine klebrige Flüssigkeit. Schnell zog sie ihre Hand weg und robbte wimmernd in die andere Richtung. Ihr Herz hämmerte, als wolle es ihr die Rippen zerschlagen. Die Wände des Tunnels kamen immer näher. Bewegten sie sich? Es musste doch einen Ausgang geben! Warum bekam sie noch Luft? Irgendwoher musste doch der Sauerstoff kommen!
Sie robbte weiter und stieß dabei häufig gegen Steine und Erde. Alles an ihr war feucht und klebte. Schwitzte sie so stark? Hatte sie sich Verletzungen zugezogen? Schmerz fühlte sie keinen. Sie kroch weiter, immer weiter. Gefühlte Stunden waren vergangen, als ihre Kraft nachließ.
„Es kann nicht mehr weit sein“, ermahnte sie sich. „Du schaffst das!“
Ihre Arme und Beine wurden weicher und schienen ihr nicht mehr gehorchen zu wollen. Plötzlich lag etwas vor ihr. Sie dachte, es wäre vielleicht ein großer Stein und wollte ihn zur Seite räumen. Als sie ihn in die Hand nahm, fühlte sie lange Haare und ein Metallstück an einem weichen … Ohr?
Blitzschnell warf sie das Ding nach vorn und schrie, schrie und schrie, als würde ihr das Schreien helfen, diese gefühlte Bild zu verscheuchen. Und das tat es letztendlich auch, wenn auch nicht für immer. Sie verlor das Bewusstsein.

Conni ist jetzt schlauer. Sie war unzählige Male hier. Sie weiß, sie muss sich nur gedulden. Die gute Fee hilft ihr heraus. Sie kommt immer. Irgendwann.
Nie wieder muss Conni fremde Körperteile erkunden und nach dem Ausgang suchen. Das Abwarten hat sie hier gelernt. Zum Zeitvertreib summt sie Kinderlieder vor sich hin. „Hänschen klein“ gefällt ihr momentan am Besten. Ob ihre Mutter sie auch vermisst? Ob sie nach ihr sucht? Conni döst vor sich hin und stellt sich dabei eine dicke weiche Decke vor, wie sie ihre Mutter damals immer über sie gelegt hatte.

„Conni“, ruft jemand aus der Ferne. „Conni?“
Jemand zerrt an ihren Augenlidern. Ein grelles Licht blendet sie.
‚Der leuchtende Zauberstab!“, freut sich Conni und blinzelt. Da steht sie, in ihrem weißen Kleid. Mit ihren durchsichtigen Flügeln, ihrem goldleuchtenden, gelockten Haar. Sie ist wieder da!
„Du hast doch sicher Hunger, Conni?“
Conni öffnet den Mund, um zu antworten. Doch ihre trockene Kehle gibt keinen Laut von sich. Sie liegt wieder in diesem gemütlichen Bett. Das Himmelblau der Bettwäsche gibt ihr das Gefühl der Sicherheit. Die Fee hatte sie bei den letzten Begegnungen für Conni hergezaubert. Neben dem Bett ist der Tisch gedeckt. Conni greift zuerst zum Glas.
„Ich mache dir das Glas gleich wieder voll.“ Die gute Fee zwinkert ihr zu und greift zur Flasche.
Conni ist immer wieder überrascht, wie gut die Fee Gedanken lesen kann. Warum aber kann sie nicht hierbleiben? Warum bringt sie sie nicht nach Hause? Und hat sie Tom auch geholfen? Darauf bekommt sie keine Antworten.
Connis Wangen werden feucht. Sie wischt die Tränen weg. Die Fee umarmt sie.
„Weine ruhig. Es wird besser werden.“ Doch dann geht sie Richtung Tür. „Bis später. Ich komme wieder. Du weißt, ich muss weiter.“
Conni holt Luft, doch ihre Rippen schnüren die Lunge zusammen. Sie möchte schreien: „Bleib hier! Lass mich nicht alleine! Sie kommen wieder!“
Ihr Mund bewegt sich, doch die Luft fehlt. Sie schaut der Fee nach und weiß genau, was gleich passiert. Sie schiebt das Essen zur Seite, kriecht unter ihre Himmeldecke und genießt die tröstende Wärme.

„Frau Grubauer?“
Da ist sie! Sie rüttelt stark an ihrer Schulter. Conni bewegt sich nicht, stellt sich schlafend. Vielleicht geht sie dann? Mit ihr geht das Grauen von vorne los. Bitte nicht! Doch sie rüttelt weiter.
„Frau Grubauer, ich weiß doch, dass Sie wach sind. Nun kommen Sie bitte mit.“
„Bitte geh“, jammert Conni. Ihr ist bewusst, dass sie sich nicht wehren kann, dass sie gehorchen muss. Wenn sie sich wehrt, muss sie in die Folterkammer. Sie öffnet die Augen. Die böse Fee grinst sie an. Ihr schwarzes, fettiges Haar liegt ihr auf den Schultern. Ihr weißes Kleid gleicht dem der guten Fee, aber die Flügel sind aus brennendem Feuer. Conni springt aus dem Bett und versucht auf Abstand zu gehen, damit sie sich nicht verbrennt.
„Gut, dann geh` neben mir her“, raunt die böse Fee. „Dass du aber bloß nicht versuchst, wieder wegzurennen!“
Sie gehen einen langen Flur entlang bis zu seiner Tür. Hier wohnt der Dämon. Connis Beine werden steif.
„Ich will nicht“, flüstert sie.
„Frau Grubauer, bitte. Sie wollen nach Hause, dann müssen sie auch mitmachen.“
Die böse Fee öffnet die Tür. Conni erblickt ihn sofort. Seine feuerroten Augen leuchten, er kann damit durch Wände sehen. Er trägt ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose. Seine roten Haare stehen in alle Richtungen, seine grau-blaue Haut ist von kleinen Nadeln übersät. Er ist ein Dämon, schlimmer, als er im Buche geschrieben steht. Conni erinnert sich, wie sie ihn an seiner behaarten Brust anfassen musste. Seine Brusthaare bohrten sich wie Stacheldraht in ihre Hände. Als er sie küsste, bildeten sich Brandblasen auf ihren Lippen. Sie schmerzten so heftig, dass sie sehr lange nicht sprechen konnte …

„Danke, Ulrike“, hört Conni ihn sprechen. Er wendet sich ihr zu. „Guten Tag, Frau Grubauer. Setzen Sie sich.“ Er nickt zur Couch.
„Will stehen“, flüstert Conni.
„Frau Grubauer, im Sitzen ist es doch viel entspannter. Sie können natürlich auch stehen bleiben.“
„Will stehen“, wiederholt Conni. Sie möchte weg. Sie wünscht sich zu ihrer Mutter oder zu Tom. Es muss doch gehen. Wo ist die gute Fee? Sie kann doch zaubern! Warum bringt sie sie nicht nach Hause?
„Frau Grubauer, wollen wir heute sprechen?“, fragt der Dämon.
Conni schüttelt den Kopf. Warum sollte sie mit ihm reden? Dieses widerliche Schwein!
Er kommt auf sie zu, nimmt ihre Hand zwischen seine Hände. Nein, es sind Krallen und sie reißen ihr die Hand auf.
„Bitte nicht“, fleht Conni und sieht das Blut aus ihren Adern tropfen. Ihre Hand brennt. Er wird sie umbringen. Conni will rennen, ihre Beine lassen sich nicht bewegen. Sie guckt nach unten und erblickt ihre festgeketteten Füße. Gegen ihn hat sie keine Chance. Sie ist zu schwach, zu klein. Sie kann nichts ausrichten. Somit schreit sie, brüllt, kreischt, was ihre Stimme hergibt. Vielleicht kommt die gute Fee?
Die Tür öffnet sich. Conni zuckt zusammen. Die böse Fee betritt mit ihrem spitzen Zauberstab den Raum.
„Nein“, winselt Conni. „Bitte nicht wieder in den Tunnel, bitte!“
Die böse Fee hält sie fest und Conni spürt den gewohnten Stich in ihrer Armbeuge.

Alles ist ruhig. War sie bewusstlos? Langsam kommt sie wieder zu sich. Der faule Geruch klettert ihr in die Nase, legt sich auf ihre Zunge und weckt allmählich Erinnerungen. Hier gibt es keinen Funken Licht oder Energie.
„Bitte, gute Fee! Bring mich zu meiner Mutter!“, fleht Conni.

*************

„Ulrike, ich gebe den Fall ab. Vielleicht bin ich als Mann nicht der richtige für die Therapie?“
„Das habe ich Ihnen gleich gesagt, Dr. Kerge. Es lag auf der Hand, dass Frau Grubauer kein Vertrauen zu Ihnen aufbauen kann. Nehmen Sie es jetzt bitte nicht persönlich. Ich habe zwar nicht Psychologie studiert, aber …“
„Ulrike, ich weiß. Sie wird eher Vertrauen zu einer Psychologin aufbauen.“
„Das sehe ich genauso. Sie hat ihrem Mann vertraut. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre von meinem vergewaltigt worden… Was muss diese Frau durchgemacht haben?!“
„Man kann trotzdem von Glück reden, dass ihre Schreie von einem Spaziergänger gehört wurden. Sie hätte begraben in der alten Ruine sterben können.“
„Ich habe jedoch den Eindruck, dass Frau Grubauer noch weit entfernt ist, die Lebensrettung als ihr Glück zu erkennen. Es wird viel Zeit und Geduld brauchen, bis sie mit den Bildern der anderen Frauen, bzw. deren Überreste, leben kann.“
„Das ist mir bewusst, Ulrike. Zumal sie mit dem Täter zusammen lebte. Sie ist stark und wird es schaffen. Da wir aber keine Psychologin im Haus haben, muss ich sie verlegen lassen. Ich dachte, es würde ihr helfen, dass ihre Mutter durch ihre Anstellung hier immer in ihrer Nähe ist. Immerhin hat sie ihr das Zimmer fast wie bei sich zuhause eingerichtet und liest Märchen und singt ihr Kinderlieder vor.“
„Sie werden richtig entscheiden, Dr. Kerge. Es wird werden. Man soll die Hoffnung nie aufgeben.“

Letzte Aktualisierung: 22.05.2011 - 01.19 Uhr
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