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Fee | Mai 2011

Wie überall
von Uta Lösken

Als ich vom Einkaufen zurückkam, saß sie immer noch zusammengesunken auf der Parkbank. Fußgänger hasteten an ihr vorbei, ein Radfahrer fuhr beinahe über ihren Mantel, keiner beachtete sie.
Die Kleine hatte den Kopf gesenkt, ihre Haare fielen als schwerer Vorhang fast bis auf den Boden und schimmerten rötlich in der Nachmittagssonne. Auch der Mantel glänzte seidig, die Farbe changierte in allen Tönen des Regenbogens. Oder war das ein Umhang? Seltsam gekleidet war sie, als ob sie aus einer Theatergruppe oder aus dem Zirkus käme. Ich konnte mir die zierliche Gestalt gut auf dem Drahtseil vorstellen oder am Trapez. Luftig, schoss es mir durch den Kopf, luftig sah sie aus. Und doch hingen ihre Schultern, als lastete das Gewicht eines Elefanten darauf.
Ich ging zur Parkbank und setzte mich neben die Kleine.
"Hallo, fehlt dir etwas? Hast du dich verlaufen?"
Sie hob den Kopf und starrte mich mit uralten Augen an.
"Verzeihen Sie", stammelte ich. "Ich dachte ... ich meinte ... Sie wären ein Kind. Also ..." Was redete ich für einen Blödsinn.
Ihr Blick hielt meinen fest mit einer Kraft, die im Gegensatz stand zu der Müdigkeit, die ihre ganze Gestalt ausstrahlte. Ihre nachtblauen Pupillen öffneten Meerestiefen.
"Verzeihen Sie", wiederholte ich, "ich wollte Sie nicht belästigen."
"Du, bleib beim Du", bat sie. "Das ist nicht so einsam."
Ich schluckte und nickte.
"Du siehst mich", stellte sie fest. "Du bist wohl die Einzige, die mich sieht."
Ihre Stimme erinnerte an das leise Klingen eines Glockenspiels.
"Die anderen sind wohl zu sehr in Eile", sagte ich.
"Nein, du verstehst mich falsch." Sie schüttelte den Kopf und ihr Haar schwebte einen Moment lang wie eine Wolke um ihr schmales Gesicht. Blühten hier irgendwo Maiglöckchen?
"Es ist normal, dass sie mich nicht sehen. Ich bin eine Fee und für Menschen unsichtbar. Eigentlich." Sie seufzte.
"Entweder bist du eine ganz besondere Menschin" – ich schüttelte abwehrend den Kopf – "oder ich bin wirklich am Ende."
Sie ließ den Kopf wieder sinken und ihre Schultern zuckten. Unter dem Haarvorhang flinkerte es silbern, flüssige Perlen tropften auf den Boden.
Ich fühlte mich hilflos und dumm. Neben mir auf der Bank weinte dieses Wesen still vor sich hin und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Vorsichtig legte ich eine Hand auf ihren Unterarm. Sie ließ es geschehen.
Was hatte ich in englischen Romanen gelesen? In solchen Fällen bereitet man eine Tasse starken, süßen Tee zu und sorgt dafür, dass er so heiß wie möglich getrunken wird.
Ich schlug der Fee – oder was immer sie war – vor, mit zu mir nach Hause zu kommen, nur zwei Minuten zu Fuß und wir wären da. Sie murmelte etwas, das ich als Zustimmung wertete, ließ sich von mir auf die Füße ziehen und schlurfte erschöpft neben mir her. Ihr Umhang – oder waren das Flügel? – schleifte über den staubigen Asphalt.

Sie hockte am Küchentisch und schaute mir zu, wie ich Teeblätter abmaß, Wasser zum Kochen brachte und den Tee aufgoss.
"Zwei Minuten ziehen, dann wirkt er anregend", erklärte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.
Ich stellte den dampfenden Becher vor ihr auf den Tisch und setzte mich.
"Danke." Sie fasste ihn mit beiden Händen, wie um sich zu wärmen, schnupperte und nippte ganz vorsichtig.
"Ich bin keine richtige Fee."
Also war sie doch nicht verrückt.
"Ich kann keine Wünsche mehr erfüllen. Ich kann's einfach nicht mehr."
Sie sah mich tieftraurig an und ich wusste plötzlich: Alles, was sie sagt, ist wahr.
"Ich kann nicht mehr."
Sie blies vorsichtig über den Tee, nippte erneut und stellte den Becher ab.
"Früher war das alles kein Problem. Du bekamst einen Auftrag, flogst zu deinem Kunden, erklärtest ihm in Ruhe, wie das mit dem Wünschen funktioniert. Was immer er dir auftrug wurde erledigt. Mal ging es um ein neues Auto, ein Schmuckstück für die Freundin oder um eine gute Bewertung beim Chef. Alles kein Problem."
Sie trank einen Schluck, bevor sie leiser weiter sprach.
"Früher hatten wir Zeit, uns um unsere Kunden zu kümmern, verstehst du? Aber dann wurde es immer hektischer."
"Wie überall", warf ich ein.
"Wir bekamen Zeitlimits gesetzt, mussten pro Tag so und so viele Wünsche erfüllen. Akkordarbeit. Immer mehr Menschen hatten immer mehr Wünsche. Nur wir wurden nicht mehr. Kein Nachwuchs im Feenjob." Sie zog eine Grimasse. "Wer will schon unter solchen Bedingungen arbeiten?"
"Wie überall", wiederholte ich und wartete, bis sie den Tee ausgetrunken und den Becher abgestellt hatte.
"Es begann schleichend." Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. "Mein Flugtempo ließ nach, ich verwechselte Wünsche, schließlich konnte ich nicht mal mehr den Zauberstab heben. Und jetzt hocke ich hier in deiner Küche, schlürfe Tee und bin zu nichts nütze."
Sie ließ die Hände in den Schoß fallen und schlug mit der Stirn auf die Tischplatte.
"Nichts nütze", nuschelte sie und weinte hemmungslos, dass sich auf dem Laminat eine silbrige Pfütze bildete.
Irgendwann wurde sie still und ich hielt ihr ein Taschentuch hin. Sie putzte sich die Nase und lächelte kläglich.
"Danke für den Tee und für's Zuhören. Ich geh dann mal wieder."
Sie stand auf und faltete ihre Flügel zusammen.
"Halt!" Ich packte ihre Schulter. "So geht das nicht."
Ich drückte sie sanft zurück auf den Stuhl.
"Du kannst jetzt nicht gehen. Was du brauchst ist Ruhe, Abstand. Im Fernsehen habe ich letztens eine Sendung gesehen, da ging es um Arbeitsüberlastung. Was du hast ist ein klassischer Burn-out. Der kann anscheinend jeden treffen."
Die Fee sah mich an und schüttelte den Kopf.
"Nein, nein, mich doch nicht." Pause. "Oder doch?"
Ich zuckte mit den Schultern. Was wusste ich schon über Feen. Konrad war da sicher kompetenter.
"Ich habe einen Freund, der kann dir vielleicht helfen. Wir fragen ihn morgen. Du bleibst am besten hier, kannst im Gästezimmer wohnen."
Sie zögerte, dann gab sie nach.
"Und wenn es mir wieder besser geht, dann hast du auf jeden Fall drei Wünsche frei."


© Uta Lösken, Mai 2011

Letzte Aktualisierung: 08.05.2011 - 19.48 Uhr
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