Sexlibris
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Endlich frei | Juni 2011
Geisterfahrer
von Anne Zeisig

“Ohne Oskar fahr ich nicht in den Urlaub!”
Mein SechsjĂ€hriger stampft mit den FĂŒĂŸen auf. “Du musst mir helfen, ihn zu suchen!”
Wie soll ich das anstellen? Oskar ist ein Geist. Geister sind unsichtbar.
Ich knie mich zu Lukas hinunter. “Ich kann Oskar doch gar nicht sehen.”
Schon kullern TrÀnen an seinen geröteten Wangen hinab.
Ich tupfe seine Augen mit einem Taschentuch trocken.
Lukas schluchzt. “Ich will nicht mit.”
“Wo bleibt ihr denn?”, höre ich meinen Mann von draußen rufen. “Wir wollten um Punkt Sechs auf der Autobahn sein! Immer diese UnpĂŒnktlichkeit!”
“Mama!”, ruft unsere ZweijĂ€hrige, “Brummbrumm!”
Ich stehe auf und nehme Lukas an die Hand. “ Oskar will bestimmt hierbleiben und auf dein Spielzeug aufpassen.”
“Ich fahr nicht ohne Oskar!”
Ich bugsiere den protestierenden Sohnemann in unsere betagte Familienkutsche.

Mein Mann blickt auf die Uhr. “Viertel nach Sechs!”
Ich hasse diesen vorwurfsvollen Unterton in seiner Stimme und lasse mich auf den Beifahrersitz plumpsen.
Rolf lĂ€sst den Motor aufheulen und legt einen Blitzstart hin. “Komm mir nicht mit einer Ausrede.” Er fĂ€hrt viel zu schnell in die Kurve hinein.
Ich zucke mit den Schultern. “Aus einer lĂ€cherlichen Viertelstunde muss man kein Drama machen.”
“Wie sollen die Kinder Disziplin und PĂŒnktlichkeit lernen, wenn du es damit nicht so genau nimmst.”
Ich schweige, weil ich die nicht vorhandene Urlaubslaune auf keinen Fall komplett ruinieren will. Immerhin haben wir noch gut vier Stunden Fahrzeit vor uns. Eingepfercht auf engstem Raum.
Rolf ignoriert das Ampelrot und tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
“Rot”, stoße ich gepresst hervor, “wer es mit der PĂŒnktlichkeit so genau nimmt, sollte sich auch an Verkehrsregeln halten.”
“Andreaa! Ich muss die Zeit rausholen, die du vertrödelt hast.”
Mein Shirt klebt inzwischen an meinem Körper wie eine zweite Haut. Das sieht nicht vorteilhaft aus.






In Gedanken zĂ€hle ich bis zehn, schaue nach hinten, ob die Kinder korrekt angeschnallt sind und ziehe meinen Gurt straff ĂŒber meine weniger straffe Brust.
Noch vor zehn Jahren war ich Rolfs Knackig-Mausi. Eine Frau mit knackigem Busen bin ich lĂ€ngst nicht mehr. Zwei Stillkinder, die Gene meiner Mutter und die natĂŒrliche Erdanziehung haben meine Brust ruiniert.
Ich klappe die Sonnenblende herunter, weil an der Innenseite ein Spiegel angebracht ist. So habe ich meine beiden auf den RĂŒcksitzen besser im Blick.
“Ich will zu Oskar”, jammert Lukas und beschmiert die Seitenscheibe mit seinem Nasenschnodder.
Rolf blickt kurz in den RĂŒckspiegel und trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. “Wenn dir dein Schulfreund so wichtig ist, dann lade ihn doch nĂ€chsten Monat zum Geburtstag ein.”




Lukas heult ebenso sÀgeblattkreischend auf wie der Motor unserer Rostlaube, weil Rolf auf der Autobahnauffahrt spontan beschleunigt.
“Aber Papa! Ich hatte letzte Woche Geburtstag!”
“Und warum war dieser Oskar nicht da?” Rolf trommelt immer noch mit den Fingern auf dem Lenker herum.
Lukas drĂŒckt sich an der Seitenscheibe die Nase platt und nuschelt. “Oskar war da. Aber du hast ihn nicht gesehen, weil er ein Geist ist.”
Rolf zuckt zusammen und hÀtte fast das Gas- mit dem Bremspedal verwechselt.
Mein Mann hat tatsĂ€chlich vergessen, dass wir erst kĂŒrzlich LukasÂŽ Geburtstag gefeiert haben.
Kriege ich etwa wÀssrige Augen?
Rolf fÀhrt sich mit der Rechten durch sein Haar. In der Morgensonne glitzern ein paar silbergraue Haare an seiner SchlÀfe.
Sein Körper zeigt also auch Alterserscheinungen. Trotz seiner Joggerei jeden Morgen.
“Du kriegst graue SchlĂ€fen”, platzt es aus mir heraus.
“Ts! Unser Sohn phantasiert von Geistern und du erzĂ€hlst mir was von grauen SchlĂ€fen! Nach dem Urlaub gehen wir sofort mit Lukas zu einem Psychologen. Irgendwas stimmt da nicht im OberstĂŒbchen.” Er tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Hat er `WIRÂŽ gesagt?
Rolf hat uns noch nie zum Kinderarzt begleitet! Und wer hat sich bei unzĂ€hligen Elternabenden auf viel zu kleinen StĂŒhlen eine krumme WirbelsĂ€ule angezĂŒchtet? Ich! Bestimmt habe ich wegen meines gekrĂŒmmten RĂŒckens eine HĂ€ngebrust.
Ich richte mich auf.
Rolf blickt kurz zu mir hinĂŒber. Hat er diesen verbissenen Gesichtsausdruck mit der Steilfalte ĂŒber der Nasenwurzel immer schon gehabt?
Die Luft ist stickig.
Warum zwÀnge ich mich mit einem fantasielosen Pedanten in diese Blechkiste?

* * *

GefĂŒhlte zwanzig Stunden spĂ€ter.
“Mama! Laura guckt mich blöd an!”
Ich drehe mich herum. Unsere Kleine zeigt auf eine Viehweide. “Muhmuh!”
“Sie guckt die KĂŒhe an und nicht dich.”
“Eben hat sie aber blöd zu mir geguckt.”
Rolf macht eine Vollbremsung, wir fallen ruckartig in die Gurte, und meckert. “Sei endlich ruhig! Deine Schwester kann nicht anders gucken!”
“Wie meinst du das?”
“Sie sollen einfach nur ruhig sein, damit ich mich konzentrieren kann”, antwortet Rolf.
Ich verteile GummibĂ€rchen an die Kinder und will gute Laune verbreiten. “Guckt mal! Die Sonne! Das wird tolles Urlaubswetter zum Sandburgenbauen.”
Mein Mann schĂŒttelt den Kopf. “Burgen bauen? Die Kinder werden mit mir jeden Morgen um Sieben ein paar Kilometer joggen, wĂ€hrend du das FrĂŒhstĂŒck machst.”
Er gibt wieder Vollgas.
“Und ĂŒberhaupt! Warum kriegen die Kids bereits morgens GummibĂ€rchen? Du hast doch Obst eingepackt.”

“Mama ist eben lieb.” Sohnemann lĂ€chelt und kaut zufrieden.
“Ma! Ma! Lieb!”

“Ja klar!” Rolf schaut in den Außenspiegel und setzt zum Überholen an. “Wenn ich euch alles erlauben wĂŒrde, wĂ€re ich auch lieb. Aber wehe, der Zahnarzt kommt mit dem großen Bohrer!”
Laura weint. “Papa böse.”
“Ich will nur euer Bestes. Und dazu gehören PĂŒnktlichkeit und Gesundheitsbewusstsein!”
Ich hole tief Luft. Aber es scheint, als sei keine zum Atmen vorhanden.
Rolf zieht scharfwinkelig auf die linke Spur hinĂŒber.
Es beginnt zu regnen. Ach was. Es schĂŒttet aus KĂŒbeln.
Ich nestele ein Bilderbuch aus dem Handschuhfach und reiche es nach hinten.
“Hol auch die Karte raus. Gleich kommt dieses verflixte Kreuz vor Antwerpen. Nur einmal falsch eingeordnet und schon landest du im Nirwana.”
Rolf wollte unbedingt das Navi Zuhause lassen.
‘Hoho! Wir brauchen doch kein Navi. Ich kenne die Strecke im Schlaf. Schließlich fahren wir jeden Sommer an die belgische KĂŒste.’
Lukas zeichnet mit dem Zeigefinger den Weg der Regentropfen an der Seitenscheibe nach. “Wenn man im Nirha-Wana nicht joggen muss, will ich lieber da hin.”
Rolf fÀhrt einen Schlenker, weil er auf der Ablage nach GummibÀrchen hangelt.
Hinter uns ertönt ein Hupkonzert.
Laura ruft. “TĂŒĂŒĂŒt! Papa! Zahnaastbohrer!”
“Oskar sagt, dass wir eine Pause machen mĂŒssen”, mault Lukas.
Unsere Kleine haut mir das Pappbilderbuch auf den Kopf. “Peng!”
Ich lege es ins Handschuhfach.
“In Extremsituationen zeigt sich, ob Kinder erzogen sind oder nicht.” Rolf verschluckt sich, kriegt einen Hustenanfall und lĂ€uft rot an wie ein frisch gekochter Hummer.
“Und? Wie sind unsere Kinder erzogen?”
Keine Antwort.
“TĂŒĂŒĂŒt! TĂŒĂŒĂŒt!”
Mein Mann wechselt auf die Mittelspur. Rechts und links ziehen dröhnend Lastwagen vorbei.
Ich nehme die TĂŒte GummibĂ€rchen von der Ablage und lege sie ins Handschuhfach.
“Du bist also der Meinung, unser Sohn sei ein Psychopath, unsere Tochter könne nur blöd gucken und ich bin unfĂ€hig, die Kinder zu erziehen!”
Rolf schweigt und kneift die Augen zusammen.
Typisch Rolf! VorwĂŒrfe in den Raum schmeißen und sie anschließend nicht ausdiskutieren.
Der Lastwagen vor uns kommt bedrohlich nÀher.
Will mein Gatte nicht abbremsen?
Ich fasse beherzt das Steuer und reiße unsere Blechkutsche auf die rechte Spur.
Puh! GlĂŒck gehabt. Ich hechele nach Sauerstoff.
“Wage es nicht noch einmal, mir in den Lenker zu greifen!”
Rolf ist blass geworden.
“Soll ich zugucken, wie du einen Auffahrunfall verursachst?” Ich drehe mit zitternden Fingern die LĂŒftung an.


“Andreaa! Hör auf zu diskutieren! Ich muss mich konzentrieren!”
Ich schaue mich suchend um. “Mit wem soll ich Diskussionen fĂŒhren? Mit dir kann man doch schon lange kein vernĂŒnftiges Wort mehr reden.”
“Papa bö-böse!”, stammelt Laura.
“Ich will zu Oskar”, flĂŒstert Sohnemann und wischt nun seinen Nasenschnodder am Sitzpolster ab.

Endlich hat Rolf sich entschlossen, einen Rastplatz anzufahren.
“Ich hole mir Zigaretten.” Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und tippt auf seine Armbanduhr. “Zwanzig Minuten Pause und keine Sekunde lĂ€nger.”
“Mama? Sind Zigaretten gesund?” Ich streichele meinem Großen ĂŒber seinen Blondschopf, schĂŒttele meinen Kopf und gehe mit den Kindern zur Toilette.

* * *

Ich lasse den Sekundenzeiger meiner Uhr nicht aus den Augen. Rolf hat sich bereits fĂŒnf Minuten verspĂ€tet.
Plötzlich zeigt Lukas auf einen Reisebus. “Da drĂŒben! Oskar! Er winkt uns zu sich!” Schon rennt er los.
Ich nehme Laura auf den Arm und laufe hinter ihm her.
Außer Atem bleibe ich vor dem Busfahrer stehen. “Sie sind Oskar?”
Er schĂŒttelt den Kopf. “Ike bin der Kalli.” Der HĂŒhne von einem Mann hievt meine Kinder sofort auf die vorderen Sitze.
“Aber wir wollten doch mit meinem Mann, Ă€h.”
”Nu mach dir ma keene Sorjen, schöne Frau.” Er zieht auch mich in den Bus hinein und drĂŒckt mich sanft auf das weiche Polster. “Allet is ordentlich jebucht und bezahlt.”
“Wo fahren wirwir denn hihin?”, stottere ich.
“Oskar sagt, wir fahren nach Nirha-Wana”, antwortet mein Sohn und seine Augen strahlen. “Dort gibt es keine Uhren, aber zum FrĂŒhstĂŒck SĂŒĂŸes!”
Laura juchzt.
“War schon oft da.” Der Fahrer zwinkert mir zu. “Freiheit pur!”
Mit einem Ruck werden die RĂ€der eingefahren und der Bus hebt ab.
Ich schaue hinunter und sehe Rolf, wie er wĂŒtend seine Zigarettenpackung auf den Boden wirft und darauf herumtrampelt.

“FĂŒr UnpĂŒnktlichkeit gibt es keine Entschuldigung”, flĂŒstere ich, schließe die Augen und atme tief frische kĂŒhle Luft ein.

Endversion © anne zeisig

Letzte Aktualisierung: 26.06.2011 - 21.40 Uhr
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