Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Endlich frei | Juni 2011
Gefangen im Martyrium
von Ingeborg Restat

Als Marion bei ihrer Nachbarin Emma an der Wohnungstür klingelt, will sie ihr nur einen Teller mit den Resten eines Brathühnchens für deren Hund Beppo geben. Doch als sich die Tür öffnet, der kleine Hund freudig an ihr hochspringt, blickt sie in ein entstelltes Gesicht. Entsetzt fragt sie: „War es wieder so weit?“
Emma nickt. „Aber das ist nur ein Kratzer“, schwächt sie ab. Doch ihr Blick ist flackernd und weicht Marion aus.
„Ein Kratzer? Das ist eine tiefe Wunde über deinem blauen Auge. Du solltest zum Arzt gehen.“
„Niemals! Du weißt doch.“
„Dann komm zu mir, damit ich die Wunde versorgen und ein Pflaster draufmachen kann.“
„Aber Karl …“
„Es ist noch Zeit, bis er zurückkehrt. Nun komm schon!“
Beppo läuft mit Marion bereits in ihre Wohnung. Emma aber tritt ans Treppengeländer und schaut ängstlich lauschend aus dem dritten Stock die Treppe hinunter, so weit sie sehen kann. Erst als sie nichts von ihrem Mann hört und sieht, zieht sie ihre Wohnungstür zu und folgt der Nachbarin.
Beppo leckt genüsslich den Teller leer, während sich Marion vorsichtig um Emmas Wunde kümmert. „War nicht zu überhören, dass gestern bei euch wieder was los war“, sagt sie.
„Du kennst ja Karl“, antwortet Emma.
„Eben. Was war es denn diesmal?“
„Das Essen hat ihm nicht geschmeckt.“
„Und wie kam es zu dieser Wunde?“
„Er hat mir die Pfanne an den Kopf geworfen.“
„Die heiße …?“
„Ja.“
„Hat er dir wieder etwas gebrochen?“
„Nein!“
„Und blaue Flecken?“
„Nur ein paar.“
„Emma, wie lange willst du das noch ertragen? Wann haust du endlich ab von diesem Kerl und lässt ihn sitzen?“
„Wo soll ich denn hin? Er wird mich finden, dann wird alles nur noch schlimmer.“
„Schlimmer als jetzt?“
„Er wird mich umbringen, bestimmt! Er hat das nicht nur so gesagt. Ich kann nicht weg.“
„Aber du gehst kaputt daran. Zehn Jahre erträgst du das bereits. Was hält dich nur bei diesem Mann?“
„Er war nicht immer so. Damals, weißt du … er ist so lieb gewesen.“
„Träum weiter! Jetzt vergewaltigt er dich nur noch.“
„Nur wenn er diese Anfälle hat.“
„Und wann hat er die nicht?“
„Er hat mir Beppo geschenkt.“
„Weiß der Teufel, wie er darauf gekommen ist!“
„Er wollte mir damit eine Freude machen. Es tut ihm jedes Mal leid, wenn der Anfall vorüber ist.“
„Wie lange? Jetzt ist der Hund für ihn nur noch eine Töle, die ihm im Weg ist.“
„Aber er tut ihm nichts.“
„Weil Beppo sich stets rechtzeitig unter dem Schrank in Sicherheit bringt. Aber wenn er das mal nicht schafft …? Hoffentlich behältst du recht.“
„Wenn er je … du, ich weiß nicht, was ich dann …“
„Lass es nicht erst so weit kommen, Emma! Nimm deinen Hund und geh in ein Frauenhaus! Wenn ich dir doch nur helfen könnte!“
„Still!“ Emma lauscht zur Treppe, springt auf. „Die schweren Schritte, das ist Karl. Er kommt früher zurück. Er darf mich hier nicht sehen.“
„Schnell, nimm Beppo auf den Arm und lauf rüber.“
Voller Panik verlässt Emma Marion und schleicht hinüber zu ihrer Wohnungstür.
Zu spät! Karl hat sie bereits gehört. Wütend springt der kräftige, muskulöse Mann die letzten Stufen hoch und stößt die kleine, schmächtige Frau in die Wohnung. „Was hast du mit der Alten wieder zu tratschen?“, zischt er. Zornesadern schwellen auf seiner Stirn.
Emma stolpert, fällt fast hin im Flur. Sie drückt den zappelnden Beppo fester an sich. „Marion hat mir nur etwas für Beppo gegeben.“
„Für Beppo, natürlich für Beppo!“, äfft er. „Weiberpack! Habt ihr nichts Besseres zu tun, als diese Töle zu verwöhnen? Dieses Vieh kommt mir bald wieder aus dem Haus!“
„Nein!“ Emma presst Beppo an sich.
Ein Schlag auf ihre Arme und sie lässt ihn zu Boden fallen. Ein Fußtritt von Karl befördert den kleinen Hund in die Küche. So schnell er kann, kriecht er zitternd in die äußerste Ecke.
„Tu ihm nichts, bitte, tu ihm nichts!“, fleht Emma. Sie hebt sofort schützend ihre Arme vors Gesicht.
Schon trifft sie der erste Schlag. „Du hast mir gar nichts zu sagen?“
Sie kann den Schmerz ihres verwundeten Gesichts kaum aushalten.
Ein weiterer Schlag folgt. Er stößt sie in die Küche. Sie fällt gegen den Küchentisch.
Gleich ist er hinter ihr und drückt sie mit ihrem Gesicht auf die leere Tischplatte.
Sie wird fast wahnsinnig vor Schmerzen.
„Wo ist mein Essen?“, brüllt er. „Du Miststück! Vertrödelst die Zeit mit dem Vieh und der Tratsche nebenan. Euch werde ich es zeigen! Wo ist mein Messer?“
„Was für ein Messer?“
„Das Fleischermesser mit dem Horngriff!“
„Wozu? Du willst doch nicht …
„Halt den Mund und gib mir mein Messer. Wo ist das verdammte Ding?“
Angst schnürt Emma die Kehle zu. Jeder Schmerz wird unwichtig. „Ich weiß es nicht“, stammelt sie.
„Dann such es, blöde Schlampe!“
Ein Schlag und ein Stoß werfen sie gegen den Küchenschrank. Sie sackt davor zusammen. Er reißt sie hoch. „Wird’s bald?“
Beppo versucht aus der Küche zu flüchten. Der Schrank, unter dem er sich verstecken kann, ist im Zimmer nebenan. Möglichst flach mit eingezogenem Schwanz kriecht er über den Boden – genau vor die Füße des tobenden Mannes.
Emma zieht den Besteckkasten auf, sieht das Messer darin, nimmt es heraus, will es Karl geben.
Der bückt sich gerade, packt den vor Angst zitternden Hund und flucht: „Verdammtes Mistvieh! Ständig ist es im Weg!“ Mit zwei zornigen Schritten ist er am offenen Fenster.
Emma schreit.
Beppo heult angstvoll auf.
Nichts hilft. In sinnloser Wut wirft er den kleinen Hund aus dem Fenster.

Emma erstarrt.
Ein letzter klagender Laut Beppos von der Straße her – dann ist es still.
Es zieht ihr die Brust zusammen, nimmt ihr den Atem. Vor ihren Augen flackert es rot, nur rot. Der Rücken von Karl, sie sieht ihn vor sich. Ein Schrei der Verzweiflung bricht tief aus ihrer Kehle. Sie hebt das Messer und stürzt sich auf ihn. Er hat nicht die Zeit, sich umzudrehen. Ihrer Sinne nicht mehr mächtig, mit der Kraft tiefsten Hasses rammt sie ihm sein Messer in den Rücken. Und sie sticht zu, wieder und wieder. Er wankt, fällt, liegt röchelnd am Boden. Erst da, als er sie aus gläsern werdenden Augen ungläubig anblickt, lässt sie das Messer fallen.
Sie jagt aus der Wohnung, die Treppe hinunter und aus dem Haus. Sie sieht ihn hilflos liegen, ihren Beppo. Ratlos umstehen Menschen den kleinen sterbenden Hund. Sie lassen Emma zu ihm.
„Die Hände … seht nur, das ist Blut …“, sagt jemand leise. Betroffen weichen die Menschen zurück. Einer ruft die Polizei.
Beppo ist tot. Emma sinkt neben ihm zusammen. Sie nimmt ihn in ihre Arme. „Jetzt sind wir frei. Mein kleiner Beppo, wir sind frei!“, flüstert sie ein Mal über das andere. Sie streichelt ihn; sie drückt seinen leblosen Körper an sich. Für sie lebt er, darf nicht tot sein. Das lässt sie nicht zu. Ihr Bewusstsein weigert sich, es aufzunehmen.
Marion kommt zu ihr. Sie wagt nicht, Emma zu berühren. Nur einmal sieht Emma zu ihr auf. „Es ist vorbei! Ich habe es geschafft!“, sagt sie. Dann wendet sie sich wieder Beppo zu und murmelt: „Alles wird gut.“
Als die Polizei kommt, den Toten in der Wohnung findet und Emma abführt, legt sie Marion den kleinen Hund in die Arme und bittet sie: „Pass gut auf ihn auf.“ Noch einmal streicht sie ihm über sein seidiges Fell und flüstert: „Wir sind frei, mein Kleiner.“
Selbst als sich das Tor des Gefängnisses hinter ihr schließt, sieht sie zu dem Stück Himmel hoch, das sie von hier aus sehen kann, und murmelt: „Ich bin frei! Endlich frei.“

Letzte Aktualisierung: 24.06.2011 - 19.42 Uhr
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