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Endlich frei | Juni 2011
Haus 15G
von Susanne Ruitenberg


Der Krieg war noch nicht lange vorbei, da erblickten sie das Licht der Welt: Haus 15G und seine sechs Geschwister. Eine schmucke Zeile waren sie, ein jedes mit VorgĂ€rtchen, Garten, Schornstein, spitzen GiebeldĂ€chern, Fenstern und TĂŒren und allem, was kleine ReihenhĂ€uschen benötigen.
„Wer wird uns wohl bewohnen?“, fragte 15C erwartungsvoll in die Reihe.
„Ich hoffe auf eine Familie mit netten Kindern, die ĂŒber den Rasen toben“, antwortete 15A.
„Aber nicht zu laut“, wandte 15D ein, „es ist so schön friedlich hier.“
„Ich möchte jemanden, der mich schmĂŒckt und putzt“, sagte 15B, denn es war ein wenig eitel.
Bald kamen Menschen auf der Suche nach dem richtigen Heim und besichtigten die strahlend weißen HĂ€uschen. Zwei junge Paare, die einander eng verbunden waren - bei einer Hochzeit hatte die Schwester der Braut sich in den Bruder des BrĂ€utigams verliebt und ihn bald darauf ebenfalls geehelicht - freuten sich, nebeneinanderliegende HeimstĂ€tten zu finden. Bald schon herrschte ein buntes Treiben; die MĂ€nner bauten einen RĂ€ucherofen, die Frauen zogen GemĂŒse, Kinderlachen hallte durch die GĂ€rten; man saß beisammen, besuchte und bekochte sich, pflegte die HĂ€uschen und die Beete, pflanzte einen Kirschbaum. Ähnlich erging es 15A, B, C und F.
Nur eines stand noch leer, das Letzte in der Reihe, 15G.
Eines Tages kam ein Paar in Begleitung einer Àlteren Frau, sie besichtigten das Haus und zogen ein.
ZunĂ€chst freute sich 15G, dass nun auch bald in seinem Garten Kinderlachen erklingen, tapsende KinderfĂŒĂŸchen ĂŒber seine Treppen rennen wĂŒrden.
Doch weh und ach!
Das Paar war ganz anders als die Bewohner der ĂŒbrigen HĂ€user. Die Frau tat kaum den Mund auf; der Mann lief stets mit mĂŒrrischer Miene umher, seine Mutter keifte den ganzen Tag. Nicht lange nach ihrem Einzug beschimpften der Mann und die Alte die Nachbarn, sie seien Zigeunerpack und sollten sich dorthin zurĂŒckscheren, woher sie gekommen - bloß weil sie vor den Schrecken des Krieges geflohen waren und das „R“ etwas kreĂ€ftiger rollten als der Mann.
Als die Kinder aus den anderen HĂ€usern grĂ¶ĂŸer wurden und auf der Straße spielten, beschimpfte sie der Mann, und wenn er einen ihrer BĂ€lle erwischen konnte, so schnitt er ihn entzwei. Alle hatten Angst vor ihm und nannten ihn nur noch „Der böse Mann.“
Die Jahre gingen ins Land; die Mutter des Mannes verstarb, die Frau blieb still und unscheinbar, ein Kind bekam sie nie. Die Nachbarskinder wurden groß und verließen nacheinander die ElternhĂ€user, um ihre eigenen Familien zu grĂŒnden.
Auch die HĂ€user kamen in die Jahre, sie erfreuten sich an Renovierungen, ließen es sich gut gehen mit neuen DĂ€chern und frischen Anstrichen, bestaunten, was ihre Menschen in den GĂ€rten anpflanzten, genossen die Sonne und den Regen und den Wechsel der Jahreszeiten.
Die stille Frau aus 15G sah man nicht mehr, sie lag krank darnieder, nur der alte Mann kĂŒmmerte sich um sie und wurde immer wunderlicher. Noch stets beschimpfte er alle Nachbarn, wenn er sie nur sah, zu niemandem fand er ein freundliches Wort.
15G sah traurig auf seinen Garten hinab. Seit fĂŒnfundvierzig Jahren hatte keiner einen Busch oder Baum gestutzt, es fĂŒhlte nicht mehr die Sonne auf seinen Mauern, Moos und Schimmel wuchsen und gediehen. Fenster starrten blicklos vor Dreck und in seinen RĂ€umen sammelte sich Unrat. Still weinte es vor sich hin und auch die liebevollen Worte, die 15F ihm nachts zuflĂŒsterte, konnten es nicht trösten.
„Ach“, klagte es. „Ihr habt es so gut, ihr werdet gehegt und gepflegt, eure Menschen lieben euch, bauen WintergĂ€rten und kaufen neue Möbel, sie reparieren und erneuern, putzen und stutzen, ihr bekommt frische Tapeten und Farbe, neue Böden und Fenster. Ich verdrecke und vermodere, bin voll von MĂŒll; der Alte fĂŒttert sĂ€ckeweise Körner an die Vögel, auf meinem Balkon steht der Vogelkot zehn Zentimeter hoch und es stinkt; er streut WalnĂŒsse fĂŒr die Eichhörnchen und in meinem verwucherten Garten tanzen nachts die Ratten. Am liebsten wĂŒrde ich zusammenfallen und sterben.“
Entsetzt berieten die anderen HĂ€user, wie sie ihrem Bruder helfen mochten, doch es fiel ihnen nichts ein, sie konnten sich ja auch nicht vom Platz bewegen.
Eines Tages starb die alte Frau und das Haus 15G schöpfte schon die Hoffnung, dass jetzt der alte Mann wegziehen wĂŒrde. Doch nichts dergleichen geschah.
Neue Menschen zogen in die 15C, Kinder blieben aus, aber zwei Katzen erfreuten sich bald am Garten und schlichen auf Samtpfötchen durch die RĂ€ume. In 15B und 15D erklang neues Kinderlachen und kleine FĂŒĂŸchen tappten, wie frĂŒher, ĂŒber die Treppen. Und die HĂ€user lachten mit ihnen und freuten sich.
Besonders zufrieden war 15A, denn seit einigen Jahren beherbergte es eine GĂ€rtnerfamilie. „Schaut nur“, sagte es stolz und sah auf sein schönes EckgrundstĂŒck herab, „die ordentlichen Beete, die nach Farben sortierten Blumen, der englische Rasen, hach, ich bin so froh!“
Alle HĂ€user beglĂŒckwĂŒnschten 15A. Außer 15G. Seit Jahren sagte es kein Wort mehr, trauerte still vor sich hin.
Es hatte sich völlig aufgegeben.
Dann geschah eines Tages das, auf das kein Haus mehr zu hoffen gewagt hatte: Der alte Mann schloss fĂŒr immer die Augen. Das Haus fiel einem entfernten Neffen zu. Er betrat es und schlug entsetzt die HĂ€nde ĂŒber dem Kopf zusammen. Das Haus schĂ€mte sich gar sehr fĂŒr sein Aussehen, und als der Neffe laut ausrief: „Man mĂŒsste dich abreißen und komplett neu aufbauen!“, da hĂ€tte es gerne genickt, doch mit festen Mauern nickt es sich nicht gut.
Am nĂ€chsten Tag kam er mit anderen MĂ€nnern wieder, sie stellten einen orangefarbenen KĂŒbel vor das Haus und begannen, die alten verdreckten Möbel, die Kisten mit den feuchten Zeitungen, den Unrat, die kaputten Werkzeuge, die schon lange nicht mehr funktionierenden GerĂ€te hinauszutragen. GĂ€rtner huben an, den Garten zu sĂ€ubern, die BĂ€ume zu stutzen, das GestrĂŒpp zu lichten. Entsetzt flohen die Ratten und suchten sich ruhigere Gefilde.
Woche um Woche verging und 15G besah mit Staunen, wie es sich verwandelte. Es hörte den Handwerkern zu, wenn sie ihre PlĂ€ne fĂŒr Umbau und Renovierung diskutierten, und konnte kaum glauben, dass sein langes Martyrium vorbei sein sollte.
Als der letzte KĂŒbel mit Unrat auf den Lastwagen gehoben und abtransportiert wurde, hĂ€tte es am liebsten einen Luftsprung gemacht, doch das ging leider nicht, sein Keller saß fest in der Erde.
Stattdessen jubelte es still, wie HÀuser jubeln, aber seine Geschwister hörten es dennoch.
„Frei, endlich frei!“


©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 19.06.2011 - 23.24 Uhr
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