Der Tod aus der Teekiste
Der Tod aus der Teekiste
"Viele Autoren können schreiben, aber nur wenige können originell schreiben. Wir präsentieren Ihnen die Stecknadeln aus dem Heuhaufen."
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Endlich frei | Juni 2011
Du stellst meine Füße auf weiten Raum
von Glädja Skriva

Wer stirbt, bevor er stirbt ...
(aus einem Dokumentarfilm von Bernd Umbreit)

Der langgestreckte Park ist zu riechen, lange bevor er zu sehen ist. Nur ein kleiner Schritt um die Ecke und es offenbart sich ein Dornröschenschloss, das darin Verstecken spielt. Mitten in der Altstadt. Verwunschen. Abgeblättert. Geschichten erzählend. Mit einer dichten Hecke aus Duftrosen. Rosarot. Zartes Rosarot mit brummenden Bienen, besoffen vom Duft.

Doch Cliff ist glasklar. Das erste Mal, seit er dort ist. An diesem Sonntagmorgen vergräbt er sich nicht in sein Bett, sondern steht auf. Er schiebt seine Hände in die Taschen, um seine Hose zu halten, deren Gürtel er abgeben musste. Hinter dem verriegelten Fenster wandert sein Blick über den Park, hin zu den Porzellanröschen. Das erste Mal will er sie sehen, diese rosa überzuckerten Marzipanteile, die sich vor seinem Fenster wiegen. Er schnuppert und zuckt dann ein wenig mit den Schultern. Nichts zu riechen. Gar nichts. Abgeriegelt, weggepackt, wie in einer Plastiktüte.

Es klopft.

„Ja?“

Shirley kommt hereingehuscht. Barfuß. Auf Samtpfoten. Nur ihr buntes Fußkettchen unter dem Hippierock klingelt zart wie ein tibetisches Glöckchen. Er muss sich nicht zu ihr umdrehen, denn es ist jeden Morgen so. Jeden Morgen seit einer Woche.

Wie immer bleibt sie stehen. Ganz nahe an der Tür und noch weit genug davon entfernt, dass er sich dicht hinter sie stellen kann.

„Heute nicht, Shirley. Nicht so, wie sonst.“

Ihre Füße beginnen auf dem klinisch weiß-grauen Linoleumboden unruhig hin und her zu trippeln, während das Glöckchen hektisch anschlägt.

„Wie, heute nicht?“

Ihre Augen wandern zum Nachttisch und suchen ... die kleinen, blassblauen Pillen.

„Aber in einer Stunde? Du weißt doch, ich …“

Ihre Augen sind starr, ihre Arme. Nur die Füße scharren. Immer noch.

Cliff geht auf sie zu. Er drängt sie nicht wie sonst von hinten. Er nimmt ihre Hand, öffnet sie und legt sie hinein: diese blassblauen Pillen, die so gut zu den zuckersüß rosa Duftrosen passen.

„Nimm einfach und dann hau ab, bevor ich es mir anders überlege. Nimm das beschissene Zeug und dröhn dir die Birne damit weg. Du musst mir noch nicht einmal einen dafür …“

Es wird still. Alles ist erstarrt.

Bis es sich auflöst in ihrem lauten Lachen: „Jetzt haste wirklich einen an der Klapse, Cliff.“

Sie setzt sich auf sein Bett. Das erste Mal, denkt er. Sonst steht sie immer. Immer in der Nähe der Tür.

Sie lacht weiter: „Dir haben se wohl `ne Weichspülerpille reingedrückt. Der coole Typ mit seinen coolen Baggy-Jeans wird zur Mutter Theresa. Brauchste noch `n Taschentuch zum Schneuzen, oder was?“

Ihr orangeroter Haarfeuerball, direkt vor dem Fenster, beißt sich mit den plüschigen Rosen.

Ein Grinsen kriecht in ihm hoch: „Wenn du mir das Taschentuch in die Hosentasche steckst.“

Er spürt ihre kleine, zarte Hand, warm und weit über die Hosentasche hinaus. Sie kichert: „Hat wohl Muttern zu heiß gekocht?“

Er schaut an sich hinunter. Sieht sich, einen Freaky, der Pillen in der Klapse vertickt und … Hochwasser schiebt, sodass sich die Wolle seiner Beine darunter hervorschält.

„Trägst wohl den Knickerbocker-Baggy-Style für pubertätspickelige Jungs“, stichelt sie weiter.

Er zieht die Hosen bis unter die Achselhöhlen, schiebt seine Zähne vor, verdreht schielend die Augen und hoppelt pfeifend durch das Zimmer. „Der Knickerbocker-Baggy-Style für Hasenschuljungs … mit Hasenzähnen, die … auf ihren ersten Häsinnenkuss warten.“

Dabei schiebt er mit geschlossenen Augen seine Lippen nach vorne. Sie lacht. Als er die Augen öffnet, sieht er, wie ihr Gesicht mitlacht, ihr Oberkörper, ihre Arme und dieses verdammte Glöckchen seine Melodie dazu bimmelt. „Das erste Mal lebendig“, denkt er. Bis die Stimmung plötzlich wieder umschlägt ...

* * *


Nur wenige Wochen später bittet Shirley die Nachtschwester kurz, auf eine Zigarette in den Raucherpavillon vor Station 5 gehen zu dürfen. Sie könne nicht schlafen, die Gedanken würden wieder einmal kreisen. Schwester Monika hat 27 Berufsjahre auf dem Buckel und macht mit bevorstehender Berentung längst keinen Dienst mehr nach Plan. Sie kennt die Gespenster, die mit ihren Fratzen immer nachts auftauchen und die Mädels nicht zur Ruhe kommen lassen. Mütterlich verständnisvoll nickt sie Shirley zu: „Geh nur, aber in einer halben Stunde sehe ich dich wieder. Dann ist der Kaffee durchgelaufen. Du verträgst doch auch einen?“ Und so huscht Shirley beim ersten Morgengrauen aus dem Gebäude. Sie hält dabei die Zigarettenschachtel in der Hand, lässt jedoch den Raucherpavillon links von sich liegen und eilt zum Westende des Parks, hinten zur Gärtnerei, zu einer versteckt gelegenen, bruchreifen Bank, die sie einmal zufällig entdeckte, als sie den Zaun nach einem Loch nach draußen absuchte. Sie ist schon oft hier gewesen, immer, wenn sie für sich alleine sein wollte. Auch heute ist es dort ganz still. Nur hin und wieder hört man das Krächzen eines Uhus, aber noch ist nichts von all den Geräuschen zu hören, die man vernimmt, wenn der Morgen erwacht: Das Klappern der Teller aus der Großküche, das Knattern der Rasenmäher und Geschrei der Patienten. Noch nicht einmal von dem nahegelegenen therapeutischen Fußballfeld werden Rufe herübergetragen „Mach ihn fertig, den Arsch!“

Niemand wird sie entdecken. Jetzt nicht, sondern erst viel später. Die kleinen, blassblauen Pillen ruhen unaufgeregt in ihrer Zigarettenschachtel. Sie hat Zeit. Das Feuerzeug flammt auf, sie zündet sich noch einmal eine Zigarette an, inhaliert tief und bläst den Rauch durch die Nasenlöcher in den dunklen Himmel. Noch einmal genießen, jetzt und hier, in diesem einen Moment. Genießen, wie sich der bittere Rauch auf ihre Lungen legt. Kleine Kringel steigen auf und wandern zu den Sternenpunkten, die vereinzelt am Himmel aufblinken. Dort oben, über den Wolken: Ob das stimmt, was man sagt, und sie dann endlich frei sein wird? Von der Erinnerung an damals, die wie ungelebtes Leben in ihr festgefroren ist. Die sie hier auftauen mit Matschtherapien und rollenden Augäpfeln oder aufschlagen mit dem Eispickel, Schicht um Schicht, bis sie endlich schreit - um sie dann sanft mit ihren Spritzen wegzubetten, weil sie selbst ihre Erinnerungen fürchten. Allem wird sie davonfliegen.

Sie hört wieder das Klavierspiel, Schubert, so leise und leicht und lockend und summt: „Sollst sanft in meinen Armen schlafen“. Ihre nackten Füße beginnen zu tanzen. Immer im Kreis. Den Kopf zurückgeworfen, bis sich alles in ihr dreht. Wenn nur diese Stimme nicht in ihr wäre, die, wie durch ein Megaphon gesprochen, in ihren Kopf hineinhallt: „Alles wird wieder gut, gut, gut ...“ Sie verschränkt ihre Arme über dem Kopf und hält dabei die Ohren zu mit den Händen, die sie fest dagegen presst. Sie will sie nicht hören, die Stimme, die lügt; die lügt, wie alle Stimmen, die erst so zart mit ihr sprechen und sie dann benutzen. Wieder und wieder.

Ihre Zigarette ist längst aus dem geöffneten Mund zu Boden gefallen. Sie glüht mit einem letzten Züngeln nach und Shirley spürt nicht, wie sie darüber tanzt. Sie spürt es schon lange nicht mehr, wie es brennt und schmerzt. Es ist, als sei Hornhaut über ihre Seele gewachsen, wenn sie an Cliff denkt, der benutzte und benutzt wurde und letztlich die einzige Konsequenz zog, die einzige ehrliche Konsequenz, indem er auf die Gleise sprang, auf die ihn das Leben gesetzt hatte. Sollte er doch wer weiß wohin fahren. Shirley kichert und schmiert sich dabei den Nasenschnodder mit dem Ärmel ab. Es könnte schon einer Höllenfahrt gleichkommen, mit den Jungs, von denen er immer erzählt hat, nun in irgend so einem abgefuckten Himmel-Kurörtchen vor senilem Publikum auf Tour zu kommen.

Sie hört die Musik und wieder das Klavierspiel, die Stimme und wie Cliff sagt: „Nicht so wie sonst. Heute nicht. Du musst nicht ...“ Tausend Gedanken stolpern durch ihren Kopf. Geht einer, kommen mindestens drei neue nach, die sich wie ein Spinnennetz über ihren Kopf legen. Sie könnte abhauen. Jetzt. Sich draußen einen Fetten machen, die Füße auf den Tisch legen, eine Flasche Jim Beam köpfen, rülpsen und den Herrgott einen guten Tag sein lassen oder - zu irgendeiner inneren Mitte reisen. Die Mitte, die sie als Kind immer auf der Schaukel gesucht hat, mal links, mal rechts, indem sie auf ihr herumhampelte, aber nie zur Ruhe kam. Sie sollte Ballast abwerfen, austarieren. Welchen Ballast? Was hat sie überhaupt?

Und doch: Der Käfig da draußen war vielleicht nicht golden, aber selbst wenn die Katze mit sabberndem Maul auf das flügellahme Vögelchen wartete, hatte sie es doch gelernt, sich mit dem Käfig, auch wenn er nicht golden war, zu begnügen; irgendeine väterliche Hand würde schon wieder über ihr Köpfchen streicheln und ihr Näpfchen füllen wollen mit einem Penis, der von Hornhaut überzogen war.

Und so steckt Shirley in dieser Nacht die Zigarettenschachtel wieder in ihre Jackentasche, schließt die Weste warm um sich und stakst hölzern zu Schwester Monika und ihrem starken Kaffee zurück. Drei Tage später wird ihr Zimmer 302 für das kommende Jahr wie jedes Jahr reserviert; natürlich inklusive Schrei- und Matschtherapie; ihr Taschengeld in Höhe von 25 Euro pünktlich ausbezahlt und sogar bei Cliffs Beerdigung darf Shirley anwesend sein. Drei Wochen später ist sie wieder in „Freiheit“.

Ob sie heute noch lebt? Ich meine, richtig lebt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie mir das alles erzählt hat, die Zigarettenschachtel in der Jackentasche und der ungebrochenen Hoffnung, dass sie immer noch auf den finalen Moment wartet, in dem sie sich ertragen kann.

Doch ja, sie lebt.

© P.S./Glädja Skriva/ Juni 2011/3. Version

Letzte Aktualisierung: 25.06.2011 - 19.14 Uhr
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