Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Endlich frei | Juni 2011
Wenn nicht einmal Gedanken frei sein dĂŒrfen!
von Thea Derado

‚Warum bilde ich mir bloß immer ein, jeder könne mir an der Nasenspitze ansehen, was ich vorhabe? Das macht mich noch total meschugge! Wenn nur das Herz nicht so verrĂ€terisch bis zum Hals trommeln wĂŒrde!‘ Mit tiefen AtemzĂŒgen versucht Uta sich selbst in den Griff zu bekommen. Nur nicht auffallen!
Ob ihr jemand vom Ostbahnhof her gefolgt ist? Um mögliche SpĂ€her abzuschĂŒtteln, kurvt sie auf ihrem erst kĂŒrzlich in der HO erstandenen Drahtesel betont lĂ€ssig durch Nebenstraßen Richtung Sektorengrenze.
Endlich der Schlagbaum nach Westberlin! Im FrĂŒhjahr 1958 bildet er fĂŒr Berliner kein Problem, aber möglicherweise fĂŒr Sachsen.
Der junge Wachtposten beachtet sie jedoch gar nicht. Uff, Schwein gehabt! Befreit tritt sie in die Pedale. Der Absprung ist geschafft, ein Schritt in ein freieres, aber doch sehr ungewisses Leben. Die Ochsentour durch die FlĂŒchtlingslager steht noch bevor.
Froh fĂŒhlt Uta sich dennoch nicht. Selbst die auf KleiderbĂŒgeln tanzenden bunten Petticoats heitern ihr GemĂŒt nicht auf. BedrĂŒckt denkt sie zurĂŒck. Unvorstellbar, nie wieder nach Hause zu können, Familie und Freunde vermutlich nie wieder zu sehen! Aber was sonst hĂ€tte sie tun können? Zwei Jahre in die Braunkohle mit ungewissem Ausgang? Einem skrupellosen Machtapparat auf Verderb ausgeliefert?
Nein! Ein ZurĂŒck kann es nicht geben!

***
Es war im vergangenen November, da erklomm Studienkollege Ernst, einer der ganz Scharfen, die ZuckerrĂŒbenmiete, schwenkte eine RĂŒbe ĂŒber seiner eigenen und rief pathetisch: „VorwĂ€rts zum Sozialismus!“
Utas Lachen tönte in dem allgemeinen Gekicher am hellsten.
Diesen Blödmann hatte sie schon zuvor gefoppt, als er den ‚freiwilligen‘ Einsatz in der Hackfruchternte als politische Notwendigkeit pries: „Ich habe gehört, es soll Staaten geben, in denen wird die Ernte alljĂ€hrlich ganz ohne Mithilfe der SchĂŒler und Studenten eingebracht. Stell dir vor, die benutzen Maschinen! Ist das nicht eine tolle Idee?“
Daraus drehte er ihr spÀter nen Strick: Sie habe die Landwirtschaftspolitik der Regierung kritisiert!
Ihr Heiterkeitsausbruch auf dem verregneten Acker lieferte ihm erneut eine Steilvorlage. VerĂ€rgert wischte er sich die nassen Schnittlauchlocken aus der Stirn. Sein stechender Blick durch das Drahtgestell verschĂ€rfte die Frage: „Nu sache ma, was hĂ€ltst de denn eechentlich vom Aufbau des Sozschalismus?“
„Viel“, hĂ€tte sie antworten sollen. Aber sie war so verdattert, dass sie nur trĂ€llerte ‚Die Gedanken sind frei‘. Das war ein großer Fehler! Als Missachtung der BeschlĂŒsse des Staatsapparates wurde ihr das spĂ€ter angekreidet.

*

Anfang Januar, gleich nach dem Braunkohleneinsatz in Espenhain, ging das große Sau-Treiben los. Utas Verhalten in den letzten beiden Jahren wurde ihr als staatsfeindlich vorgeworfen, vorgetragen von den Parteimitgliedern ihrer Studiengruppe! Zwei Ă€ltere FunktionĂ€re scheuchten die letzten zaghaften Reste von Kumpelseele aus ihren Köpfen. Stramme Genossenseele war gefordert.

Fluch der guten Tat! Einer musste gar petzen, dass sie ihm zwei KopftĂŒcher aus Westberlin besorgt hat. Das wurde als Devisenschiebung und damit UnterstĂŒtzung der Revanchisten gebrandmarkt.

„Der Ungarn-Aufstand war deiner Meinung nach eine berechtigte WillensĂ€ußerung der WerktĂ€tigen. Es hat den Anschein, dass du der Berichterstattung im Zentralorgan der SED nicht allzu viel Glauben schenkst. Du zweifelst an der Richtigkeit der Worte unserer Regierung.“

„Eine gute Note im Hauptfach war dir wichtiger als eine in Marxismus-Leninismus. Du lehnst somit die ideologische Grundlage der Deutschen Demokratischen Republik ab!“

Schlag auf Schlag! Und immer wieder der Vorwurf, sie wĂŒrde selbstĂ€ndig denken! Wo doch Marx und Lenin bereits fĂŒr alle Probleme eine gĂŒltige Antwort gefunden haben!

Was war nur in die Burschen gefahren? Nach drei gemeinsamen Studienjahren entpuppten sie sich. Jeder entfaltete seine FlĂŒgel und zeigte seine gereifte Natur: wenige als Schmetterlinge, viele als StechmĂŒcken und Schmeißfliegen.
Dann tönte der FDJ-SekretĂ€r: „Ein Studium an unserer UniversitĂ€t ist eine Ehre und Auszeichnung. Unser Arbeiter- und Bauernstaat gewĂ€hrt sie denjenigen, die sich mit ganzer Kraft fĂŒr die Entwicklung des Sozialismus einsetzen. Wir sind nicht der Meinung, dass du weiterhin diese Auszeichnung verdienst. Ein Student, der sich solche Verfehlungen hat zuschulden kommen lassen, hat an unseren UniversitĂ€ten nichts zu suchen!“
Einer der FunktionĂ€re betonte die historische Notwendigkeit, reaktionĂ€ren Auffassungen energisch entgegenzutreten. „Ohne Bardongg! Na, und die revisjonistischen Dendenzen scheinen mir doch bei dieser Juchendfreindin sehr ausgebrĂ€scht zu sin, wenn se meent, dass se unsrer Regierung örchendwelche VerbesserungsvorschlĂ€ge machen muss, zum Beispiel in dor Landwirtschafts-Bolitik. Ganz klar, ihr fehlt‘s am sozschalistischen Bewusstsein! – Und da nach Marx das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, stellen wir den Antrag, dass die Juchendfreindin exmatrikuliert wird, um sich durch dn Umgang mit den sozschalistischen Broduktionsmitteln zu bewĂ€hren. Sie soll sich zwee Jahre mit den Broblemen unserer Arbeiter auseinandersetzen und sich deren fortschrittliche Anschauungen zu eigen machen. Verleicht verhilft ihr das zur menschlichen und bolitischen Reife.“

Einige versuchten noch das Aussichtslose. „Also, es geht doch in erster Linie darum, Uta zu mehr sozialistischem Bewusstsein zu erziehen. Ich finde, so eine Erziehung kann auch innerhalb unserer Seminargruppe erfolgen. Das könnte sogar erfolgreicher sein als unter fremden Menschen in der Industrie.“
Eine Berlinerin versuchte die KopftĂŒcher als Lappalie hinzustellen.
Sie wurden von einem der Partei-FunktionĂ€re unterbrochen: „Das is völlig falsch verstandene GollegchalitĂ€t, kleinbörgerlich und schĂ€dlich. Mor darf nicht zulassen, dass de Inderessen persönlicher Freindschaft ĂŒber die Interessen der Sache gestellt werden.“ - Es gĂ€be eine höhere Moral, nĂ€mlich die sozialistische Moral.
„Wir wollen ja gar nicht, dass deine dreieinhalb Studienjahre umsonst waren. Wir haben uns gedacht, mit deinem an der Uni erworbenen Wissen in Marxismus-Leninismus kannst du bei den werktĂ€tigen Jugendlichen FDJ-Gruppen aufbauen und ihnen deine Kenntnisse vermitteln.“
Der FunktionĂ€r schloss mit den Worten: „Gut und richtig ist nur, was der Partei und der Arbeiterklasse nĂŒtzt.“

Kurz vor Mitternacht schnappte Uta ihre Klamotten und rauschte endlich ins Freie. WĂŒtend und erschĂŒttert konnte sie die TrĂ€nen nicht lĂ€nger zurĂŒckhalten.
Einige ihrer Studienkollegen holten sie rasch ein.
„Eigentlich sollte man darĂŒber lachen, wenn es nicht so maßlos traurig wĂ€re.“
„Ach, der Ernst, der hat doch den Arsch offen! Dieser Vollidiot!“
„Man kann gar nicht so viel schlucken, wie man kotzen möchte!“, empörte sich ein Anderer.
Da kam, als sie schon ein ganzes StĂŒck vom Institut entfernt waren, einer hinter ihnen her gerannt.
„Pass auf, der P. ist doch in der Partei.“
„Da braucht ihr keine Angst zu haben, der ist in Ordnung“, versicherte sein Arbeitsplatz-Nachbar. Erst jetzt fiel Uta auf, dass sich P. wĂ€hrend der Versammlung nicht an dem Anklagespiel beteiligt hat. Mit seinen langen Beinen war er rasch bei der Gruppe.
„Ich wollte nur was klarstellen. Als das Vorgehen fĂŒr heute Abend in der Parteigruppe beschlossen wurde, habe ich versucht, es abzubiegen. Ich wollte denen klarmachen, dass das großer Blödsinn ist. Aber ich kam damit nicht durch. Nun konnte ich heute Abend in der Versammlung nichts mehr zu deiner Verteidigung vorbringen, Uta. Als Parteimitglied muss ich mich der Mehrheit fĂŒgen. Ich wollte, dass du das weißt, damit du mich nicht auch einen krummen Hund schimpfst. So traurig das ist: Es ist bereits beschlossene Sache, dass du fliegst.“
Utas Nerven lagen blank, dennoch empfand sie ein zaghaftes GlĂŒcksgefĂŒhl, in solch einer Situation eine gute Hand voll Freunde zu haben, ihre Sympathie zu spĂŒren, das Bewusstsein, nicht allein zu sein.
Vom neuen Rathaus mahnte die Turmuhr: mors certa, hora incerta. Der Tod ist gewiss, ungewiss ist die Stunde. Jeder Leipziger ĂŒbersetzt es: Totsicher geht die Uhr falsch.
Da lief noch mehr falsch als nur die Uhr!
*
„Was werden Sie tun, wenn Sie nicht weiter studieren können?“, fragte Utas Assistent, als sie wegen einer letzten Unterschrift in seinem BĂŒro war.
Sie wusste, dass er in der Partei war. Schulter zuckend: „Ich werde in die Industrie gehen und dort zwei Jahre arbeiten. Wohin, weiß ich nicht. Böhlen oder Leuna: Wohin ich gesteckt werde.“
„Damit Sie sich bewĂ€hren, wird von Ihnen erwartet, dass Sie politische Schulungen fĂŒr die werktĂ€tigen Jugendlichen abhalten.“
„Ja. Wenn es gut geht, dann bin ich in zwei Jahren wieder hier im Institut.“
„Das kann aber nicht gut gehen!“, sagte er leise aber sehr nachdrĂŒcklich.
Wie wollte er das wissen? Außerdem, wenn er wirklich solche Kenntnisse hatte, wie konnte er als Genosse ihr solche Gedanken anvertrauen?
„Überlegen Sie doch einmal“; fuhr er unbeirrt fort. „Sie sind doch gerade deshalb in Ungnade gefallen, weil Sie – angeblich - ideologisch schief liegen. Wenn Sie nun in der Industrie politische Arbeit leisten, dann muss Ihnen doch zwangslĂ€ufig irgendwann ein Fehler unterlaufen. Passiert das innerhalb der Gruppenarbeit, dann ist das ‚organisierter Widerstand gegen die Staatsgewalt‘. Ist Ihnen klar, dass darauf Zuchthaus steht?“
Aus ihrem Gesicht war alles Blut gewichen.
„Ich hatte vermutet, dass Ihnen diese ZusammenhĂ€nge nicht klar sind. Ich dachte mir, einer mĂŒsste Ihnen doch die Augen öffnen, damit Sie sehen, welch perfide Falle Ihnen damit gestellt werden soll.“
Freundlich drĂŒckte er ihr die Hand: „Überlegen Sie sich Ihre nĂ€chsten Schritte sehr gut. Viel GlĂŒck fĂŒr Ihre weitere Zukunft!“

Gab es noch eine Alternative zu West-Berlin?
Wohlan denn! Herz, nimm Abschied und – verwunde!

Letzte Aktualisierung: 21.06.2011 - 21.25 Uhr
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