Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Endlich frei | Juni 2011
Kinapaks Dilemma
von Katharina Conrad

rennen!
fester schnee unter kinapaks pfoten
scharfer wind kühlt feuchte schnauze
rennen, rennen!
rudelpfoten schleudern fliegendes eis
augen schließen, weißes gleißen verschwindet
dunkler rudelgeruch, guter geruch
rennen, rennen!


Auf dem Schlitten zog Tikaani sein Karibufell tiefer in die Stirn. Er verfluchte die horizontlose weiße Wüste und hätte alles um ein Feuer und endlich eine Mahlzeit gegeben, aber noch ließen sich die grätendünnen Rauchsäulen des Dorfes nicht einmal erahnen.
Tikaani und Kinapak bildeten die Nachhut. Die Hündin zog den Schlitten mühelos alleine, denn abgesehen von Tikaani war er leer. Sie griff weit aus, und sie folgten den breiten Transportschlitten, die vom Gewicht der Vorräte tief in den harschen Firn gedrückt wurden. Alle Hunde außer Kinapak zogen Pökelfleisch, Decken und Kohle.
Die Sonne stand tief und blendete.
Tikaani trieb Kinapak an.
Wenn er nur schon Rauch sehen könnte.

kühle luft rein, raus
zunge flattert
rennen, rennen!
ohren lauschen – herr treibt vorwärts
guter herr
rudelgeruch folgen
rennen!

jaul!
Welt wirbelt, kein schnee unter pfoten!
kinapak fliegt, jaul!
schlitten bricht! harter schnee schmerzt, panik!
jaulen, heulen, winseln
zappeln
kann nicht aufstehen, leder hält kinapak gefangen, panik!
rudelgeruch schwindet, nein! panik!
zähne reißen, heulen, beißen, panik!
reißen heulen beißen! reißen heulen beißen


„Kinapak!“

reißen heulen beißen rudel
herr?


„Kinapak, Mädchen, ruhig!“

herr, guter herr, gut, gut
seitlich liegen bleiben
kühle luft rein, raus
herr greift pelz, pfoten funktionieren nicht
hände im pelz lösen enge, lösen leder, lösen panik
kinapak frei
frei!
schütteln, fühlen, pfoten läufe hals
rudelgeruch so blass
rudel! rennen, rudel!
frei!
rennen!


„Kinapak!“, rief Tikaani, seine Stimme überschlug sich. „Kinapak, nein!
Komm zurück!“

zögern nein rennen
nicht stehen, rudel am horizont!
aber herr ruft kinapak!
aber rudel verschwindet!
im kreis laufen im kreis laufen im kreis


„Kinapak!“

herr ruft kinapak
will nicht zurück, will rudel!
herr liegt am boden?


„Kinapak! Komm zurück! Hilf mir.“

kinapak hört angst, hört not, hört schmerz
herr leidet
schritt vor zurück im kreis
schritt vor zurück im kreis
herr!
rudelgeruch so blass!
kratzen hektisch kratzen hektisch kratzen
bellen! bringt rudel nicht zurück
kinapak bleibt
trottet zu herr


„Gottseidank, Kinapak. Gutes Mädchen, braves Mädchen!“
Tikaani schloss für einen Moment erleichtert die Augen, als er ihr Fell unter seinen Händen fühlte.
Er lag halb begraben unter dem umgestürzten Schlitten, und eines seiner Beine bestand aus nichts als himmelweitem Schmerz, aber in diesem Augenblick war er fassungslos betäubt vom Glück, denn Kinapaks Rückkehr war ein Wunder.
Kein Schlittenhund ließ sein Rudel am Horizont verschwinden, das widersprach ihrer Natur.
Kinapak aber hatte es getan!
Wenigstens war er nicht alleine.
Tikaani musste sich aus seiner misslichen Lage befreien, aber er brachte den Schlitten keinen Zoll von der Stelle, weil er sich mit dem verletzten Bein nicht abstützen konnte.
Aber Kinapak war ja da. Tikaani flocht aus den wenigen zerfetzten Lederresten, die er erreichen konnte, einen notdürftigen Brustgurt. Er stöhnte auf, vor Schmerz - und weil ihm der Verlust des ledernen Geschirrzeugs in die Eingeweide stach. Neues anfertigen zu lassen würde ihn viele Felle kosten, die er schlicht nicht besaß. Er betete, dass die Hündin sich bei dem Sturz nicht doch verletzt hatte, er durfte nicht auch noch sein bestes Zuchttier verlieren.
Wenn er überhaupt wieder nach Hause kam.
Er war der Letzte des Zuges gewesen. Durchaus möglich, dass sein Fehlen erst im Dorf bemerkt wurde, und bis ein Suchtrupp ihn fand, konnten Stunden vergehen, Tage vielleicht. Schon jetzt verlor sich die Spur im einsetzenden Schneefall, bald würde sie nicht mehr zu finden sein, nicht für menschliche Augen. Und dann, dank des Windes, nicht einmal mehr für die feinen Nasen der Hunde.
Tikaani verdrängte die Angst. So schlimm dieser Umstand auch war, er war nur zweitrangig.
Zuerst musste er sich aus seiner Zwangslage befreien und herausfinden, wie schwer die Verletzung an seinem Bein war.
Er schlang den Gurt um Kinapaks Brust und befestigte ihn so am Schlitten, dass sie ihn mit etwas Glück würde aufrichten können.

Herr ruft ziehen
kinapak zieht, alle kraft zieht
schlitten gleitet nicht!
zieh fester kinapak
krallen greifen graben festen schnee, leder spannt
kinapak riecht herrs verzweiflung, riecht angst
nicht wieder panik! kühle luft rein, raus
ziehen
heißer atem taut schnee
alle kraft zieht
schlitten ruckt vorwärts!


Tikaani schrie auf und griff an sein freigewordenes Bein, tastete durch die übereinander gebundenen Lederschichten.
Es war gebrochen, mehrfach vielleicht, aber er spürte keine feuchte Wärme, keine offene Blutung, die er hätte stillen müssen in der Kälte, das nicht auch noch.
Nur fürchterliche Schmerzen. Tikaani sog scharf die Luft ein.
Er blickte zu Kinapak, die abwartend hechelnd im Schnee saß.
Kinapak, die geblieben war, um ihn zu retten.
Er zog sie heran und grub sein Gesicht in ihren Pelz.

herr steckt nase in kinapaks pelz
guter herr
zunge streichelt herrs gesicht
guter herr


Wie viel Zeit mochte seit dem Unfall vergangen sein? Tikaani hatte keine Ahnung. Er walkte und knetete seine Lage in seinem Kopf, aber sie änderte sich einfach nicht, und er konnte ihr keinen Ausweg abringen. Es kostete ihn zu viel Kraft, den Schmerz, den lauernden Hunger und die schleichenden Geister der Kälte auf Abstand zu halten.
Aus dem Windschatten des Schlittens beobachtete er Kinapak, die sich einige Meter weiter zusammengerollt hatte und unter dem frischen Schnee allmählich selbst aussah wie eine Verwehung.
Der Schlitten war Schrott, das Lederzeug zerrissen. Alle Vorräte, Decken und Waffen waren auf den Transportschlitten.
Nicht alle Waffen. Tikaani erinnerte sich an das scharfe kleine Jagdmesser an seinem Gürtel, aber wozu sollte ihm das nützen, er konnte sich ja nicht mal von der Stelle rühren.
Wann genau hatte der Hunger eigentlich begonnen, an ihm zu nagen wie eine Bisamratte?
Und diese Schmerzen!
Es brachte nichts.
Tikaani konnte nur warten und hoffen, dass man ihn bald finden würde.

Kinapak gibt acht schläft nicht
warmer schwanz über kinapaks schnauze
ohren suchen rudel, finden wind
suchen rudel, fressen, sicherheit
knurren? ohren auf
herr knurrt
bauch knurrt
kühle luft rein, raus


Tikaani litt Hunger.
In der Kälte verbrannte der Körper seine Reserven so schnell.
Sein Bein war nur noch eine pulsierende Glut, und seine Augen tränten vom blendenden Weiß, das keine Retter ausspucken wollte.
Er litt so schrecklichen Hunger.
Er vermied es, seine Hündin anzuschauen. Um nicht die auffällige Zeichnung ihres Gesichts sehen zu müssen, die seine Tochter auf den Namen Kinapak gebracht hatte, Maske. Um nicht daran zu denken, wie sie ihm jeden ihrer Welpen voller Vertrauen überlassen hatte, jahrelang.
Er fasste das Jagdmesser fester, das er seit einiger Zeit in seiner Hand hielt, der Griff war schon ganz warm.
Er litt so furchtbaren Hunger.

„Kinapak!“

kinapak müde träge schlafen
nicht aufstehen


„Kinapak, komm her! Komm zu mir.“

nein nicht aufstehen, warm eingerollt müde schlafen
herrs stimme lockt kinapak
süß wie kraulen streicheln bauchkratzen
langsam gähnen strecken
vorderpfoten lang, brust tief, schwanz hoch


„So ist es brav. Komm zu mir.“

guter herr
lockt kinapak, streicheln kraulen bauchkratzen?
guter herr

halt
ohren hören rudel!
ohren fliegen, suchen rudel, suchen!
vom wind gestohlen!
nein feine ohren finden bellen jaulen rudel!
kommen näher, lauter, näher!
kinapak dreht greift aus, kein halten mehr!
rennen bellen rennen bellen rennen
rudel, welt, leben
frei!
rennen, rennen, rennen!
frei


©2011 K.Conrad – Vers. 3

Letzte Aktualisierung: 24.06.2011 - 17.52 Uhr
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