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Endlich frei | Juni 2011

Lügen haben gebrochene Beine
von Angelika Gerber

„Machs gut, Mom“, sagte meine Tochter und gab mir einen verschwitzten Abschiedskuss
auf die Wange. Mein Blick fiel auf die gestapelten Umzugskisten mitten in ihrer neuen eineinhalb Zimmerwohnung, ganz oben auf dem Karton saß Gizmo, ihr Lieblingsteddy, und blickte mich vorwurfsvoll an.
„Ja, dann Julie, ich wünsch dir was. Schlaf gut und melde dich, falls du mich brauchst.“
Ich nahm sie in die Arme und spürte, wie sie sich steif machte. Mama-Umarmungen waren schon lange out, doch ich ignorierte es und drückte sie ganz fest an mich. Ließ sie allein und machte mich einsam.
Es fühlte sich gut an. Oder? “Ja, ich fühle mich gut“, sagte ich laut vor mich hin und straffte die Schultern, atmete tief ein und aus, ein und wieder aus.
Eine kleine Träne hing in meinem Augenwinkel, die ich mit dem linken Handrücken wegwischte.

Hi Mia. JUCHUUUU. Bin ganz allein! Meine eigene Wohnung! Wie geil ist das denn? Kommst vorbei? Bringst Pizza mit? Grüße Julie

Da war es mein altes, neues Leben. Nun hatte ich sie wieder die Zeit! Zeit für mich.
Zwanzig Jahre lang war ich fast nur MAMA gewesen. Alleinerziehend!
Tag und Nacht stand ich bereit.
Hunger: Ich koche dir dein Lieblingsgericht.
Krank: Tee mit Honig, Wärmflasche, Medizin.
Dreckig: Ich wasche dich mitsamt den Kleidern.
Langeweile: Ich spiele mit dir. Wir unternehmen was. Spielplatz, Zoo, Schwimmbad? Kummer: Ich höre dir zu, ich verstehe dich, ich bin für dich da.
Schlaflosigkeit: Ich bleibe bei dir, solange wie du willst.

Und nun war sie plötzlich wieder gekommen, MEINE Zeit. Ich konnte alles verwirklichen, was ich jahrelang verschoben hatte. Ohne Rücksicht durfte ich nun an mich denken! WOW!!
Auf geht’s, was machen wir nun mit dem schönen Abend?
Ein kurzer Anruf bei meiner Freundin Pet und schon hatte ich ein Date in meiner Lieblings-Tapas-Bar. Zuvor legte ich mich in die Badewanne und drehte meine Lieblings-CD von Josh Groban, den Julie „total Assi“ fand, richtig laut auf. Genüsslich lag ich bis zum Kinn in Schaum gehüllt völlig entspannt da, bis mir die Nachbarn einfielen. Ich sprang aus der Wanne, tapste zum Rekorder und drehte leiser.
Meine Gedanken planten mein neues Leben, ich ignorierte mein Mutterherz, das immer wieder leise “Es tut so weh“ pochte.
Beim Spanier bestellte ich mir alle Tapas mit extra viel Knoblauch und betrank mich ein wenig mit Rose-Schorle.
„Und wie fühlt es sich an, so alleine?“ fragte mich Petra.
„Es ist klasse“, schwärmte ich „Einfach genial.“
Sie musterte mich verwundert von der Seite: “Wirklich?“

Als ich nach Hause kam, hatte ich Mühe die Tür aufzuschließen. Ich war es nicht gewohnt, Alkohol zu trinken. Als Vorbild tut man so etwas nicht.
Die Schlüssel warf ich mit Schwung auf die Couch, holte das Telefon und wählte Julies Handynummer. Kam gerade noch rechtzeitig zur Besinnung und legte auf.
Sie wäre sicherlich nicht begeistert, wenn ich sie um diese Uhrzeit noch anrief.
So kramte ich die Alben von Julies Kindertagen hervor und strich zärtlich über die Seiten.
Julie kurz nach der Geburt, beim ersten Laufversuch, am ersten Kindergartentag. Julie mit ihrem neuen Fahrrad, ihrer Vespa, Julie und ich im Urlaub auf Amrum. Ach, Julie, meine Kleine. „Und jetzt braucht sie mich nicht mehr“, schluchzte ich und vergrub mein Gesicht im Sofakissen.

He Mia. Kannst nicht wiederkommen? Fühl mich gerade einsam aber gut. Komisch gell. Hatte schon Ärger mit Nachbarn. Zu laute Musik. Blöde Spießer! Lg Julie

Zwei Wochen später rief ich Petra an: “Du glaubst nicht, was ich gerade gemacht habe“, schrie ich in den Hörer.
„Mona! Ich kann dich auch in normaler Lautstärke hören“, schrie sie zurück.
„Ich fliege weg. Weit, weit weg“, schrie ich einfach weiter.
„Lass mich raten, du fliegst nach Malle zum Ballermann 6.“
„Weiter weg!“
„Ballermann 8?“
„Setz dich am besten! Ich fliege nach Argentinien und mache bei einem Viehtrieb mit“,
rief ich triumphierend und legte bei der Lautstärke noch einen Pegel drauf.
„Argentinien? Viehtrieb? Ich verstehe nicht. Muss man da Kühe jagen?“
„Jawohl. Wie die Cowboys mit dem Pferd“, sagte ich stolz.
„Mit einem Pferd? Du willst reiten? Mona, du kannst nicht reiten.“
„Sehr wohl kann ich das. Es ist schon eine Weile her, aber ich hatte Reitstunden.“
„Auf einem Pony vor ungefähr dreißig Jahren, meinst du das?“
„Genau genommen war es kein Pony.“
„Nein, eher ein Fohlen.“
„Pet, es war ein echtes Pferd. Und reiten und Fahrrad fahren verlernt man nicht.“
„Du konntest es nie, also musst du es auch nicht verlernen, sondern lernen.“
„Spielverderber. Ich dachte, du freust dich, dass ich meine neue Freiheit nutze.“
„Klar, ich freue mich, aber wie wäre es mit einer Wellnesswoche gewesen? Wann fliegst du und hast du Reiserücktritt?“

Einen Monat nach der Buchung meines großen Abenteuers, als ich gerade meine Koffer packte, klingelte es an der Tür.
Mit Schwung sprang ich die Treppenstufen hinunter und öffnete mit einem breiten Urlaubsgrinsen im Gesicht. Davor stand meine Tochter mit zwei Krücken und einem dicken Gipsbein.
„Um Himmels Willen Julie, was ist passiert?“, rief ich völlig außer mir vor Sorge.
„Bin ausgerutscht“, murmelte sie verlegen: „Beim Putzen.“
„Was hast du denn geputzt?“
„Die Fenster. Mom, ich glaube, ich brauche dich in den nächsten Wochen wieder so ein bisschen.“
„Natürlich mein Kind, am besten ziehst du erstmal wieder hierher“, hörte ich die Mama in mir sagen und ein wenig schmerzte das Herz, weil Argentinien gerade in weite, weite Ferne rückte. Das Mamaherz hingegen lachte und lachte.

Nachdem ich Julie etwas gekocht hatte, half ich ihr dabei sich aufs Sofa zu legen und stopfte ihr ein dickes Kissen unter das lädierte Bein. Ich fuhr zu ihrer Wohnung und holte die nötigsten Sachen. Lieh eine DVD für sie aus und kaufte ihre Lieblingssüßigkeiten.
Danach rief ich Petra an.
„He Pet, du glaubst nicht was passiert ist“, sagte ich leise.
„Du bist heiser“, flachste sie.
„Julie hat sich das Bein gebrochen.“
„Weiß ich schon.“
„Wie? Woher weißt du das?“
„Von meiner Tochter, sie hat sie gesehen.“
„Wo gesehen?“
„Na in dem Club.“
„Club? Ich dachte, es ist beim Fensterputzen passiert?“
„Hat sie dir das wirklich erzählt? Nein, der Unfall passierte in der Disco! Ganz sicher. Sie hat beim Wetttrinken verloren und ist die Treppe heruntergefallen. Katrin meinte, sie war so voll wie noch nie.“

Mein Flug ging am nächsten Morgen. Ich schrieb Julie einen Zettel:
Liebe Julie, falls du mich suchst, ich bin in Santa Cruz. Falls du Hilfe brauchst, Petra übernimmt meine Vertretung. Yeehaw!
Deine dich liebende Mutter
PS: Schade, dass du beim Wetttrinken verloren hast. Nächstes Mal trittst du am besten gegen mich an, da hast du eine reale Chance auf einen Sieg.

Als ich im Flugzeug saß, bereute ich meinen Entschluss schon wieder. Was war ich für eine schlechte Mutter.

Hallo Halli Mia. Habe Mom extra angeschwindelt wegen Unfall War Pets Idee. Sonst wäre sie nie geflogen. Rechnung ging auf! Gibt´s nicht, oder? Cool, meine Mom. Vermiss sie jetzt schon. Wohne erstmal bei Pet. Von wegen große Freiheit. Seufz. DD Julie

Zwei Wochen später schrieb ich an Pet eine Karte aus Santa Cruz.
He ihr? Was macht Julie? Wird sie mir je verzeihen? Es ist unbeschreiblich hier.
Meine Beine bringe ich beim Laufen nicht mehr zusammen. Mein Po ist wund, mein Gesicht von der Sonne verbrannt und meine Arme schwer wie Blei. Mich umweht eine Prise Rind mit Pferdenote, Lagerfeuer- und Schweißgeruch. Joe, ein umwerfend gut aussehender Cowboy, riecht genauso, wird mir Reitnachhilfe geben. Mein Grinsen auf dem Gesicht ist angewachsen. Du hattest Recht, Reiten kann ich nicht wirklich, aber glücklich sein, habe ich nicht verlernt. Es drückt dich Mona


©Angelika Cg 3.Version

Letzte Aktualisierung: 25.06.2011 - 21.40 Uhr
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