Diese Seite jetzt drucken!

Endlich frei | Juni 2011

Im Auge der Dunkelheit
von Sylvia Seelert

Der Punkt springt gleichmäßig hin und her. Meine Augen verfolgen ihn. Links - rechts - links - rechts. Schließlich verschwindet er und ich hole tief Luft, weil ich das Atmen für einen Augenblick vergessen habe.
"Was sehen oder fühlen Sie?", fragt ihre ruhige Stimme, die immer bei mir ist. Doch meine Lippen schweigen und die Zähne sind so fest aufeinander gebissen, dass jeder Muskel im Kiefer schmerzt.

Der Punkt springt wieder hin und her. Links - rechts - links - rechts.
"Es ist Ihre Entscheidung, wohin Sie gehen und wie weit."
Und dann öffne ich die Tür, die so lange verschlossen war. Langsam wandere ich durch sein Schlafzimmer, streichele über die Tagesdecke und zeichne die Blumen nach. Dunkelblau und schwer hängen die Vorhänge vor den Fenstern. Es riecht nach leicht süßlichem Rasierwasser.
Das Kind ist an meiner Seite und gemeinsam stehen wir ihm gegenüber. Es will nicht zu ihm gehen und klammert sich weinend an mir fest.

"Sie müssen es loslassen. So schlimm es Ihnen auch in diesem Augenblick erscheinen mag: Es ist doch nur die Vergangenheit."
Tränen schießen mir in die Augen und schließlich lasse ich es gehen. Zu ihm.
Meine Kehle schnürt sich zu und ich atme schwer. Der springende Punkt vor meinen Augen flimmert, zerfließt zu einem Stummfilm. Mein Blick klebt an den Bildern. Ekel steigt in mir auf. Die Finger krümmen sich in meine Handballen und drücken die Nägel tief ins Fleisch. Der Film reißt und für einen Augenblick ist der Kinosaal in Dunkelheit gehüllt.

"Es war grauenhaft", antwortet sie, als ich frage, ob sie den Film ebenfalls sehen konnte. "Ich habe keinen Zweifel", sagt sie dann zu mir und ich fühle zum ersten Mal Erleichterung. Sie glaubt mir. Es überkommt mich eine wahnsinnige Traurigkeit: Niemand wollte damals zuhören. Erst jetzt schwitzt mein Körper all die Einsamkeit aus, die sich in dieser Zeit angesammelt hat. Müde falle ich in meinem Sessel zusammen. Mein Herz pumpt wie nach einem Marathonlauf.

"Der Gewinn", sagt sie zu mir, "der Gewinn ist, dass Sie nicht weghören und weggucken." Tausend Antennen ragen aus mir, erforschen die Tiefe. Erst jetzt, nachdem ich im Auge der Dunkelheit war, fügen sich die Schatten auf dem Radar wie ein Puzzelspiel zusammen. Ich verstehe.

Sorgfältig sortiere ich die Gegenstände in die Regale meiner Bibliothek der Erinnerung ein. Ich weiß nun, wo ich sie finden kann, wenn ich sie mir anschauen will. Leichter liegen sie in meiner Hand, seitdem sie frei von Staub sind.

Letzte Aktualisierung: 09.06.2011 - 11.15 Uhr
Dieser Text enthält 2485 Zeichen.


www.schreib-lust.de