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Endlich frei | Juni 2011

Wir sind ... unfassbar!
von Robert Pfeffer

Ich würd‘ schon gerne raus. Andererseits ... hier drin kann ich tun, was ich will. Halten Sie mich für verrückt, ... genau so ist es. Sie dachten, ich hätte es leicht? Manchmal ja, insgesamt aber nicht. Bitte? Lächerlich? Ach hören Sie doch auf! Was wissen Sie denn, wie es bei uns zugeht.

bedeutungsvoll

Wir sind Millionen. Ach, was sag ich ... Milliarden, Billiarden. Hört sich unfassbar viel an, was? Keine Sorge, wir haben locker Platz. Wir brauchen kaum welchen. Kämen in der nächsten Minute hunderttausend dazu ... null Problem. In irgendeiner Ecke ist immer was frei. Und wir wohnen ja auch nicht. Im Gegenteil. Wir sind praktisch pausenlos in Bewegung. Schlaf? Wofür? Wir sind die, die ihn verhindern! Erschöpfung kennen wir nicht, nur den Untergang. Die Auflösung ist unser ärgster Feind. Auf der anderen Seite ... geht einer von uns, kommen mindestens drei Neue. Gelegentlich kehren ein paar von uns zurück. Die Vordrängler unter uns sind oft total bescheuert (kichert dezent, dann ...).

nachdenklich

Manchmal verändern sie aber die Welt. Ok, ich gebe zu, da kann es schwierig werden. Es kommt vor, dass wir gegeneinander kämpfen. Mal kurz und heftig, mal über Jahre. Und denken Sie nicht, dass uns auf dieser Strecke der Saft ausgeht. Nein, wir können verdammt hartnäckig sein. Bohrend. Stechend. Belastend und zermürbend. Weil wir Sie immer daran erinnern, dass wir da sind. Gerne nachts. Wäre ja auch schlecht für uns, täten wir es nicht.

breites Lächeln

Herrlich unbeschwert ist unser Leben, wenn man mit uns spielt. Die Momente größter Freiheit. Obwohl wir eingeschlossen sind. Da gibt es Phasen, in denen wir uns völlig verlieren. Da überbrücken wir gewaltige Distanzen, überspringen Mauern und durchbrechen Grenzen. Ich finde kaum Worte, das zu beschreiben. Stellen Sie sich vor, Sie laufen auf eine Ziellinie zu, schauen sich kurz um und wissen, die Konkurrenz schwächelt. Keiner mehr da. Das Gefühl des Sieges legt Ihnen einen Mantel aus Gänsehaut um, lässt das Glück hochsteigen und automatisch heben Sie die Arme. Sie rennen über die Linie. Doch nach dem Ziel sinken die Hände nicht, nein, es kommt noch eine Linie und noch eine. Grandios, was? Wir lassen Sie glauben, Sie könnten fliegen. Wie ein Orgasmus, der nicht enden will. Oh, entschuldigen Sie bitte, da sind im Überschwang wohl gerade die Pferde mit mir durchgegangen. Na ja, nehmen Sie, was Ihnen lieber ist ...

verlegen zunächst, dann schmunzelnd, schließlich lachend

So richtig rund geht das bei uns, wenn jemand versucht, uns zu lesen. Da stellt sich die versammelte Truppe ganz vorne auf, direkt hinter den Augen. Und wir schauen, wer da ist. In mehreren Reihen hintereinander, dicht gedrängt, ziehen wir Fratzen. Strecken unserem Gegenüber die Zunge raus, die wir nicht haben, sehen seine Falten der Spekulation. Hätten wir Schenkel, jetzt würden wir uns draufschlagen. Haben wir aber nicht. So bleibt uns nur, wild hin und her zu springen. Uns lesen ... idiotisch!

aufgebracht

Allen, die es immer wieder probieren, rufe ich zu: Hört auf damit! Verschwendung von Zeit und Energie! Fiese Abzocke obendrein! Die Wahrheit ist: Es ist ein bisschen wie mit dem Tod. Da gibt es auch welche, die sagen, sie wären schon auf der anderen Seite gewesen. Beweise? Fehlanzeige! Gewaltig beschriebene Lichterscheinungen, lange Tunnel, aus denen die Damen und Herren über vermeintliche Notausgänge ihre Fantastereien zu retten versuchen. Jaja, ich kenne das. Ok, wir, meine Kollegen und ich, wir sind und waren stets Gegenstand reichhaltiger Spekulationen. Und werden es bis in die Ewigkeit sein. Jetzt seh ich auch bei Ihnen diese Spekulationsfalten. Sie überlegen bestimmt gerade, wie wir wohl aussehen, oder? Ach, ich soll uns beschreiben? Gar nicht so einfach. Klein können wir sein, flüchtig mitunter, ebenso riesengroß und alles verändernd, manchmal flackernd, ein unstetes Flämmchen inmitten tosender Gewitter und dann wieder Jahre hell strahlend. Es liegt bei unseren Besitzern. Ich sage mit Absicht nicht Eigentümern. Die sind und bleiben wir. Aber man kann uns besitzen. Damit haben wir auch kein Problem. Im Gegenteil, es ist uns eine Freude. Sichert uns schließlich Existenz und Beschäftigung. Da sind wir ganz Serviceleister.

bekümmert, schaut betreten zu Boden

Sie haben ja recht. Was nützen wir hier drin, wenn wir das bleiben, was wir sind? In diesem Zwiespalt verbringen wir unser gesamtes Dasein. Wir alle drängen darauf, es hinauszuschaffen, endlich frei zu sein. Doch wären wir das? Keiner von uns, der es geschafft hat, kam je zurück. Von hier drinnen ist immer die Frage: Heißt draußen sein, frei sein? Wer weiß denn, was danach wird? Davon abgesehen ist es mitunter auch verdammt schwer, überhaupt rauszukommen! Manchmal denk ich, jeder von uns ist wie ein Schlüssel. Bloß ... wenn unser Besitzer bisweilen sekündlich das Schloss auswechselt, sind wir die Gelackmeierten. Es ist schon frustrierend. Da stehst du kurz vor dem Ausgang, glaubst fest, das passt ... und von einem Lidschlag auf den nächsten hat sich‘s ausgepasst. Ab in die hinterste Reihe heißt es dann und du kannst von vorne anfangen. Gestatten ... Sisyphos! Manche von uns probieren es unentwegt, andere wagen sich deshalb gar nicht erst vor. Die bleiben immer, was sie sind. Ach, es ist zum Verzweifeln ...

zerknirscht, dann schlagartig lächelnd

Oh, Moment, bitte entschuldigen Sie mich gerade. Bin gleich wieder bei Ihnen. Mittagsappell. Da singen wir unsere Hymne, das darf ich nicht verpassen ...

Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?
Sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen,
mit Pulver und Blei ... die Gedanken sind frei!


So, da bin ich wieder. Die restlichen Strophen schaffen die anderen auch ohne mich. Wo waren wir stehen geblieben? Ach Quatsch, das bleiben wir ja nie ...

Letzte Aktualisierung: 26.06.2011 - 20.05 Uhr
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