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Endlich frei | Juni 2011

Perspektiven
von Bernd Kleber

Im Hausflur kommt ihm Frau Linke entgegen, in dem Augenblick, als die donnernde Stimme seines Vaters „Verfickte Hure!“ durch die geschlossene Wohnungstür zu hören ist.
Die alte Frau sieht ihm in die Augen, als erwarte sie Widerspruch oder eine Entschuldigung von ihm für das Gebrüll des Alten.
Marco sagt flüsternd: „Hei!“ und läuft weiter.
Frau Linke bleibt auf dem Treppenabsatz stehen. Bis zu den Briefkästen hinab hört man die vulgären Ausbrüche.
„Abhauen“ ist jetzt besser, seine Mutter würde wieder Schläge beziehen und zu ihrer Freundin huschen. An Abendbrot nicht zu denken heute. Später schleicht sie sich in die Wohnung zurück. Meist gibt sie ihm alle Schuld, er sei ohnehin nicht geplant gewesen: ein Unfall!
Und bevor er gekommen war, hatte sein Papa sich nur um sie gekümmert.
Auf der Straße schießt er eine platte Bierbüchse quer über das Pflaster.
Ein Scheißleben ist das.
Zeugnis verhauen, Ausgabe übermorgen! Klasse wiederholen? Nie!
Der Alte wird ihn sicher wieder aus dem Bett zerren und verprügeln.
Jeden Abend Theater, wenn der voll ist.
Eine kalte Wut und eine ohnmächtige Trauer kriechen in ihm hoch. Was soll das werden?
Was soll mit ihm werden? Das Leben ist so Kacke ungerecht.
Wohin jetzt?
Zum Park! Da sitzen sie. Dominik, Enrico und Marcel.

„Ej Alter, kommst genau richtig, los, lass uns Taschen abziehen am Alex ... da sind die Bullen jetzt nicht mehr, Galeria und Alexa haben zu“.
Seit er die neuen Springer und die beiden Tattoos hat, nimmt man ihn ernst.
Je ein kleines blaues Hakenkreuz an seinem linken und rechten Ellbogen.
Keiner hänselt ihn noch.
Er tritt wieder mit seinen Stahlkappenschuhen, diesmal eine Flasche, quer über die Gehwegplatten. Es scheppert unheimlich durch den Stadtpark.
Die vier schlendern los, trinken Whisky aus einer Literflasche.

Gemeinsam sich schubsend und grölend werfen sie sich in den U-Bahnwagen auf eine lange Bankreihe. Ein älterer Herr sieht verlegen zur Seite.
An den Haltestangen sich entlanghangelnd wie am Klettergrüst auf dem Spielplatz, poltern sie durch den Wagen.
Marco fühlt sich stark. Niemand, der ihn anschreit oder schlägt.
Enrico spricht eine Blondine an, ob sie einen Schluck haben wolle, ob sie überhaupt schlucke.
Die Frau schüttelt den Kopf und steht auf, geht zur nächsten Wagentür.
Die Jungs trödeln weiter.
Dann gibt Enrico einen Wink, sie setzen sich in ein Vierereck.
Ihnen schräg gegenüber sehen sie einen Mann in den Fünfzigern, schmal und blass aussehend, hält er seine Aktentasche auf den Knien fest. Enrico zwinkert.
Eine Anspannung ist zu spüren, im Wagen ist Ruhe. Nur hin und wieder kichert Dominik.
Der Zug fährt wieder an. Die Blondine ist ausgestiegen.
Rico deutet mit einer Handbewegung an, dass er die Tasche haben will.
Der Fahrgast aus der Ecke steht auf und setzt sich in Bewegung, läuft durch den Waggon bis ans andere Ende und stellt sich vor eine Tür.
Wenige Minuten bis zur nächsten Station, Rosenthaler Platz.
Der Zug rauscht in den Bahnhof ein, der Mann blickt sich nervös um.
Enrico grinst. Die Jungen stehen nach seinem Zischen auf.
Die Türen entsperren und öffnen sich.
Auf dem leeren Bahnsteig eilt der Mann hastig zum Nordausgang.
Die Jugendlichen tänzelnd hinterher.
Marco erinnert dieser Mann an seinen Onkel Martin, der ihm zur Seite steht, ihm Geld zusteckt, bei dem er übernachten darf, obwohl seine Frau das nicht mag.
Er ruft Rico zu: „Ach lass den doch!“
Da haut Enrico dem Eilenden eine von hinten in den Nacken, der stöhnt und stolpert. Marcel tritt ihm die Füße weg, dass er hinschlägt. Der Mann jault wie ein Hund. Dominik greift die Tasche, will damit losrennen, da kickt Enrico dem Liegenden in den Bauch, der zuckt. Liegt jetzt gekrümmt wie ein Embryo.
Marco erinnert sich, als er seinem Onkel ... schreit: „Hört auf!“
Enrico funkelt ihn kurz an. Marcel tritt gegen den grauhaarigen Kopf. Dominik tritt nach, es kracht. Marco wird übel, er setzt sich auf eine Bank. Das Portemonnaie Martins in der Hand, die traurigen Augen, das Küchenmesser, der Schrei ...
Er sieht wie in Zeitlupe die drei um das Opfer tänzelnd springen und treten. Der Getretene bewegt sich nun nur noch nach Erhalt einzelner Hiebe, sonst Ruhe. Blutrinnsale laufen vom Körper wie ein Strahlenkranz in den Kachelfugen. Die roten Pfeile deuten auf Marco.
Schuld!
Marco übergibt sich. Er holt sein Handy aus der Bomberjacke, hält es hoch, als wolle er filmen.
Enrico grinst ihn zärtlich an.
Dominik schreit, „Kommt, los, ehe die Bullen kommen!“
Er sitzt wie gelähmt, hantiert mit seinem Handy. Sieht den leeren Blick seines Onkels.
Die Kumpel stürzen die Treppe nach draußen in die Nacht.
Eine Neonröhre flackert.
Marco steht auf und geht quer über den Bahnsteig. Einen Schritt macht er über den Mann am Boden, sieht nach links in den Tunnel, aus dem die U-Bahn einfährt.
Er kann genau in die Augen des Triebwagenführers sehen, bevor er nach vorn kippt.

Seine Mutter erhält eine SMS: „Frei!“

Letzte Aktualisierung: 22.06.2011 - 22.31 Uhr
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