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Endlich frei | Juni 2011

Johnny, du Depp!
von Eva Fischer

Er nannte sich Johnny, denn kein weibliches Wesen hätte ihn küssen wollen, wenn er sich weiterhin Hans genannt hätte, nur weil sein Vater diesen Namen einmal beschlossen hatte, um die Familientradition weiterzuführen.

Schon früh hatte er das Ziel vor Augen, möglichst viele Mädchen zu küssen.
Die erste Gelegenheit bot sich im Turnunterricht. Die schöne Helena sprang über den Bock. Johnny postierte sich zur Linken, um ihr Hilfestellung zu geben. Während sie mit wippendem Pferdeschwanz und gespreizten Beinen über den Balken schwebte, drehte er ihren Arm nach rechts, so dass sie in seinen Armen landete und er ihr seinen ersten Kuss abtrotzen konnte.
Weitere Kandidatinnen reihten sich ein in Amors Spiel:
Isabelle folgte er auf die Mädchentoilette, Nadine in den Park, Jacqueline ins Schwimmbad. Claudia führte ihn auf den Balkon in der 10. Etage eines Hochhauses, Sabrina nahm ihn mit in ihr Zimmer.
Als er Marie-Luise küsste, wartete er vergebens auf den erotischen Zauber. Er war so schnell verschwunden, wie er einst gekommen war.

Don’t be a sex bomb, be free.

Doch Johnny grämte sich nicht lange, sondern sah es als Vorteil, dass er nicht mehr wie ein Kater hinter der Maus herjagen musste, sondern nun viel Zeit fand, sich dem Studium der Jurisprudenz zu widmen. Tag und Nacht büffelte er Paragraphen und so legte er ein meisterliches Examen ab. Aufgrund seines unermüdlichen Fleißes gelang es ihm, Einlass in die renommierteste Notar-Kanzlei am Ort zu finden. Die Klienten strömten vertrauensvoll zu ihm, wenn sie eine Immobilie erwarben und gingen zufrieden von dannen, nicht ohne ihn vorher fürstlich für seine Unterstützung entlohnt zu haben.
Das Geld sammelte sich an, da Johnny keine Gelegenheit fand, es auszugeben. Er vermehrte es außerdem geschickt durch die Anlage von Aktien. Zum Glück erwischte er keine Lehman-Zertifikate. Eine Zeitlang erfreute er sich wie Dagobert Duck an seinen Talern, aber er fürchtete auch die Panzerknacker oder zumindest die Steuer und die Inflation, die sein schönes Vermögen schmelzen lassen könnten, bevor er sein Geld in Träume umgetauscht hatte.

Forget your troubles about money, get free.

Daher entschied er, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Er erwarb eine Yacht und segelte von Kontinent zu Kontinent. Kein Hafen der Welt war ihm mehr fremd, kein Abenteuer, das er nicht erlebt hatte. Er entkam den Haien und den Krokodilen, den Wirbelstürmen und den Tsunamis, den Messern rivalisierender Bandenmitglieder, ja sogar der Drogenmafia, die ihn vergeblich als Kurier einzusetzen suchte. Er trotzte der Kälte und der Hitze, dem Hunger und dem Durst, und er erkannte, dass dies auf Dauer doch sehr anstrengend war. Auch bereitete ihm sein Rücken beim Hissen der Segel zunehmend Probleme.

Don’t be a fool. Life is not always an adventure.

So traf es sich gut, dass er die Bekanntschaft eines Verlegers machte, der ihn ermunterte, seine Abenteuer aufzuschreiben. Er habe genug Stoff gesammelt, um daraus schillernde Geschichten zu weben. Die meisten Menschen verbrächten ein recht langweiliges Leben und bräuchten zum Ausgleich ein bisschen aufs Papier gebrachte Phantasie. Er sei ein Glücksfall, da er alles aus erster Hand erlebt habe und nichts recherchieren müsse. Ganz wichtig für die Authentizität.
Johnny erlernte das Schreibhandwerk, konstruierte steile Spannungsbögen und ließ seine zappelnde Leserschaft, was das Ende betraf, bis zuletzt im Ungewissen. Seine Bücher landeten tatsächlich auf den Bestsellerlisten und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Nun jettete er von Paris nach London, von New York nach Tokio.
Überall warteten begeisterte Fans auf ihn, die unbedingt ihre Bücher von ihm signieren lassen wollten. Er konnte nicht mehr unerkannt durch die Strassen gehen. Selbst das Tragen einer Sonnenbrille nützte wenig.

Knowing everybody is worse than knowing the devil.
Johnny, be good to you!



Johnny spürte, dass er mal wieder am falschen Ende seines Lebens angekommen war.
Er änderte seinen Namen und stiftete den größten Teil seines Hab und Gutes der gemeinnützigen Stiftung: “Rettet die Nadelwälder!“ Er kaufte sich eine kleine Hütte mitten in
der bayrischen Bergwelt. Fortan wanderte er gut gelaunt und bar aller Rückenschmerzen durch den grünen Tann.
Endlich fühlte er sich so frei wie der Adler, der am Horizont seine Kreise zog.

So saß er eines Tages vor seiner Hütte, trank ein Glas frische Ziegenmilch, biss herzhaft einen Kanten von seinem selbst gebackenen Brot ab, strich sich über seinen immer länger werdenden weißen Bart, schaute auf die kahle Felswand und dachte:
Hans, was bist du doch für ein Glückpilz! Als Johnny warst du ein rechter Depp.

Einige Meter tiefer, am gleichen Tag.
Zwei Wanderer kraxelten die serpentinartige Passstrasse hoch.
Plötzlich sah Schorsch ein merkwürdiges Wesen.

„ Wos is’n dös für einer? Is dös der Rübezahl?“
„Na, dös is der Johnny Depp.”
“Glab i dir net. In der Zeitung schaut der fei anders aus.”
„ Na, net der. Der Johnny hoit, der Depp. Woist scho, der wo die Bücha g’schriebn hod.“
„Jo mei, wos mochtn der jetzta hia?“
„Meditieren. Wos woiß i. Mit die Großkopferten kennst di doch eh net aus.“

Letzte Aktualisierung: 31.05.2011 - 23.22 Uhr
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