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Endlich frei | Juni 2011

Der Zeitbefreite
von Gerhard Fritsch

Rede des Abgeordneten Julius Bezkron vor dem terranischen Parlament zur Einbringung einer Gesetzes-Novelle betreffend die Bestimmungen auf Gewährung von Schadenersatzansprüchen:

„Meine sehr verehrten Damen, sehr geehrte Herren. Der Fall Rhody Byran - ich nehme an, sie alle haben davon gehört oder gelesen - zeigt uns, dass wir dringend etwas unternehmen müssen, unsere Gesetze zum Schutze der Freiheit des Individuums sowie zum Schutze von Eigentum und eigentumsgleichen Rechten, die allesamt aus dem letzten Jahrtausend stammen, den Gegebenheiten unseres Zeitalters anzupassen.

Lassen Sie mich für jene, die nicht alle Einzelheiten kennen, den Hergang des Falles kurz zusammenfassen: Herr Rhody Byran, ein international höchst angesehener Raumpilot, war vor fünfzig Jahren von der ExoPlanTran Corporation beauftragt worden, zur Sonne Oxauri zu fliegen, um von derem dritten Planeten namens Xerxi extrasolare Lebewesen für verschiedene Zoos auf die Erde zu überführen. Nach dem anstrengenden Flug dorthin und weil die Fracht noch nicht ladebereit angeliefert worden war, gönnte sich Herr Byran - wer hätte es ihm verwehren wollen - ein paar freie Tage, in denen er sich den Planeten anzuschauen gedachte. Das widersprach in keinster Weise den Vertragsbestimmungen. Aus diesen paar Tagen aber wurden - man höre und staune - 45 Jahre. 45 Jahre für uns, für die ExoPlanTran, für die terranische Weltraumbehörde und für die Angehörigen und Freunde Rhody Byrans.

Wo aber war Herr Byran? Man hatte damals ganz Xerxi nach ihm abgesucht, doch obwohl die modernsten Ortungsgeräte eingesetzt wurden, und Byrans Beiboot, das er für den Ausflug benutzte, mit Signalgebern ausgerüstet war, die es selbst in 10.000 Metern Wassertiefe noch verraten hätte, wurden keinerlei Hinweise auf seinen Verbleib gefunden. Erst 45 Jahre später tauchte Herr Byran wieder auf. Oder besser gesagt: wurde er befreit. Wissenschaftler hatten nämlich mittlerweile herausgefunden, dass es beim Einsatz bestimmter Antriebsaggregate, mit denen auch Byrans Raumtransporter ausgestattet gewesen war, unter bestimmten Umständen – insbesondere beim Herabbremsen aus dem Hyperraum – zur Bildung von Zeit-Quanten-Clustern kommen kann, die vollkommen unsichtbar sind und eine zeitlang gewissermaßen in dessen Sog dem Raumschiff folgen, um sich dann auf einem festen Himmelskörper abzusenken. Die genaueren Details der Entdeckung und labortechnischen Erforschung dieses Phänomens möchte ich Ihnen hier ersparen. Erwähnt sei lediglich noch, dass im Laufe der Jahre auch Techniken entwickelt wurden, solche Zeitdomänen-Blasen, wie sie auch genannt werden, aufzuspüren und aufzulösen. Man erinnerte sich schließlich an den Fall Byran, fand und zerstörte die Domäne und befreite sodurch den darin Gefangenen. Herr Byran allerdings hatte über den Verlauf der letzten 45 Jahre keinerlei Erinnerung. Für ihn schien es, als sei er eben erst aus seinem Gleiter ausgestiegen, um ein paar holographische Erinnerungsaufnahmen zu machen. Und tatsächlich fand man ihn auch in einer Pose vor, in der er gerade den geeignetsten Blickwinkel für sein Vorhaben suchte. Sie müssen nämlich wissen, meine Damen und Herren, dass der Aufenthalt in so einer Zeitblase wie das Konservieren eines Augenblickes ist. Wie tiefgefroren in der Zeit. Die letzten Sekunden wiederholen sich immer wieder, wenn man in so eine Zeitblase gerät. Man macht immer wieder dieselben Bewegungen, empfindet, sieht und riecht immer wieder das Selbe. Nur wird es einem nicht bewusst, denn man denkt auch immer wieder das Selbe. Beachten Sie bitte, meine Damen und Herren, dass der Betreffende nicht irgend eine Handlung – ob bewusst oder krankhaft – immer wieder wiederholt, sondern dass die Zeit, in der er das tut, immer wieder von neuem beginnt. Die Zeit bleibt in solch einer Domäne also stehen, wenn man das so sagen kann. Herr Byran ist in diesen 45 Jahren deswegen auch um keinen Tag gealtert.

Soweit die Vorgeschichte. Aber nun – endlich frei sind wir geneigt zu sagen – begannen erst die Probleme für den Befreiten. Die ExoPlanTran Corp. verklagte Herrn Byran auf Ersatz der entstandenen Kosten für Anreise und Bezahlung eines Ersatzpiloten, der Kosten im Zusammenhang mit der Lieferungsverzögerung, dem Einsatz von Suchmannschaften sowie auf Rückzahlung des für ein ganzes Jahr weiterbezahlten Gehalts, und schließlich sogar auf Schadenersatz wegen erlittenen Vertrauensverlustes. Rhody Byran, argumentierten sie, hätte die Antriebsaggregate des Raumschiffes nicht vorschriftsmäßig bedient und somit die Zeitquantenabberation selbst schuldhaft oder zumindest grob fahrlässig herbeigeführt. Herr Byran, dessen Rechtschutzversicherungsbeiträge über all die Jahre von seinem Konto abgebucht worden waren, ließ sich durch Anwälte vertreten, die jede Schuld zurückwiesen, weil die Auswirkungen abweichender Bedienung der Bordinstrumente damals noch nicht bekannt waren und deshalb auch nicht ins Kalkül gezogen werden konnten.
Daraufhin änderte die ExoPlanTran ihre Strategie und erstattete gegen Rhody Byran Anzeige wegen Diebstahls eines Transportmittels – des Beibootes nämlich, mit dem er seinen Ausflug unternommen hatte. Auch damit hatte sie vor Gericht allerdings keinen Erfolg, da der Tatbestand der unerlaubten Entwendung nicht gegeben war und die Nichtauffindbarkeit des Gleiters nicht im Einflussbereich Rhody Byrans stand.

Die Anwälte Byrans verklagten nun ihrerseits die ExoPlanTran, weil diese ihren Klienten das Gehalt für 44 Jahre vorenthalten habe, und überdies auf Schadenersatz in achtstelliger Höhe wegen Freiheitsberaubung, die sie durch fahrlässiges Handeln billigend in Kauf genommen haben soll. Ersteres lehnten die Richter ab, da für Byran keine 45 Jahre vergangen waren, was durch den zellbiologischen Befund als erwiesen galt, ihm für diese Zeit also auch nichts vorenthalten worden sein konnte.

Hinsichtlich der Schadenersatzklage argumentierten die Verteidiger der Firma, dass Freiheitsberaubung erstens eine willentliche Handlung voraussetzen würde, was anzunehmen abwegig sei, und dass zweitens Herrn Byran ja gar kein Schaden entstanden sei, sondern eher ein Gewinn fantastischen Ausmaßes, nämlich das Geschenk eines 45 Jahre längeren Lebens.

Hierauf meldete sich Herr Byran zu Wort und monierte, die Herren Anwälte sollten sich doch einmal vorstellen, wie es wäre, wenn sie eines Tages nach Hause kämen und ihre Ehepartner, Eltern und Freunde gegenüber dem Vortag plötzlich um 45 Jahre gealtert vorfinden würden. Wenn sie das – so wie er – erlebt hätten, rief er ihnen zu, würden sie wohl auch seine Auffassung teilen, dass ihnen diese Zeit nicht geschenkt, sondern gestohlen worden war. Er stehe seit seiner Rückkehr in psychologischer Behandlung, kämpfe im Privatleben mit erheblichen Depressionen. Seiner Frau gegenüber fühle er sich wie deren Enkel und seinen Freunden gegenüber wie ein Grundschüler seinen Lehrern. Im Berufsleben habe er über Nacht einen Wissensrückstand hinnehmen müssen, der ihn als interstellaren Piloten konkurrenzunfähig mache und den er durch keine Weiterbildungsmaßnahme wettmachen könne.

Nun, meine Damen und Herren, ich glaube, sie sehen schon, welche Brisanz diese Thematik hat. All die Schönrederei über geschenkte Zeit, Erleben der Zukunft und verlängerter Lebenserwartung wiegt doch den Verlust nicht auf, den ein Individuum erleidet, das über viele Jahre hinweg unwillentlich und unwissentlich in der Zeit gefangen war.

Das Urteil über die Schadenersatzklage Byrans fiel trotzdem negativ aus. Nicht aus Mangel an Beweisen oder Einfühlungsvermögen der Richter, sondern wegen der Gesetzestexte, die Schadenersatz nur bei materiellen oder finanziellen Verlusten und bei physischen Schäden und deren Folgeerscheinungen vorsehen. Die Richter waren aber immerhin so nachsichtig, Herrn Byran eine Revision in höheren Instanzen nahezulegen, um sodurch gegebenenfalls eine Änderung der Gesetzesgrundlagen zu initiieren.

Und nun sind wir hier zusammengekommen, meine Damen und Herren, um diese Novelle zu beschließen und Menschen wie Herrn Rhody Byran, die durch Zeitraub geschädigt wurden, zu ihrem Recht zu verhelfen.
Ich hoffe auf Ihre Stimme.
Ich danke Ihnen.“

Letzte Aktualisierung: 06.06.2011 - 13.24 Uhr
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