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Endlich frei | Juni 2011

Angekettet
von Ingo Pietsch

Romus wurde brutal gegen die Bordwand des Schiffes geschleudert, als dieses von einer hohen Welle getroffen auf die Seite schlug.
Gleich darauf zog es ihn in die andere Richtung.
Vor und hinter ihm übergaben sich seine Mitgefangenen. Es roch nach Urin, Erbrochenem, Pferdemist und Blut.
Die dicken Blutergüsse unter den Handschellen schmerzten. Es gab kaum eine Möglichkeit, sich an den Sitzbänken festzuhalten. Eine lange Kette lief zwischen den Fußfesseln der Gefangen entlang.
Die Peitsche der Wärter knallte über den Köpfen der Ruderer, häufiger noch auf ihren Rücken. Schnell erstarb das ängstliche Schreien auf den Bänken,
Die Talgkerzen flackerten unheimlich bei jedem neuen Wellengang.
Romus hatte die Augen geschlossen und betete zu Neptun, er möge das Schiff verschonen, damit er seine beiden Kinder und seine Frau wiedersehen konnte. Romus war ein einflussreicher römischer Kaufmann gewesen, ehe Freibeuter sein Schiff gekapert und versenkt hatten. Nur er und sein erster Offizier hatten das Gemetzel an Bord überlebt und sich anschließend angekettet auf dieser Galeere wiedergefunden. Romus` Gefährte war schon beim ersten Fluchtversuch vor allen anderen Gefangenen hingerichtet worden. Seitdem hatte niemand mehr versucht, zu entkommen.
Das Atmen fiel Romus in dieser stickigen Hitze schwer. In Trance bekam er das Auf und Ab der Wellen mit. Auch ihm war speiübel.
Der langgezogene Schrei eines Ruderers ebbte abrupt ab, als die losgerissene Transportkiste, die der Mann auf sich zufliegen sah, seinen Kopf zertrümmerte.
Ein großer Schwall salzigen Wassers ergoss sich in den Laderaum.
Meerwasser brannte in Romus Wunden.
Die Freibeuter schrien sich Befehle zu. Völlig überfordert verständigten sie sich mit wilden Gesten.
Panisches Wiehern drang vom vorderen Laderaum an seine Ohren.
Eines der Tiere hatte sich losgerissen. Mit weitaufgerissenen Augen sucht es ängstlich nach einem Ausgang.
Ein Freibeuter versuchte, das Tier zurückzudrängen. Das Pferd bäumte sich auf und trat nach dem Mann. Es verlor den Halt und stürzte dabei in die Reihe der Ruderer, die sich ebenfalls an die Schiffswand gepresst hatten. Die fünfhundert Kilo erdrückten Wärter und Ruderer gleichzeitig. Ein weiterer Wärter rannte herbei und zog seinen Säbel durch die Kehle des Pferdes. Blut spritzte alle Richtungen.
Das Schiff machte einen gewaltigen Satz nach unten. Zwei der Stützpfeiler brachen und erschlugen den Wächter, der den blutverschmierten Säbel hielt. Das Hauptdeck sackte einen ganzen Meter ab. Erneut ergoss sich Salzwasser in den Laderaum, brachte frische Luft mit sich.
Romus konnte wieder klarer denken.
Einige der Mitgefangenen weinten, andere rissen hysterisch an ihren Fesseln.
Donner und lautes Wellengetöse übertönten alles.
Das Schiff fiel mit dem Bug in die Tiefe. Alles, was nicht befestigt war, flog Richtung vorderen Laderaum. Noch mehr Männer wurden erschlagen oder eingeklemmt.
Einen Moment fühlte sich Romus schwerelos. Seine Gedanken hingen an dem letzten Tag, an dem die Ruderer an Deck gehen durften. Nachdem sie die Kanaren passiert hatten, kamen sie eine Woche später an einer Inselgruppen mit Namen Atlantis vorbei. Romus hatte die Wärter schon oft davon reden hören. Er allerdings hatte vorher noch nie davon gehört. Die Atlanter blieben unter sich und betrieben keinen Kontakt mit dem Festland.
Aus weiter Ferne konnte Romus weiße hohe Türme erkennen, auf denen riesige Kristalle angebracht waren.
Der Kapitän erzählte ihm und den anderen, dass, wenn ein Schiff sich der Küste näherte, es von einem hellen Strahl in Brand gesteckt wurde. Was den Schiffsführer allerdings noch mehr beunruhigte, waren mehrere Vulkane im Landesinneren, die bedrohlich rauchten.
Romus wurde wieder in die Gegenwart gerissen.
Das Schiff war senkrecht gegen eine Felsenwand geworfen worden und hing mit dem Heck nach oben daran fest.
Romus klammerte sich an ein Ruder, das sich zwischen zwei Bänken verkeilt hatte. An der Kette, die durch seine Fußfesseln verlief, hingen noch drei Sklaven. Das untere Ende baumelte lose in der See. Blitze erhellten den jetzt halbierten Laderaum.
Das zusätzliche Gewicht würde das Ruder nicht lange halten können.
Romus sah Sterne vor seinen Augen. Seine Arme schmerzten, ihn verließen die Kräfte. Das Holz ächzte um ihn herum, doch er nahm es kaum wahr. Dann brach es und die Kette ratterte durch seine Fesseln nach unten. Eine Talglampe folgte den Sklaven wie ein verirrtes Licht.
Romus sah kurz nach unten und konnte die zerschmetterten Körper der Männer sehen, ehe die nächste Welle sie fortspülte.
Mit einer letzten Kraftanstrengung zog er sich auf seine Bank hoch. Er lehnte sich an die Außenwand und schlief zitternd vor Kälte irgendwann ein. Er träumte davon, mit seinen Kindern über die Wiesen seines Anwesens zu laufen, seine Frau in die Arme zu nehmen, ihre Wärme zu spüren.
Etwas Hartes schlug ihm ins Gesicht. Mit einer reflexartigen Bewegung wischte er den Fremdkörper von seinem Kopf weg. Kreischend flog eine Möwe in den Himmel, die nach ihm gepickt hatte.
Vorsichtig sah sich Romus um: der Sturm war vorbei. Die See war blau und glatt, als würden sich die Wellen unter der Oberfläche verstecken.
Über ihm kreisten noch mehr Möwen.
Er blickte nach unten. Der Bug der Galeere war verschwunden. Nackter vulkanischer Felsen befand sich dort, wo einstmals der vordere Laderaum gewesen war.
Durst überkam ihn.
Mit schmerzenden Armen und Beinen kletterte er durch die offene Luke über ihm. Dort hoffte er etwas Trinkbares zu finden. Egal, ob Wein oder Wasser.
Romus musste sich übergeben. Ein Wächter hing mit weit aufgerissen Augen von einem halben Dutzend Speeren aufgespießt an der Wand.
Romus suchte weiter nach etwas Flüssigkeit. Im Augenwinkel sah er immer den Toten.
Seine Suche war erfolglos. Sämtliche Gefäße waren während des Sturms zerstört worden. Aber er fand eine Axt. Mit ihr könnte er seine Fesseln zerschlagen, um von dem Wrack wegzukommen. Die kurzen Ketten würden ihn nur behindern. Schlösser besaßen sie nicht, sie waren einfach zusammengeschmiedet worden.
Die Fußkette war kein Problem gewesen. Aber für die Hände konnte er nicht weit genug ausholen. Bei jedem Schlag verrutschte die Kette und er musste aufpassen, sich nicht die Hand abzuschlagen.
Er hob die Axt weit hinter den Kopf und hieb zu. Als die sie traf, schrie er so laut auf, dass sogar die Möwen über ihm das Weite suchten. Glühend heiße Funken brannten ihm auf den Armen, aber die Kette war durchtrennt.
Jetzt konnte er sich freier bewegen.
Er kämpfte sich weiter nach oben. Das Deck der Galeere war ebenfalls abgerissen worden.
Als er auf der Heckaußenseite angekommen war, vibrierte das Wrack und löste sich schließlich vom Felsen.
Mit einem blinden Sprung rettete sich Romus auf das Gestein.
Das Schiff prallte auf und zersplitterte. Alle Reste versanken im Meer.
Romus stemmte die Hände auf die Hüften und atmete tief durch. Endlich war er wieder frei.
Er schickte ein Dankgebet an Neptun, dass er ihn verschont hatte. Doch die Euphorie schwand langsam, als er sich auf der Rettungsinsel umsah.
Der Fels, auf dem er stand war kaum größer als die Galeere selbst. Er beugte sich vor und erblickte nichts als Wasser.
Er konnte kaum das Meer vom Himmel unterscheiden. Egal, in welche Richtung er schaute, es war einerlei. Die Freiheit forderte einen hohen Preis.
Als die Sonne höher wanderte, fing Romus an, die armen Seelen zu beneiden, die zwar schmerzhaft, aber schnell ihren Frieden gefunden hatten.
Er setzte sich, senkte sein Haupt und wartete auf ein Wunder…

Letzte Aktualisierung: 26.06.2011 - 09.45 Uhr
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