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Endlich frei | Juni 2011

Im Moment
von Jule Anders

Der lauwarme Wind weht so stark, dass mein Eis in der Waffel schneller schmilzt, als ich es essen kann. Zwischen meinen Füßen hat sich eine kleine Lache von flüssigem Vanilleeis gebildet, in der Schoko- und Haselnusstücke schwimmen. Die Palmen an der Strandpromenade sind klug und geben nach.

Der Wind fegt eine Menükarte vom Tisch eines Straßencafés, der Kellner läuft hinter ihr her und fängt sie nach einigen Metern ein. Er legt das Menü zurück und beschwert es mit einem Zuckerstreuer. Danach steckt er sich sein weißes Hemd wieder ordentlich in die Hose.

Ich schlecke das Eis mit dem Wind um die Wette und stehe von der grünen Bank auf. Ein letzter Blick auf das Meer und ich biege in eine der vielen Gassen ein, die mich weg vom Strand mitten in die Stadt zu den alten Männern führt.

Menschen gehen in meine Richtung oder kommen mir entgegen. Eine Frau mit rotem Rock und zwei Tüten an jeder Hand streift mich an der linken Schulter und schaut nicht hoch. Ich rieche gebratenes Gemüse und papa arugada. Das Mädchen hinter mir trägt süßes Parfüm.

Ein Laden reiht sich neben den nächsten, aus den Schaufenstern winken mir bunte Plastikkatzen zu, ihre rechten Arme wackeln hoch und runter, hoch und runter, hoch und …

in den oberen Etagen der Häuser liegen Wohnungen, an den Außenwänden hängen Kästen mit Ventilatoren, oberirdische Stromleitungen schlängeln sich von Haus zu Haus. Aus den offenen Fenstern dringen Stimmen, die etwas sagen, das ich nicht verstehe. Die Frau oben links klingt wütend. Der Mann, als ob er die Aufregung nicht versteht.

Jede Calle führt zum großen Platz. Dunkelheit hat sich über die Stadt gelegt, doch die Straßenlaternen spenden genügend Licht, um spielen zu können. Die Plaza ist gesäumt von Tischen, an denen je zwei Männer um ein Schachbrett sitzen.

Meine Flip-Flops klatschen auf die kleinen eckigen Steine, mit denen der Platz gepflastert ist, auf meinen Füßen hat sich Staub abgesetzt. Ich gehe an das linke hintere Ende des Platzes und sehe ihn schon von weitem. Mein alter Mann hat seine Baskenmütze auf und einen Zigarillo zwischen seinen Lippen.

Er hebt zur Begrüßung beide Arme in die Luft und lacht mir zu. Ihm fehlt der rechte Eckzahn, seine Haut ist dunkelbraun, sonnengegerbt und mit Falten verziert. Ich würde die Falten gerne mit meinem Zeigefinger nachziehen.

Ich erwidere sein Lachen, stelle mich an meinen Stammplatz schräg hinter ihn und schaue ihm beim Spielen zu. Er gewinnt. Und gewinnt. Ein Gegner legt den König bedächtig hin, als wolle er ihm nicht wehtun. Ein anderer schmeißt ihn um, als sei nicht er, sondern die schwarze Figur Schuld an der Niederlage.

Zum Abschied winke ich meinem alten Mann zu, gehe zurück über den Platz, schlendere durch die Gassen zu meinem Stammlokal. M. steht mit seinen Freunden rauchend davor. Er lächelt mich an, „hola preciosa“, ich fühle seine Stimme in meinem Bauch, halte seinen Blick für einen Moment, gehe rein, setze mich an die Theke und bestelle einen Gin Tonic bei Alessandro. Er fragt, wie es mir geht, „How are you?“, „Good, how are you?“, „Yeah, good, thanks“, sein Englisch klingt spanisch. Er stellt eine kleine Schale Nüsse auf den Tisch und zwinkert mir zu.

M. öffnet die Tür, bringt Wind mit, der nach Rauch und Aftershave riecht. Er setzt sich neben mich an die Theke und betrachtet mich. Wir sprechen nicht dieselbe Sprache und verstehen uns gut. Ich nehme einen Schluck, das Eis klackert im Glas, Gin und Tonic rinnen meine Kehle hinunter, auf der Zunge bleibt ein bitterer Geschmack. Ich drehe den Barhocker zu M., halte mein Glas mit beiden Händen im Schoß, erwidere seinen Blick und mir wird warm. Ich beuge mich zu ihm, er kommt mir entgegen, seine Lippen schmecken nach Meer, seine Zunge nach Rauch. „Wanna go?“, er nickt, ich lege Geld auf den Tresen, nehme seine Hand, nehme ihn mit, mit zu mir.

Ich gebe ihm und mir ein Bier aus dem Kühlschrank, schiebe die Balkontür auf, die Promenade liegt unter mir, das Meer vor mir. Wir trinken im Dunkeln, schauen über die Balustrade aufs Wasser, ab und zu küsse ich ihn. Er schmeckt nach Bier, ich auch.

Die Balkontür lasse ich geöffnet, nehme ihn mit ins Schlafzimmer, der Wind bläht die Gardinen auf. Er zieht sich im Stehen sein Shirt aus und mir lässt er nichts an. M. küsst meinen Nacken, meine Brüste, meinen Bauch, kommt wieder hoch, küsst mich auf den Mund, er schmeckt nach mir. Ich streiche ihm durch seine dunklen Haare, öffne seine Hose, plopp, plopp, plopp, und ziehe ihn aufs Bett. Ich reite ihn und höre das Meer rauschen. Er umfasst mit seiner Hand meine Schulter, mit der anderen meine Hüfte und schiebt mich von sich, um mich mit dem Rücken auf mein weißes Laken zu legen. Ich lasse ihn machen, lasse mich nehmen und spüre den Wind auf meinem Schlüsselbein.

Wir liegen da, mein Kopf auf seiner Schulter, mein rechter Zeigefinger malt Kreise auf seine Brust. Ich drehe mich um, nehme das Bier vom Nachttisch, trinke einen Schluck, es ist warm. M. scheint zu schlafen, ich rüttele ihn, „I wanna dance!“

Wir gehen durch Straßen, die ich nicht kenne, die Stadt ist hellwach, M. bringt mich zu seiner Stammdisko, wir lassen die wartende Schlange links liegen. Der Türsteher wechselt Worte mit M., der lacht, schaut mich an, nimmt meine Hand und zieht mich die Treppe hinunter, hinein in die Beats. Es ist dunkel, es ist voll, an der Theke steht ein Freund von M., ich löse meine Hand von seiner und gehe auf die Tanzfläche.

Ich lasse mich treiben, hebe die Arme, schließe die Augen, tanze, spüre die Schweißtropfen, die zwischen meinen Brüsten hinunterperlen, tanze, fühle die Beats in meinen Füßen, in meinem Bauch, in meiner Brust, tanze, spüre die anderen um mich herum, tanze, fühle das Lächeln auf meinen Lippen, tanze, drehe mich im Kreis, tanze.

Die frische Luft kühlt meine Wangen, ich atme tief in den Bauch, am Horizont sehe ich leises Licht, ein langer Kuss vor meiner Tür, adiós M.

Ich lege mich ins Bett, decke mich mit einem Laken zu, lecke über meine salzigen Lippen, das Meer kommt und geht, ich schließe die Augen, spüre meinen schweren Körper, werde müde, bin …

Version 3

Letzte Aktualisierung: 23.06.2011 - 16.24 Uhr
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