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Endlich frei | Juni 2011

Mich gibt es nicht
von Asla Kant

Imām beten. Imām rufen. Imām sagen mā Å¡ā´allāh …

Irgendwann ich damals verstanden, was bedeutet das. Imām sagen was Gott will, jeden Tag und jede Nacht und ich will nicht hören, habe diesen Bastard schon als Kind verflucht …


Hände suchen Halt, greifen ins Leere, erfassen Schuhe, Haare, lange Haare, welche sich ganz leicht nebst Klebestreifen vom Kopf lösen.

Jetzt bin ich wach. Einstiche in meiner rechten Armbeuge, eine Perücke und die leere Ampulle Pentothal erleichtern nichts. Gelebtes Leben, weder abrufbar noch zensiert, sondern fragmentiert, in kleinen Portionen serviert, hinterlässt Orientierungslosigkeit und zähen Speichel in meinem Mund. Ich presse den Schmant durch meine Kehle, schaue liegend über meine Schulter zum Fenster, während sich der Rest meines Körpers unter einem Laken versteckt.

Es ist warm. Ich nötige meinen Körper aufzustehen und bemerke, dass ich auf dem Boden herumkrieche. Durch das Fenster der Eingangstür dringt Licht aus dem Treppenhaus in die Wohnung. Meine Wohnung? Stimmen folgen. Kein Wunder, die Tür ist alt, undicht und bietet die Sicherheit einer Kaffeefiltertüte. Nicht Deutsch, sondern arabische, kurdische und türkische Wortfetzen gelangen an mein Ohr. Der Wind trägt den Duft von Gewürzen, Baumharz und Salzwasser durch das offene Fenster. Ich atme tief ein und die Eindrücke landen wie Magma auf Eis. Zu feige, die Vorhänge beiseite zu schieben, weiß ich, wo ich bin.

Ich warte, sitze auf dem Boden, starre die Uhr an. Ich sitze auf dem Boden, starre die Uhr an und warte. Ich starre die Uhr an, warte und sitze auf dem Boden. Mein Schweiß zeichnet feuchte Schatten auf den Holzdielen. „Du hast schon mal besser gerochen.“ Seltsam, meine eigene Stimme zu hören. Fremdartig klingt sie. Endlich bewegt sich mein Körper.

Jemand betritt das Treppenhaus. Ich verfolge die Schritte bis ins obere Stockwerk und dann … passiert nichts.

Ich krieche in die Küche. Auf einem Sessel liegt eine Jeans, in der ich ertrinken würde. Meine Nase drückt sich in die Kleidung, die zu meinem Erstaunen streng, aber dennoch einladend riecht und für weitere Unklarheit sorgt. Ich stehe auf und suche. Nach was? Meine Hände durchwühlen einen Stoffbeutel, finden gebündelte Scheine, ich zähle nicht. Fotos und Gesichter strahlen mich an. Ich erkenne niemanden. Meine Linke zieht einen Pass heraus. Dann einen zweiten, einen dritten. Ich starre auf Fotos und Ausweispapiere. Mir wird schlecht. „Allah, wer sind die?“ Vor dem Spiegel im Bad halte ich einen deutschen und einen russischen Pass neben mein Gesicht und sehe das Unvermeidliche, trotz kahl geschorenem Schädel: Übereinstimmung.

Vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte ich meine Sippe zurückgelassen und war mit meiner Tante nach Deutschland geflohen. Verstand zerlegt sich, löst sich auf in einem Meer von Angst und will davonfließen. Und dennoch versucht sich ein Teil meines Selbst auf kleinen Inseln aus Banalitäten zu retten, um nicht im Wahnsinn zu ertrinken.

Imām rufen allāhu akbar.

Unter einer warmen Dusche überschlägt sich mein Übersetzungsmodus. Keineswegs, durchaus nicht, nicht vorhanden. Niemals. Die Übersetzung meines Namens gibt mir den Rest. Papiere fallen mir aus den Händen, liegen in der Badewanne. Ich schiebe mein Shitholefucking-Hirn beiseite und schlüpfe in unauffällige Bekleidung. Gegenstände auf und unter dem Schreibtisch buhlen um Aufmerksamkeit. Hunderte CD´s, zwei Computer, ein Laptop, zwei mobile Festplatten, eine Digitalkamera, zwei Handys. Am Stuhl angelehnt eine Reisetasche. Ich greife instinktiv hinein und berühre etwas Vertrautes. Shotgun-Equipment. Walther und Co einschließlich Munition fühlen sich gut an.

Während ich im Flur auf und ab gehe, stehenbleibe, meine Hand nach der Türklinke greift, loslässt, wieder zugreift und abrutscht, frage ich mich, warum mir eine deutsche Polizeipistole und eine Pump mehr vertraut sind als mein Gesicht und mein Name. Eine Antwort folgt schnell, ist Auslöser, potenziert Angst, beschleunigt jede Bewegung. Eine Faust durchschlägt das Glas der Kaffeefiltertüten-Tür und landet in meinem Gesicht. Ich küsse den Boden, schmecke Blut, springe auf, und spüre, wie meine Faust auf die Knochen eines vermummten Gesichtes einschlägt und sich sofort wieder zurückzieht. Wenig Zeit, jetzt, ganz wenig. Ich stopfe mobile Hardware in die Reisetasche, als die Tür unter Tritten nachgibt und mich eine Automatik als Ziel erfasst. Mein Sprung aus dem Fenster und Schüsse erfolgen zeitgleich. Streifschüsse an Kopf und Schulter aktivieren einen schlafenden Kompass, der mir die Straßen der Provinz Artvin wie blutrote Venen eines sterbenden Organismus offenbart. Ich renne den Berghang hinab auf den Stadtkern Hopas zu. Zwischen Bäumen und Häusern, auf trockenen Wiesen und auf Asphalt haben sich Menschen schützend über die Körper von Kindern geworfen. Mein Lachen erleichtert mich, übertönt die Stimme des Imam und gleicht einer abstrakten Krönung des heutigen Schlachtfestes. Ich rieche das warme Blut frisch geschlachteter Lämmer an den Händen des Metzgers, der vor meinen Augen getroffen zusammenbricht.

Nicht zum ersten Mal lasse ich ein Gemetzel zurück. In der Nähe der Küstenstraße verlassen mich meine Kräfte. Ein Straßenschild spendet Halt. Meine Reisetasche macht komische Geräusche. Ich drücke den grünen Knopf eines Handys. Eine sanfte Frauenstimme spricht Arabisch. Ich liebe diese Stimme und als ich antworten will, zertrümmert meine Hand das elektronische Medium mit einem Schlag.

Vor mir breitet sich das Schwarze Meer aus. Der Anblick fesselt mich. Ich atme Freiheit. Mir wird heiß und kalt, so köstlich schmeckt sie. Verdammt! Die Zeit reichte, um mich zu orten. Mit einem braunen Kopfkissenbezug aus meiner Reisetasche wische ich mir grob das Blut ab und binde mir den Bezug um den Kopf. Es dauert nicht lang, bis ein Dolmuş hält. Das Standardexemplar eines Sammeltaxis ist auf dem Weg zur Grenze und bereits jetzt überfüllt. Meinen Blick gesenkt, verschwinde ich zwischen verschwitzten Leibern. Nicht in der Lage, Mimik und Speichelfluss zu kontrollieren, entscheidet sich mein Körper für einen Alleingang. Mageninhalt landet im Seitenfach meiner Reisetasche. Das Motorengeräusch des alten Diesels und das ständige Gebrabbel schwängern den überfüllten Innenraum. Als ich mich bücke und den Reißverschluss zuziehen will, legen sich alte Hände auf den Lauf meiner Beretta. Blinde Augen schenken einen Moment der Klarheit. Ich will schreien. Mein Gesicht wird zu Stein.

Schleichfahrt, da alle paar Minuten jemand aussteigt. Kemalpaşa liegt hinter mir. Es ist nicht mehr weit bis zur Grenze.

Todesangst und Überlebenstrieb paaren sich zu einem Grundrauschen im Verstand, welches den bekömmlichen Rahmen übersteigt. Drei Stimmen, zwei davon senken meinen Puls, die des arschgeleckten Betbruders ist so überflüssig wie Scheiße unterm Schuh.
Nimm die Wege abseits der Wege, flüstert meine Tante.
Mein Fluchtplan-Dauerecho folgt: Georgien, Russland, Finnland, Norwegen, Dänemark, Deutschland ….
So Gott will, bestätigt Imām.

Halt doch die Fresse, du Fuck!


Mir wird bewusst, dass ich sitze. Bis auf zwei Fahrgäste sind alle anderen ausgestiegen. Ich beobachte eine Frau in Niqab und Tschador, die ihren Rachen mit Eistee verwöhnt. Sie hört mich atmen, nickt mir zu und hält mir die halb gefüllte Flasche hin. Ich will das nicht annehmen. Doch eine Sekunde später höre ich mich schlucken. Meine Lippen saugen wie die eines ausgehungerten Säuglings an der Mutterbrust und es schmeckt unsagbar gut. Ich verschlucke mich, als sich die verschleierte Frau befehlsartig an den Fahrer wendet. Ihr Türkisch ist schlecht und der persische Akzent nicht zu überhören. Ihre Hände, die in schwarzen Handschuhen stecken, übergeben einen Stapel Scheine an den Beifahrer, der sich wie ein Lakai vor ihr bückt. Ihre geschmeidigen Bewegungen erinnern mich an Katzen. Zurück an ihrem Platz wendet sie sich an mich. „Verzeih, ich möchte mich erleichtern und waschen, bevor ich meinem Mann begegne. Das verstehst du, nicht wahr?“ Ich bin fassungslos, sie spricht Deutsch. Das kümmerliche Areal um ihre dunklen Augen, welches ihre Niqab nicht bedeckt, zeigt kleine Lachfältchen.
Wenige Kilometer vor Sarp verlässt der Fahrer die Küstenstraße und biegt in eine Schotterpiste. Niemandsland. Spärlich besiedeltes Ödland, Gebirge und Wildnis. All das rückt in den Hintergrund. Ihre Augen vereinnahmen mich. Langsam zieht sie ihre Handschuhe aus, nimmt ein Erfrischungstuch aus ihrem Beautycase, setzt sich neben mich, löst das blutdurchtränkte Möchtegern-Kopftuch von meiner Stirn und kühlt meine angeschossene Schläfe. Während sie das tut, sauge ich den Duft ihrer Hände ein. Einfach nur gut.

Als meine Zunge über ihren Mittelhandknochen fährt, öffne ich die Augen. Es ist still geworden. Fahrer und Beifahrer verlassen das Fahrzeug. Mein Blick heftet sich auf den Speichelrest am Mittelfinger ihrer linken Hand, bevor sie ihren Handschuh überstreift. Meine Kindheit zieht in berauschender Geschwindigkeit an mir vorbei. In der Koranschule hatte meine Schwester den Imam angespuckt, als er mich schlug. Dafür war sie mit dem Verlust ihrer Mittelfingerkuppe belohnt worden.

Meine Hand zieht die Pump und meine Schwester ihren selbst geschmiedeten Halbmond. Ich schieße nicht auf sie, sondern auf die vermummte Gestalt, die in diesem Moment das Fahrzeug betritt und sich die Sturmhaube vom Kopf reißt. Mein Bruder stirbt durch meine Hand und hat auch im Angesicht des Todes nur Verachtung für mich übrig. Ich ziele auf meine Schwester, die auf mich herabblickt. Sie löst ihre Niqab und versenkt ihren Halbmond in meinem Hals. Dabei lächelt sie, nimmt mich in ihre Arme und wiegt mich. „Dich gibt es nicht. Stirb endlich!“, schreit sie, als ich abdrücke. Die Schüsse zerschmettern das wunderschöne Gesicht vor meinen Augen. Ihr Blut strömt wie warmer Regen auf mich ein …

©anahtar.E70.bağımsız

Letzte Aktualisierung: 26.06.2011 - 21.01 Uhr
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