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Endlich frei | Juni 2011

Ohne Umhang
von Dominik Schmeller

Das Echo donnerte durch die Säulenhalle, als er die hohe Doppeltüre zuknallte. Mit Getöse hatte er die Pforte zur Zauberakademie zum letzten Mal hinter sich geschlossen – diesmal für immer.
Eine große Tasche aus dunkelgrünem Leinen barg seine Habseligkeiten und ihr Riemen schnitt ihm tief in die linke Schulter.
Er wusste ganz genau, wohin er wollte, und so scherte er sich nicht um das Gepäck, das ihm die Haltung ruinierte. Sein Ziel war nicht weit, ein zweistöckiges Fachwerkhaus zehn Minuten von hier. Dort war er jede Woche auf seinem Weg zwischen Akademie und Fischmarkt vorbeigekommen, wenn er sich eine Djunga-Fischsemmel auf dem Markt gekauft hatte.
Eines Abends, inzwischen mochte es einen Mond her sein, hatte Kribus an diesem Haus ein Schild hängen sehen. Und genau wegen dieses Schildes pilgerte er jetzt zu dem Fachwerkhaus, in dem ein Schuster seinen Laden hatte und das von einer Hofdurchfahrt in der Mitte durchbrochen war.
Er ließ die protzigen Gebäude aus grauem Stein hinter sich, ohne zurückzublicken. In den fünf Jahren seiner Ausbildung hatte er sie oft genug gesehen. Er erinnerte sich noch, wie er damals als Knabe die hohen Türme zum ersten Mal bestaunt hatte, die sich schwarz und geheimnisvoll in den Himmel schraubten.
Heute wusste er, dass dort in den Türmen die fünf weisen Sorkari lebten, die Leiter der fünf Bereiche der Akademie: Verständigung, Heilung, Bewegung, Einfluss und Kampf.
Er war mit einfacher Lederhose und schwarzem Leinenhemd bekleidet. Es war ein ungewohntes Gefühl, den grauen Umhang der Schüler nicht mehr zu tragen. Kurz kam Kribus in den Sinn, dass er den Himmelblauen der Magier nun niemals würde tragen dürfen. Doch war er darüber nicht traurig.
In Wahrheit hatte es Kribus schon immer als lästig empfunden, einen Umhang zu tragen. Besonders wenn Wind wehte – es genügte schon eine laue Brise – schlackerte einem der Stofffetzen vor der Nase herum, oder man trat versehentlich drauf und bekam eine Lektion des Nestleiters, der einen zusammenstauchte, weil alles voller Schlamm war. Welch Beleidigung für den ehrenvollen Stand eines Zauberers!
Obwohl die Hauptstraße erst später abzweigte, bog Kribus bei erster Gelegenheit rechts in eine schmale Gasse ein. Er hatte das Gefühl, dass die blanken Fenster der Akademie ihn mit ihren Blicken verfolgten.
Er seufzte. Es war Lebwerk gewesen, der Leiter des Nestes, zu dem Kribus gehörte, der ihn auf dem Dachboden erwischt hatte. Was er alles hatte zurücklassen müssen. Natürlich war nach der Zerstörung nicht mehr viel heil geblieben, dennoch fand sich vielleicht noch ein besonders gelungenes Gesicht mit intakter Aura dort oben. Ihm war klar, dass die Akademie genug Möglichkeiten besaß, unerwünschte Besucher fernzuhalten. Auch wenn Kribus viele dieser Mittel und Wege kannte, gab es sicher noch hundert Mal mehr. Es war eigentlich unmöglich, in die Akademie einzubrechen. Er musste sich mit dem Gedanken abfinden, dass der Inhalt der Tasche auf seiner Schulter alles war, das er in sein neues Leben mitnehmen konnte.
Er kam an einem kleinen Park vorbei, in dem er im Winter oft zusammen mit den Schülern aus seinem Nest im Schnee getobt hatte.
Der Gedanke an den Schnee brachte Erinnerungen an die vielen Winternächte, an denen er in den zugigen Zimmern unter einer Wolldecke gelegen und immerzu gefroren hatte. In dem großen Schlafsaal seines Nestes stand nur ein kleiner Ofen, der sein bisschen Wärme geizig für sich behalten wollte.
Wie Kribus die Regeln verfluchte, die es verboten, Zauberei zur eigenen Bequemlichkeit einzusetzen. Oft hatte er sich damals zitternd vorgestellt, wie er einen großen Glutball an die Decke steigen ließe, der wie die Sonne selbst, den Raum mit seiner Hitze überflutete.
Die Regeln waren es, die vorschrieben, dass in jedem Schlafsaal der Schüler nur fünf Holzscheite pro Nacht verfeuert werden durften. Die Regeln waren es auch, die den Lehrern erlaubten, ihre eigenen Zimmer behaglich warm zu heizen. Die Regeln waren es, die Kribus verabscheute.
Ach, das Leben in der Akademie war ihm schrecklich vorgekommen, ohne Sinn, ohne Ziel, bis zum Frühling dieses Jahres, in dem er seine Leidenschaft entdeckt hatte.
Alles begann mit einem armlangen Stück Holz. Er fand es unter einem Busch in dem Park. Für alle anderen mochte es unscheinbar aussehen, doch Kribus sah darin den Kopf eines grimmigen Drachen. Noch gefangen im Holz, man musste ihn nur herauslassen. Also stahl er ein Messer in der Essensstube und schlich sich nachts mit einer Kerze auf den Dachboden, um an dem Drachenkopf zu schnitzen. Er legte alle Mühe hinein, arbeitete jede feine Linie aus dem Holz heraus und war dennoch mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Es blieb immer noch nur ein Stück Holz. Da ließ er – einem Gefühl folgend – ein bisschen Magie aus sich herausfließen und erschuf eine neuartige Aura, speziell für die Schnitzerei, wie er sie zuvor nirgends gesehen hatte.
Als er den Drachenkopf nun betrachtete, wirkte er plötzlich nicht mehr wie ein bloßes Stück Holz, sondern sah Kribus aus lebendigen Augen an, die golden schimmerten und von denen man dachte, sie könnten jeden Moment blinzeln.
Der Drachenkopf blieb nicht das einzige Stück, das Kribus nachts auf dem Dachboden schnitzte und hinter einer staubigen Truhe versteckte. Er fertigte Köpfe anderer Wesen an, schließlich von Menschen, auch ganze Statuen schnitzte er. Alle versah er mit dem neuen Zauber, alle wirkten lebendig und Kribus ging das Herz auf, wenn er sie im Kerzenschein bewunderte. Ihm war durchaus bewusst, dass er gegen nicht nur eine der vielen Regeln der Zauberergilde verstieß, darunter auch die Oberste aller Regeln: Zauberei nicht für das eigene Vergnügen einzusetzen. Hätte er seine Schnitzereien aber auf dem Markt feilgeboten, war er sicher, dass sich die Leute um seinen Stand geschart und ihm gerne Säckchen voll Betumen für seine Kunstwerke bezahlt hätten.
Doch dann passierte, was eines Tages passieren musste. Inzwischen war ein halbes Jahr vergangen, seit er den Drachenkopf geschnitzt hatte. Es geschah letzte Woche, als er sich wie jede Nacht auf den Dachboden schlich und die Statue hinter einem Balken hervorholte, an der er gerade arbeitete. Er nahm das Messer zur Hand und setzte es zum Schnitzen an, als die Tür zum Speicher aufgeworfen wurde und Nestleiter Lebwerk hereinstürmte.
Sobald dieser erkannt hatte, was vor sich ging, gab er Kribus nicht einmal die Gelegenheit, die Sache zu erklären, sondern stieß ihn zur Seite, ließ Blitze und Flammenstöße aus seinen Händen zucken und zerstörte damit sämtliche Schnitzereien. Kribus konnte nur zusehen, wie sein Werk vernichtet wurde, unfähig etwas zu unternehmen.
Es folgten eine Woche Gespräche mit den anderen Nestleitern, den Direktoren, sogar mit den weisen Sorkari, was mit dem aufrührerischen Schüler geschehen musste, der sich mit Dingen beschäftigte, die einem Zauberer nicht anstanden und die nach einhelliger Meinung der Akademie reine Zeitverschwendung waren.
Am Ende waren sie sich einig: Kribus durfte zwar bleiben, musste aber schwören, niemals wieder ein Messer anzufassen, um damit ein Stück Holz zu bearbeiten. Das Wort »schnitzen« wollte niemand von ihnen in den Mund nehmen.
Sie verstanden es als große Güte, doch womit sie nicht gerechnet hatten: Kribus wollte nicht bleiben. Nicht nachdem er erfahren hatte, was ihm das Leben auch ohne Zaubererumhang bieten konnte.
Also packte er seine Sachen und ließ die Akademie hinter sich.
Zuerst stachen Schuldgefühle in sein Herz, als würde er eine große Zukunft aufgeben. Doch inzwischen bedauerte er nichts mehr, er fühlte sich, als wären tausend schwere Ketten von ihm gefallen, als hätte er immer eine Augenbinde getragen, die jetzt plötzlich von seinen Augen gezogen worden war. Er fühlte sich frei.
Kribus erreichte das Fachwerkhaus. Das Schild war noch an Ort und Stelle. Er schlenderte pfeifend unter dem Torbogen hindurch. Auf dem Hof hinter dem Haus standen zwei Lagerschuppen. Der Kleinere der beiden, von der Größe eines Hühnerhauses, war vollgestopft mit allerlei Werkzeug; bis zur Decke stapelten sich Kisten. Der zweite Schuppen, dessen Dach mit dunkelroten Lehmziegeln gedeckt war, maß sicher zwanzig auf zehn Meter und war leer. Ein nackter Türstock bildete den Eingang.
Ein älterer Mann saß auf einem Schemel neben dem Fachwerkhaus in der Sonne und schnitt Sohlen aus einem dunkelbraunen Stück Leder. Kribus stapfte auf ihn zu, ließ die Tasche neben ihm auf den Boden fallen und sagte: »Ich habe euer Schild gesehen. Sprecht, Meister, ist der Palast noch zu verpachten?« Er deutete mit dem Kopf auf den leeren Schuppen.
Der Schuhmacher nickte. »Dreißig Betumen pro Mond. Und kein unheiliges Treiben!«
Kribus feilschte und drückte den Preis um fünf Betumen, dann schlugen die Männer ein und der Schuhmacher widmete sich wieder seinen Sohlen.
Kribus spazierte zu seinem neuen Heim. Niemand konnte ihm hier verbieten, an seinen Skulpturen zu arbeiten. Als er den Schuppen erreichte und unter dem Türstock stehen blieb, drehte er sich grinsend um und rief: »Hoffe, euch ist es recht, wenn ich mir hier eine Türe einbauen lasse. Ich will es mollig warm, wenn der Winter kommt.«

Juni 2011 - Version 2

Letzte Aktualisierung: 26.06.2011 - 00.42 Uhr
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