Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Flower Power | Juli 2011
Mulone werden wir sein
von Asla Kant

Im zweiundzwanzigsten Jahrhundert hatte sich Sizilien samt italienischer Stiefelette noch als fester Bestandteil der eurasischen Platte präsentiert. In einer Welt nach dieser Zeit, die von der Andersartigkeit einer dynamischen Kontinentalplattenordnung beherrscht wurde, das Mittelmeer nur noch in alten Karten zu finden und die Hälfte des Stiefels versunken war, zeigte sich das verlorene Land als schwimmender Halbschlappen. Nach Einschätzung der Festländer ein zum Scheitern verurteilter Garten Eden. Doch das verlorene Land driftete in den Weiten vereinigter Ozeane und überzeugte, allen Erwartungen zum Trotz, mit Hartnäckigkeit und Schönheit. Jedes fünfte Jahr kreuzte der zerklüftete Halbschlappen die Ausläufer afrikanischen Festlands und diese Begegnung prüfte alles Leben mit einem Sandjahr.

Ein wuchernder Saum aus Windrosen, Katastrophenklee und Kreischkiefern ermöglichte zwar keine sedimentfreie Zone, doch ihre dudelsackähnlichen Ausbuchtungen an Borken, Blättern und Blüten waren, wenn sie anschwollen, sich aufblähten, ein deutliches Anzeichen für einen bevorstehenden Sturm und zudem eine Augen- und Ohrenweide, wenn sie ihr Luftrepertoire aus allen Schläuchen und Rinden holten und es einer tobenden, nicht sesshaften Sahara auf ihre Art besorgten. Dennoch knirschten Sandkörner, welche vor keiner Ritze halt machten, zwischen Zähnen und Hautfalten.

Dichter Nebel mischte sich mit dem Duft von Kräutern und kroch aus der Gewürzschlucht Richtung Kartoffelbergen. Lackmus Tabernakel räkelte sich in seinem Alkoven, während sein Mitbewohner Umpferd Blattschaufel und Krautbesen schwang, um den Brunnen und seine Werkstatt von Sandresten zu befreien. Seine Stimme schwoll an: „Tabernakel, schwing deinen Hintern aus den Federn! Aufstehen!“ Keine Antwort. Die beiden Freunde teilten sich einen Mehrfamilienkürbis am Fuße des Kraftbergs. Eine bevorzugte und limitierte Wohnlage, denn die Kürbis-Siedlung, Familien mit Kindern vorbehalten, war stets vom Schlimmsten verschont geblieben.

Lackmus Tabernakel, von der Natur gesegnet, seitdem sein Herz unter Mutters Brust zu schlagen begonnen hatte, war als Frischling vom Himmel in die Gewürzschlucht gefallen. Er hatte das Schlimmste überstanden und eine Welle der Begeisterung ausgelöst. Das Epithelgewebe hatte sich nach seiner Geburt mit verschiedenen Flechten verbunden, die aus seinem Inneren hervordrängten. Ein gesunder Verstand in einem mittlerweile Drei-Meter-Körper wandelte seines Zeichens als unverwüstliche Symbiose aus Fleisch und Flora.

Was wirklich geschehen war, wussten nur die Ältesten, Tabernakel selbst und sein Freund Umpferd.

„Morgen ist Großmarkt! Wirst du nun endlich aufstehen?“ Stocklilien klöppelten das Gebrüll bis nach Pilzbergen. Umpferd grinste, denn in diesem Fall half kein Geschrei. Nur ein Gedanke, verknüpft mit einem Wunsch, genügte, um die Dienste von Flugobst in Anspruch zu nehmen. Den großen, wohlbeleibten Kerl riss es beinahe von den Beinen, als das Geschoss an seinem Kopf vorbeizischte und sich der Fensterfarn an den Kürbisluken zurückzog. Diesmal war es kein Traubenregen, sondern eine Weckmelone, die über Tabernakels Gesicht parkte und mit einem entzückenden Knall zerplatzte. Peng! Umpferd rieb sich die Hände, als sein Freund die Tür auftrat und mit einer Fruchtfleischgesichtsmaske in den Brunnen sprang.
„Tolle Idee!“, hallte es aus dem Brunnen.
„Ich warte in der Werkstatt“, gähnte Umpferd.

Tabernakel legte seinen Umhang an, blieb vor der Werkstatt stehen und atmete tief ein. „Hm, womit verwöhnst du uns diesmal, das riecht köstlich. Tomatensuppe?“
„Laber nicht, komm rein und staune.“ Umpferd stolzierte zwischen Nähmaschinen über einen fiktiven Laufsteg und präsentierte seine neue Erfindung. Über seinen Schultern hingen gepolsterte Gurte aus geflochtenen Weidentrieben, welche in ein dunkelrotes, schrumpeliges Material übergingen. Tabernakel klatschte in die Hände. „Großartig, wie echtes Leder! Und dieser Duft, zum Anbeißen. Tomatentaschen?“
Umpferd nickte. „Mein Musterstück ist für dich.“ Tabernakel nahm das Geschenk entgegen. Seine Hände zitterten vor Ergriffenheit und das Siebenkammerherz seines Freundes schlug unüberhörbar, voller Stolz.
Gedankenverloren fischte Umpferd hier und da noch Reste von Melonenmatsche aus dem Haar seines Freundes, das ihm bis zu den Schenkeln reichte, und ließ es sich schmecken.
„Dunkelrotes Tomatenleder passt hervorragend zu deinem blauen Haar“, flüsterte Umpferd und erinnerte sich. Das Gewürzvolk und die Höhlenleute hatten Tabernakel fallen sehen und weil sie ihn nicht finden konnten, hatten sie damals Umpferd gerufen. Er war es, der nicht aufgeben wollte. Weich gelandet und geschützt im Blütenkelch einer Becherprimel, hatte ihn sein blaues Haar verraten. „Du hast mich gefunden, mir eine Familie und drei Väter, Don-Q, Don-W und Don-Borke, geschenkt.“ Eine Umarmung ließ sich nicht vermeiden.

Die pulsierende Einfachheit des Lebens, speisen, trinken, erfinden, für Nachwuchs sorgen und Freundschaft, erfüllte Umpferd. Er hatte neunzehn Kinder, stets männlichen Geschlechts, gezeugt und dabei sein Siebenkammerherz vererbt. Was für ein Segen nach langer Durststrecke und einer auf null zusteuernden Geburtenrate. Mit seinen fünfzehn Jahrzehnten hatte er das Lebensalter der Ältesten überschritten und wusste, was es bedeutete, ein Kind zu verlieren. Ein Kind zu töten ging jedoch über seinen Verstand. „Sollte ich deiner Mutter je begegnen, schlag ich sie tot.“
„Ich habe den besten Freund, die liebevollste Mutter, meine Becherprimel und drei Väter. Mehr Glück ist nicht möglich. Komm, lass gut sein“, entgegnete Tabernakel.

Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, platzte der Marktplatz aus allen Nähten. Tabernakel schnürte seine Tomatentasche um den Bauch und besuchte den überfüllten Stand seines Freundes.
„Oh, Mami, guck mal!“
„Ich will eine Tasche!“
„Der Lackmus hat auch eine.“
„Umpferd, ich nehme vier Tomatenbeutel!“
„Ich auch.“
„Ja! Ich hätte gerne zwei Taschentomaten.“
„Schatz, stell dich an und bestelle gleich zehn.“
„Ach, was sind die schön!“
Ob groß, ob klein: Umpferd kam mit dem Nachschub nicht hinterher. „Hey, Tabernakel, sag Vannelle Bescheid, er soll noch sechs Ladungen vorbeibringen und er soll sich beeilen!“, brüllte Umpferd vorbei an begeisterten Schaulustigen.

Am Käsestand traf Tabernakel auf Vanelle, den Marktverwalter, und seine Helfer, die sofort für Nachschub sorgten. Was für ein herrliches Gewühl. Während sich Tabernakel mit Käsetulpen aus Pilzbergen und frischen Kräutern aus der Gewürzschlucht eindeckte, hallte sein Name durch die Gassen. Per Konträr, der seinen Stand neben dem von Lady A-A aufgestellt hatte und Mikroorganismen anbot, rief nach ihm. „Welchen PH-Wert brauchen die Flitschis?“ Tabernakel schmunzelte und begrüßte Pers Kundschaft. Die Flitschiorganismen sollten in einer Halmschachtelplantage zum Einsatz kommen. „Einen stark sauren“, bestätigte Tabernakel. Er tauchte seine Hand in einen Behälter und schon färbte sie sich rot. Ein Staunen ging durch die Menge.

„Na, mein Schöner, komm, lass dich küssen.“ Für einen Flirt war Lady A-A immer zu haben. Tabernakel hatte ihren Avancen bisher nicht nachgegeben und dennoch war es unmöglich ihren Reizen zu entfliehen. Barbusig tanzte sie vor ihrem Stand, spielte lasziv mit einer violetten Haarsträhne und rieb ihren, mit einem Hauch von Nichts bedeckten Hintern an Tabernakels Knie. Seitdem sich herumgesprochen hatte, dass der große Flechtenmann farbigen Körperschmuck verabreichen konnte, boomten derart gefärbte Haare. Selbstverständlich nicht nur am Kopf. Lady A-A kletterte auf ihren Tisch und drückte Tabernakel einen nassen Kuss auf die Lippen. Ein Lachen ging durch die Reihen.
„Hallo, kleine Hexe. Wie läuft das Geschäft?“
„Sehr gut! Meine Scheiße verkauft sich quasi von selbst“, bestätigte das nicht auf den Mund gefallene Frauenzimmer. Lady A-A verkaufte Kacke und sie war unglaublich erfolgreich damit. Pers Mikroorganismen waren ein Leckerbissen, befriedigten die nimmersatten Pflanzen jedoch nicht auf Dauer. Also her mit dem Dung aus den pflanzenverzehrenden Fauna-Ärschen. Für diese Geschäftsidee par excellence war die Lady mehrfach ausgezeichnet worden.

Tabernakel verabschiedete sich. Für heute reichte es ihm. Außerdem beglückte der Großmarkt Kartoffelbergen über Wochen und Schnäppchen boten sich meist am letzten Tage an. Er machte sich mit gefüllter Taschentomate auf den Weg in den Norden zu seinen Vätern. Sie mieden den Trubel und bevorzugten Stille und Einsamkeit. Mit einer Ausnahme. Don-W´s Lebens- und Überlebensmotto: Vögeln für den Weltfrieden. Noch verzichtete Tabernakel auf diese Zusammenkünfte, die jeden Vollmond am Strand oder in den Gemächern seiner Väter stattfanden. Er leugnete jedoch nicht, dass er mit jedem Vollmond neugieriger wurde und gerne lauschte.

In der alten Baumschule angekommen, begrüßten ihn seine Väter mit offenen Armen. Tabernakel überreichte Salzschoten, Käsetulpen und Gurkenflachs. Nach einem ausgiebigen Schmaus genossen sie die Spätlese eines vergangen Sandjahrs. Tabernakel hielt seine drei Väter in den Armen. Er liebte die Buchstabentektonik Don-Q´s. Sie sangen eine Ode an den herzhaften Kratztoffelsalat und lasen gemeinsam aus alten Schriften:

'Trial-, Error- and Kill' - Methode (das Gefahren-Symbol beim "natürlichen" Abort sollte darauf hinweisen, dass die Abortrate nach IVF und/oder PID höher war als nach natürlicher Zeugung), "diagnostisches" Klonen und extremste, nicht beherrschbare Formen von Selektion und Mutation erblühten in einem multikulturellen Krebsgeschwür, welches auf hochaktiven tektonischen Platten in Vollkommenheit erstrahlte, bis das Wetter umschlug, bis das Licht erlosch, bis der letzte, alte Mann in einem Bunker in den Tiefen der Erde an den verrottenden Gebeinen seiner Art ein letztes Quäntchen Kraft erlangte, um ein Kind zu zeugen, bevor er starb

Ehre dem letzten Tropfen
in meinem Kelch
zwischen Gebein
Mulone sind wir
Mulone werden wir sein

…


©anahtar.спасибо.hammerfest

Letzte Aktualisierung: 25.07.2011 - 09.14 Uhr
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