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Flower Power | Juli 2011

Eisblumen – ein Wintermärchen
von Hajo Nitschke

Und dennoch blüht es
aus froststarren Augen noch
mitten im Winter

(ein Haiku)


Wie vom Reißbrett, denkt sie. Kristallisierte Wassermoleküle, angedockt an winzige Staubpartikel, haben die unverkennbaren sechsstrahligen Sterne geformt. Monochrones Ballett auf Iris‘ Fensterscheiben, den Augen ihres Zuhauses: Triumph der Symmetrie! Blumen, deren Gittermuster perfekte Blütenbilder auf das Glas zaubern. Ein Magier muss er sein, der Zeichner, der dieses Konzept entwarf.
Das Alter hat ein leichtes Zittern auf ihre Finger gelegt, und wenn sie diese hexagonalen Wunder nachzumalen versucht, muss sie sich anstrengen. Ein Blick durchs Fenster auf die immergrünen Blätter, die dem Schnee trotzen: Blumen auch dort, und bald vielleicht werden sie ebenfalls blühen.

Wie das vorletzte Mal vor einem knappen Vierteljahrhundert …

***

„Guten Abend. Behrens, Wilfried Behrens. Ich bin mit Frau Richter verabredet.“
„Die haben Sie vor sich, junger Mann.“
Wilfried konnte nur mit Mühe seine Überraschung verbergen. Was? Diese Alte? Bestimmt Ende Fünfzig, unattraktiv, um nicht hässlich zu sagen.
„Sie sind …? Äh … Bist du …?“
„Wen hast du denn erwartet? Miss Universum? Dann bist du hier falsch.“ Eine raue Stimme mit belustigtem Unterton: „Wenn du zu Iris Richter möchtest, komm rein. Ich habe uns einen Imbiss vorbereitet.“

DAS war Iris Richter? Wilfried musste schlucken. Nur widerwillig reichte er die Hand. Bald saßen sie sich schweigend am gedeckten Tisch gegenüber. Verlegen nippte er an seiner Tasse Tee: Den Abend des ersten Weihnachtsfeiertages hatte er sich anders vorgestellt. Iris‘ elektronische Zeilen hatten so viel jugendliche Frische und verlockende Erotik verheißen, und nun das! Ein galantes Abenteuer oder mehr mit diesem faltigen Schrapnell? Graue, strähnige Haare, die sich am Scheitel zu lichten begannen. Hartes Geiergesicht, hager und schmallippig. Blasser Teint, schlaff werdende Züge, trübe Augen undefinierbarer Farbe. Geruch nach Alter. Und, Himmel, nicht mal Titten im Vorbau! Rundum zum Abtörnen. Das kackbraune Collier konnte davon nicht ablenken. Als Mittdreißiger stand er einfach nicht auf sogenannte reife Frauen.

Wie hatte er nur derart reinfallen können? Wie peinlich! Aber nun galt es, irgendwie über die Runden zu kommen. Nachts fuhr kein Zug mehr, Hotels gab es hier nicht. So schleppte sich der Abend in bemühter Konversation dahin. Es fiel dem Besucher auf, dass Iris häufig nach dem Blättergestrüpp vor dem Fenster schaute, aber den mitgebrachten Strauß unbeachtet ließ. Nach dem Fernsehfilm schützte er Unwohlsein vor. Zu seiner Erleichterung verzichtete sie auf jeden noch so versteckten Annäherungsversuch.

Auf seinem Lager im Gästezimmer quälte ihn ein Anflug von Schuldgefühlen: Er war einfach zu ungerecht gewesen. Hatte sich den Blick durch sein ständiges Unbehagen gegenüber älteren Frauen trüben lassen. Altersgeruch, Geiergesicht? Wie er sich eingestehen musste, war sie doch nicht die Krähe, als die er sie im ersten Moment empfunden hatte. Aber wie auch immer: Nicht sein Fall.

Reisefertig schlich er sich nach unruhiger Nacht früh aus der Haustür. Ein frostiger Morgen empfing ihn mit eisiger Luft. Das Funkeln und Leuchten am Boden nahm seinen Blick gefangen: Ein kleiner Wald duftender Christrosen, über Nacht erblüht! Ihre cremeweißen Blütenkelche winkten ihm mit rosa und grünlichen Tupfern zu. Als Wilfried sich nach einer bücken wollte, rutschte er auf der glatten Stufe aus. Seine Beine knickten ein, er stürzte mit dem Gesicht voran in die Blüten.

Der Rosenduft war das erste, das seine noch benommenen Sinne später erfassten. Dann fühlte er seinen Kopf in weiche Hände gebettet und hörte eine helle, samtene Stimme:
„Hallo, kannst du mich hören? Hast du Schmerzen?“
Er schüttelte, noch etwas benommen, den Kopf und öffnete die Augen. Das Gesicht eines Engels war über ihn gebeugt. Mit Hilfe dieses himmlischen Wesens kam er auf die Beine.
„Danke, es geht schon … Kennen wir uns?“
„Das will ich meinen! Du musst Wilfried sein! Wilfried, mein fleißiger Mailschreiber.“
„Hä? … Dann bist DU …?“
Ein glockenhelles Lachen: „Tja, dann bin ICH wohl die Iris. Aber jetzt komm wieder rein und wärm dich auf.“

Wie berauscht folgte er der jungen Frau ins Haus, ließ sich mit heißem Kaffee und röschem Toast bewirten und konnte seine Augen nicht von dieser Göttin abwenden. Das muss Liebe auf den ersten Blick sein, wurde ihm bewusst. Noch nie war ihm Derartiges passiert. Auf ihre Fragen brachte er nur ein Stottern zustande.

So viel aber begriff der so plötzlich und heftig Verliebte: Der gestrige Abend war ein Test. Iris‘ Tante hatte die Rolle perfekt gespielt und schien mit ihm – zu seiner Überraschung – zufrieden gewesen zu sein. Sie rief ein Taxi, gleich nachdem er sich zurückgezogen hatte, und ließ sich zum Flughafen fahren. Ihr Rückflug nach Amerika war bereits gebucht. Wilfried hatte sich von ihrem unverfälscht gebliebenen Hochdeutsch täuschen lassen. Dass er die Nacht allein in Iris‘ Haus verbrachte, hätte er nie gedacht. Irma Richters Nichte, drahtlose Zustimmung im Gepäck, war am Morgen vorgefahren, rechtzeitig genug, um ihn aus den Rosen zu befreien.

Wilfried gewann langsam die Fassung zurück, aber seinen Zug nach Hause hatte er längst vergessen. Er fuhr nie mehr zurück, sondern blieb bei seinem Engel. Auch bei Iris war es Liebe.
Ihr erster gemeinsamer Abend brach an. Im Flackerlicht des Kamins versank die Welt. Er musste sich in den Arm kneifen, aber da war keine Fata Morgana, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut. Wilfried konnte sein Glück nicht fassen. Er kannte Mannsbilder, die sich als alte Böcke mit fünfzig Jahre jüngeren Frauen ausstaffierten. Ein solcher Altersunterschied bestand nicht. Schwindelig vor Glückseligkeit und Verlangen prägte er sich vor der ersten gemeinsamen Nacht das Bild des zehn Jahre jüngeren Geschöpfes ein:

Die kleinen Schatten, die das Feuer um das dunkelblonde Haar tänzeln und üppig über die Schultern wallen ließ; das rosige, zarte und zugleich straffe Gesicht, welches sich in seine Hände hineinschmiegte; ebenmäßige Züge, perfekte Linien von glänzenden, meergrünen Augen, zierlicher Nase und sinnlichem Mund, dessen volle Lippen sich ihm wie ein Herz aus roten Kirschen öffneten. Er versank im frischen Duft ihrer Haut. Das Barockperlen-Collier mit seinem warmen Braunton hatte Tante Irma ausdrücklich als Geschenk zurückgelassen, wie einige nette und ermunternde Abschiedszeilen auf der Anrichte belegten. Es schmückte die anmutigen kleinen Brüste einer jungen Königin: Seiner Königin, die sie für immer bleiben sollte.

Nie gab es daran Zweifel. Zu keiner Zeit störte ihn die sich als fragil erweisende Konstitution seiner Geliebten. Iris war ein zartes Geschöpf: Er trug sie auf Händen und übernahm jede schwere Arbeit, die ihr zu viel war. Die für ihr Alter erstaunliche Belesenheit und Klugheit, mit der sie ihn beschenkte, war ihm Ausgleich genug. Nie gab er etwas auf seltsame Blicke der Nachbarn oder anzügliche Bemerkungen von Arbeitskollegen. Eine Königin entzieht sich jeder Spekulation und eine Göttin ist über alle Bedenken Sterblicher erhaben. Das Gerede einiger Leute verstand Wilfried sowieso nicht und es interessierte ihn auch nicht.

Die beiden immer noch wie am ersten Tag Verliebten lebten beinahe zwanzig Jahre zusammen, als es passierte: Wieder war es ein eisiger Winter, zum ersten Mal seit damals blühten die Christrosen bereits zu Weihnachten, als Wilfrieds Herz ihn im Stich ließ und er beim Verlassen des Hauses inmitten der Blüten zusammenbrach. Aber kein Engel barg ihn unter seinen Flügeln. Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten fühlte er sich allein, als er vorübergehend aus dem künstlichen Koma erwachte.

Aber dann saß Tante Irma an seinem Bett. Irma, deren neuerlicher Besuch Iris zufolge immer wieder den Umständen zum Opfer gefallen war, hatte den Flug aus Übersee spontan angetreten, um der Nichte beizustehen. Es stand ernst um Wilfried, doch obwohl die Jahre sie verändert hatten, erkannte er seine damalige Gastgebern. Und sie, die alt, sehr alt Gewordene, nun bar jeden Spottes, versicherte ihm, Iris sei schon unterwegs und werde bald eintreffen: Man habe sich an seinem Bett abgewechselt. Je schwächer Wilfrieds Skalen und Linien auf den Monitoren wurden, desto eindringlicher rief Irma, Iris werde jeden Augenblick hier sein. Ja, sie sei schon so gut wie zur Stelle.


***

Die Greisin seufzt bei den zum ungezählten Mal wiederholten Gedanken an jene Augenblicke vor gut fünf Jahren. Wie sie Iris‘ baldige Ankunft versprochen und erahnt hatte, dass Wilfrieds letzte Gedanken nur ihr galten; wie sie ihm an deren Stelle die blasser und spitzer werdenden Wangen gestreichelt und mit Ärzten und Schwestern gemeinsam die Bildschirme zu einem Fünkchen Hoffnung beschworen hatte. Und wie alles vergeblich gewesen war. Ein Dauerton, eine gerade Linie: das gefühl- und mitleidlos durch die Apparate dokumentierte Aus.

Und nun späht sie zu Weihnachten wieder einmal durch die Eisblumen des Fensters zu den Schneerosen hinaus. Sie waren jetzt bereits im fünften Winter nie mehr schon um diese Zeit aufgegangen. Würden sie es diesmal tun? Und welchen Zauber würden sie mitbringen? Sie hatte mit Wilfried ein ernstes Wort zu sprechen. Aber dazu musste er erst wieder hier vor ihrem Fenster stehen. Durch die kristallenen Eisrosen hindurch würde er ihre Augen hinter den Scheiben erblühen sehen wie Blumen aus steiniger Höhle. Und falls das Wunder der Christrosen zu seinen Füßen gar ein drittes Mal geschah, würde er vielleicht endlich verstehen, was er längst verstanden hatte.


Nahn sich eisige Abendgespenster,
decken schlohweiß die Wegspuren zu,
blühen frostige Blumen am Fenster,
schläft die Welt, kommt das Herz zur Ruh.
Sieht Erinnerungen warten,
geht vertraute Wege entlang,
hört im stillen Wintergarten,
Jugend, deinen Glockenklang.

Letzte Aktualisierung: 09.07.2011 - 11.05 Uhr
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