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Flower Power | Juli 2011

Jimis Gitarre
von Marika Bergmann

„Als ich meine Gitarre verbrannte, war das wie ein Opfer. Man opfert die Dinge, die man liebt. Ich liebe meine Gitarre.“

Jimi Hendrix



„Sag was, Jimi!“

Eine eigenartige Spannung lag im Zelt. Die Jungs langweilten sich. Jimis schwarze Locken streiften meinen schlanken Hals. Er hielt mich fest und ich hatte das Gefühl, er würde gleich sagen: Komm, lass es uns tun!

Ich wartete, wir alle warteten. Worauf wartete Jimi nur?

Ich dachte an London und die Studiosession; immer vollkommen chaotisch. Jimi brauchte die anderen. Manche fühlten sich geschmeichelt in Jimis Radius zu sein. Es waren sehr merkwürdige Leute – manchmal. Sie kamen und gingen. Einmal holte Jimi sogar einen blinden Bettler von der Straße in den Proberaum. Jimi wollte, dass der Mann sagt, was er sieht, wenn er ihn spielen hört. Jimi spielte die Ballade “The Wind cries Mary”. Der alte Blinde hob seinen Kopf und begann mitzusummen, Tränen rollten über sein zerfurchtes Gesicht und er lächelte, als er ein Mädchen beschrieb, das durch die Straßen der Stadt lief. „Der Wind ruft ihren Namen durch die Häuserfluchten. Mary, heißt sie! Ich höre ihren Namen!“ Dann begann auch Jimi zu weinen, ging auf den Alten zu und umarmte ihn. Er strich sanft weiter über meinen Hals während ...

Chandler brüllte ihn an: „Sag was! Wann willst du anfangen?“
„Nerv‘ nicht, mein Freund!“ Jimi zog am Joint und gab ihn an Mitch weiter, ohne aufzusehen. Chandler klopfte ihm auf die Schulter. „Sag was!“
Auch die anderen Bandmitglieder sahen zu Jimi, und Larry stützte sich auffordernd auf seine eigene Gitarre: „ Jimi, komm!“
Dann drängte sich Pete Townshend an Chas Chandler vorbei in den Kreis der Wartenden.
„Komm, Jimi! Wir werfen die Münze!“
Jimi saß auf den Perkussions, zog seine Münze aus der Tasche. Es war eine ganz besondere Münze. In ihr waren seine Kräuter. Die er brauchte. Manchmal. Dann waren wir für viele Stunden allein – nur Jimi und ich.

Pete begutachtete den Viertel Dollar, wählte und warf ihn hoch. Ich weiß nicht mehr, für welche Seite er sich entschied und was an diesem Morgen in Woodstock für Jimi übrig blieb. Das Geldstück prallte gegen die Zeltdecke. Jimi fing es zwischen seinen Zähnen auf, seine wendige Zunge schnellte blitzschnell hervor und schleuderte die Münze erneut in die Luft. Seine flinke linke Hand griff nach ihr. Dann starrten wir alle auf seinen Handrücken und warteten darauf, dass er aufdeckte.

„Jetzt“, sagte Jimi.

Sie bewegten sich den schmalen Gang zwischen den Stahlträgern entlang zum Bühnenaufgang. Jimi hatte mich fest im Griff. Er war sehr entschlossen. Das machte mir Angst. Ich hatte mir schon des Öfteren vorgestellt, wie es wäre, wenn er bis zum Äußersten ginge – und alle Tabus brechen würde. Zugleich war ich neugierig, denn es gefiel mir, wie er mich nahm. Er kannte jede Kerbe meines Körpers, jede Windung, jeden sensiblen Punkt.

Dann standen wir mit den ,Gypsy Sun & Rainbows‘ on Stage. Ich konnte es nicht mehr erwarten. Es hatte die halbe Nacht geregnet und viele der Zuschauer waren schon auf dem Heimweg – an diesem Morgen des 18. August 1969. Eigentlich sollte das dreitägige Festival zu diesem Zeitpunkt längst zu Ende sein.

Wir begannen ohne großes Vorspiel.
Es war groß. Es war unbeschreiblich groß. Keiner von uns hatte geglaubt, auf so etwas Großes gewartet zu haben. Jimi breitete ein ”Star-Spangled Banner“ aus Soundeffekten über dem Set aus. Es war unglaublich. Ich wurde von meinem eigenen Klang mitgerissen. Wie ein Kampfflugzeug schnellte ich in die Luft. Fühlte das Gewicht der Bomben unter meinem Bauch. Glaubte, den Schrecken des Napalms in den Gesichtern der Menschen unter mir zu sehen, die Druckwelle und die unsagbare Hitze zu spüren. Sie überrollte die Schreie derer, die noch liefen. In einem Automatismus gefangen liefen sie weiter, immer weiter. Das Feuer hatte wie ein hungriges Tier ihre Kleider gefressen. Jimis Zähne bissen in meine Saiten. Seine Zunge wurde hart, zuckte in schnellen Stößen über meinen Hals. Es war, als würden mich 100.000 Volt in Lichtgeschwindigkeit durchdringen. „Wah-Wah“, das ,Wah‘ wurde mein Schrei in Jimis starkem Arm. Er hielt mich wie eine Waffe weit nach vorne gestreckt. Jimi spielte mich nicht nur. Nein! Wie ein Voodoo-Gott nahm er mich und setzte mich gegen die dunklen Gewitterwolken ein. Wie auseinandergesprengt waren sie durch die unsagbare Wucht des Sounds. Seine Fingerspitzen vervielfältigten sich. Tausende und Abertausende. Es war eine Armee, die über meine stählernen Saiten marschierte. Etwas ging auf. Auf einmal war es hell über uns. Gleißendes Licht schoss aus dem Grau zur Bühne, als wollte Gott selbst nachsehen, was auf Max Yasgurs Farm abging – und was seine Kinder in den letzten Stunden des Festivals so machten. Denn das was man jetzt hörte, glich keiner der Darbietungen dieses einzigartigen Open-Air-Spektakels. Es war Gewalt im Szenenspiel des Friedens. Gewaltig. Mächtiger als Krieg. Grenzen gab es nicht mehr.

Die Wand aus Verstärkern bis zum Limit aufgerissen. Die Membranen der Lautsprecher-Boxen vibrierten, hielten aber den Ton, setzten ihn fest – fest an der Grenze. Es tat weh. Einige konnten es nicht ertragen. Sie standen da – nur da. Starr. Die ganze Aufmerksamkeit auf uns gerichtet. Jimi war es gelungen, den Ton auszureizen bis zum Schmerz. Er jonglierte an diesem Punkt lange, sehr lange. Die, die es nicht mehr aushielten, schrien. Schrien sich ihre Seelen aus den Leibern. Ich sah die Seelen aus den Mündern der Schreienden hervor schießen. Die Seelen der Blumenkinder. Sie sahen aus wie die Tropfen eines Regenbogens. Manche waren Magenta und durchzogen von einem leuchtenden Orange. Andere flimmerten in kühlem Blau mit gelben Sprenkeln. Es wurden immer mehr. Der reinste Univibe Effekt. Violett, Rot, Cyan, Grün. Jetzt waren es wieder Töne, swirlig gezogen, vermischten sie sich mit den Bildern. Ich dachte nicht mehr nach, sah nur auf das bunte Flirren und ließ mich treiben im Rausch der Musik. Ich wurde eins mit denen dort unten, ich wurde zu Licht. Zu einem aus allen Farben gebündeltem Licht, das einen noch nie in der Geschichte da gewesenen Sound erschuf. Göttlich! Es ist auf einmal alles da. Ohne, dass du etwas machst. Da ist alles, was dir in deinem ganzen kleinen Dasein jemals begegnet ist. Dieser Moment ist die Ewigkeit. Ein echter Fuzz-Face Effekt. Ein Orgasmus. Jimi schaffte es ohne Mischpult oder Pedale. Mir wurde schwindlig, als er meinen Körper wie durch eine gigantische Ader mit Energie versorgte. Seine schwarze Hand schleuderte mein weißes Licht in die Menge. Uns konnte keiner mehr aufhalten. Wir waren in diesem Moment Alles und Jeder. Ob bei den Fightern in Vietnam, Asien oder Afrika. Wir setzten in diesem Augenblick mit Apollo 11 den ersten Schritt auf den Mond. Überall – allmächtig, allgegenwärtig. Jimi hatte seine gesamte Power in die Performance der US-Hymne gelegt. Jimi und ich wurden zum Universum. Mit allen Menschenkindern, die dort unten an der Bühne waren. Die mit ihren langen Haaren und ihren bunten Stirnbändern. Hippies – so nannten sie sich. Sahen Easy Rider, trugen bunte Klamotten, ließen im Flowerpower Blumen sprechen und verpönten die aus Klassenkämpfen, Leistungsnormen, Unterdrückung, Grausamkeit und Kriegen bestehende Weltordnung. Peace – Frieden. Sie würden ihre bunten Träume nie aufgeben. Wortlos standen sie im Schlamm, starrten zum Himmel. Hoben die Arme über ihre Blumenkränze und empfingen die letzten Regentropfen des Morgens wie Weihwasser. Sie fanden einander. Menschen, die sich zuvor noch nie begegnet waren, umarmten und küssten sich. Einige von ihnen liebten sich. Hatten die Scham der Vertreibung aus dem Paradies abgelegt. Befreit!


„Wah-Wah- Waahhhhhhhhhhhhhhh!“ Ich liege in Jimis Arm. Unschuldig und frei. ICH bin geboren. Das Verstärkerkabel – meine Nabelschnur. Hey, Peace! Feiert mich durch dieses Zeichen! Meinen reinen, weißen Körper in Form des V, wie Victory. Ich habe gewonnen. Ohne mich ist Jimi ein Niemand. Ich bin sein Sound. ICH, seine Unabhängigkeit! ICH – Jimis Gitarre!



© Marika Bergmann

Letzte Aktualisierung: 25.07.2011 - 23.29 Uhr
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