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Flower Power | Juli 2011

Rosenblütenblätterzupfen
von Martina Bracke

„Ich gebe Ihnen ein Plastikröhrchen mit Wasser. Da kann nichts auslaufen, mein Herr.“
Vorsichtig nahm ich der Verkäuferin die Rose ab.
„Sie duftet nicht!“
„Nein, sie züchten vor allem robuste Sorten. Die kommen aus Treibhäusern in Afrika, haben eine lange Fahrt.“
Die Blüten der Globalisierung.
„Dafür sehen sie betörend gut aus. Das ist doch auch was.“
Betörend. Ja, betörend musste diese Rose sein. Heute galt es. Ich lächelte in mich hinein.
„Mensch, wat grinste so blöd?“
Unsanft riss mich ein pubertierendes Gör aus meinen Gedanken.
„Tschuldigung“, murmelte ich nur und eilte zu meinem Zug auf Gleis 16. Kurz flackerte in mir der Gedanke auf, dass es zwar die Gleise 11, 16 und 18 gab, aber keine 12, 13, 14, 15 und 17. 13 hätte ich ja noch verstanden, aber der Rest?
Verflucht, nur noch eine Minute bis zur Abfahrt – und ich hatte einen festen Platz. In der Eile schätzte ich die Geschwindigkeit des kreuzenden Reisenden falsch ein. Die Rose geriet zwischen uns, ich umklammerte sie. „Au!“
„Oh, habe ich Sie getreten?“
Nein, nein, es war nur der Stachel der Rose, der sich fest in meinen Zeigefinger gebohrt hatte. Erst als die Tür des Zuges sich mit lautem Piepen hinter mir schloss, hatte ich Gelegenheit, meinen Finger zu betrachten. Tatsächlich blutete er. Während ich daran saugte, breitete sich der metallische Geschmack in meinem Mund aus. Den Stachel hätte ich der Rose ausreißen mögen. Ein Blatt hing schlaff herunter, das war stattdessen fällig und landete im Abfall.
Derweil suchte ich meinen Sitz. Aber natürlich befand ich mich in einem geteilten ICE, mein Platz verwaiste gerade im anderen Zugteil. Glücklicherweise fand ich Unterschlupf in einer Viererecke mit Oma, Opa und launischem Enkelkind.
„Sebastian, bleib sitzen! Nicht mit den Füßen auf den Sitz! Oder zieh die Schuhe aus! Der Herr ist keine Serviette! Tut mir leid, Schokoflecken gehen in der Reinigung bestimmt aus dem Anzug. Sebastian! Lass die Rose, du tust dir weh. Siehst du, das kommt davon!“
„Doofe Blume!“, schleuderte der Knirps der Rose entgegen, sie selbst wieder auf den Tisch, wo ich sie sorgfältig abgelegt hatte. Zwei Blütenblätter verabschiedeten sich in Richtung Auslegeware.
„Können Sie Ihre Blume nicht ins Gepäcknetz legen?“
Was tut man nicht alles für den lieben Frieden und die Gesundheit unserer Zukunft? Ich seufzte.
Das nahm sich Klein-Sebastian zu Herzen.
„Hast du Kummer?“ Dabei vergaß er ganz seinen eigenen schmerzenden Finger und sah mich interessiert an.
Für einen Moment kam mir seine Anteilnahme ehrlich vor, aber ich meinte bloß: „Ich bin nur müde.“
„Sebastian ist auch müde.“
Und schon hatte ich seine Rotznase neben dem Schokoladenfleck auf meinem Ärmel ruhen. Mit geschlossenen Augen machte er einen durchaus freundlichen Eindruck. Und Oma und Opa strahlten ob ihres wohlerzogenen Enkels glücklich. Ich wagte es ebenfalls, den Kopf anzulehnen. Für Sekundenbruchteile boten wir ein schönes Bild.
„Für wen ist die Rose?“ Opa holte mich aus meinem Entspannungsversuch zurück.
„Für meine Verlobte“, gab ich stolz zurück. „Ich will sie überraschen.“
„Da haben Sie aber bestimmt noch mehr im Gepäck?“ Oma zwinkerte mir verschwörerisch zu.
Eigentlich wollte ich nicht über die goldenen Ringe reden, die ich in meiner Brusttasche verwahrte, aber mir blieb gar keine andere Wahl.
Sie wünschten mir viel Glück, als sie an der nächsten Station ausstiegen, und ich kannte inzwischen das Geheimnis ihrer 49-jährigen Ehe.
Meine neuen Reisebegleiter entpuppten sich als zwei junge Mädchen auf Europatour mit Rucksäcken beinahe größer als sie selbst, auf jeden Fall dreimal so schwer. Fand ich, als ich sie für die beiden ins Gepäcknetz hinaufwuchtete. Leider hatte ich die Last unterschätzt, verlor den Halt nebst Rucksack. Die Rose kostete es zwei rote und zwei grüne Blätter. Dann saßen wir wieder ruhig zwischen Stullen, Blasenpflastern und Reiselektüre, während miteinander und mit den Lieben daheim gleichzeitig kommuniziert wurde.
„Nee, echt, nette Leute da. … Und tolle Tipps für Mailand gekriegt.“
Auf dem Dach des Doms war ich mit Ellen schon spazieren. Hätte ich sie damals fragen sollen? Aber wir waren mit dem Studium nicht fertig. Schließlich will ich meiner Familie auch etwas bieten können.
Am Fenster zogen grüne Landschaften vorbei, zerfurchten Windräder die Luftmassen, hangelten sich Kabel von einem Strommast zum nächsten. Als Abteilungsleiter hatte ich es zu was gebracht. Und ich hatte Aussicht auf mehr. Das hatten sie mir angedeutet. In der Straßenbahn 403 wusste ich an jenem Abend, dass ich Ellen nun fragen könnte. Und jetzt saß ich hier, mit den Ringen, die meine Brusttasche ausbeulten, und der Rose, die im Gepäcknetz ums Überleben kämpfte. Besorgt blickte ich zu ihr auf und meinte, sie bereits schwächeln zu sehen.
Neben mir knisterte das Butterbrotpapier, spritzte die gut durchgerüttelte Apfelschorle dem Schokoladenfleck entgegen. Die Welt hatte mich wieder.
„Sorry!“
„Ist schon in Ordnung.“
Dennoch half ich den beiden gern, als sie aussteigen mussten. Die Rose holte ich vorsichtshalber wieder herunter. In stummer Betrachtung versuchte ich, die Blütenblätter zu zählen. Ob sie mich liebt oder nicht. Doch ich kam zu keinem Ergebnis. Neben mir plumpste ein schwergewichtiger Mann in die Polster und schnaufte erbärmlich.
„Viel zu eng hier. Die sparen sich noch tot. Und heiß. Zum Verrücktwerden. Fällt denn die Klimaanlage ständig aus? Wo ist der Getränkewagen?“
Ich wies ihn gern auf das Bordbistro hin und war den vollbeleibten Zeitgenossen so für eine gute Weile wieder los. Die Rose schmiegte sich in meine Hand, lehnte sich an die Zugwand und genoss mit mir ein Viertelstündchen Schlaf.
Beinahe hätte ich den Umsteigebahnhof verpasst, aber gerade noch rechtzeitig wuchtete sich mein Nachbar wieder in den Sitz und holte mich damit unsanft aus meinen süßen Träumen. Rasch zerrte ich meine Tasche hervor, nicht ohne weiterer grüner Blätter bei meiner Rose verlustig zu gehen. Aber ich schaffte es aus dem ICE und hinein in den ohnehin verspäteten Regionalexpress zwischen Koffer, Fahrräder und Kinderwagen. Leider reichte es nicht zu einem Sitzplatz und die Tasche mochte ich nicht auf den bierklebrigen Boden stellen. Es war Samstag.
„Zieht den Bayern die Lederhosen aus, Lederhosen aus!“, grölte es aus den hinteren Sitzbänken mit einem „Hoch die Flaschen!“
Eigentlich erwartete ich, dass ein paar aufstehen würden, aber weit gefehlt. Einer stolperte lieber in den Gang auf dem Weg zu einem Klo, das er leider nicht mehr erreichte. Meine Schuhspitzen bekamen Gott sei Dank nur einen kleinen Spritzer ab. Dagegen schien die Rose in dem Mief allmählich zu ersticken. Kam es mir nur so vor, oder war sie schon viel blasser?
Auf jeden Fall erschlafften die Blätter. Gut, dass es nicht mehr weit war. Die zwanzig Minuten hielten wir noch aus. Ellen erschien mir – mit ihrem langen braunen Haar, den schönsten Augen der Welt und einem sanftmütigen Lächeln.
„Ey, Alter, für welchen Verein bist du denn?“, riss mich ein Fan heraus.
„SuS Kaiserau!“, fiel mir spontan ein.
„Sind die für oder gegen Bayern?“
„Lass mal“, beschwichtigte sein Kumpel. „Hier, nimm 'n Bier, Alter. Kaiserau – is' das da, wo die Sportschule is'?“
Damit hatte ich wohl doch einen Treffer gelandet und durfte mit anstoßen.
Endlich hielt der Zug, und ich wühlte mich über rollende Bierflaschen, klebrigen Boden an meinen neuen Freunden vorbei ins Freie.
Die Rose in meiner Hand hatte bereits Gummistacheln und hielt den Kopf nicht mehr ganz gerade, aber der Wille zählte. Ellen würde das auch so sehen.
Im Taxi in die Grünwaldstraße 21. Ellen Teles stand auf dem Klingelschild. Und Darius Mes. Warum, zum Teufel, lebte sie in einer WG?
Die Haustür öffnete sich gerade, ich schlüpfte hinein. Im zweiten Stock des alten Holztreppenhauses, das den durchaus angenehmen Duft von einhundert Jahren Leben ausstrahlte, stand ich vor der Tür mit dem gardinenverhangenen Glaseinsatz. Die Rose piekte mich mit letzter Kraft, als ich den Krawattenknoten glattzog und mit den Fingern die Haare in eine Richtung strich. Ich drückte auf den Klingelknopf.
Nach dem durchdringenden Schrillen der Klingel passierte – erst einmal nichts. Erst auf meinen zweiten Versuch ging irgendwo eine Tür, Getrappel eilte zur Wohnungstür, und ich musste meinen Blick senken, um das kleine Mädchen zu entdecken, das da in dem Spalt erschien. Sie sah mich nur an. Dann schloss sie die Tür wieder. Eine Stimme, Ellens Stimme sprach: „Du sollst die Tür doch nicht aufmachen.“
Dann stand sie vor mir. Die Frau mit braunen, kurzen Haaren, den schönsten Augen der Welt, die mich müde anblickten.
„Ellen, meine Liebe!“ Ich hielt ihr die rote Rose entgegen, doch sie rührte sich nicht. So standen wir eine Ewigkeit oder nur Sekundenbruchteile, bis ein Kerl wie ein Baum die Tür weiter aufstieß.
„Wer sind Sie denn?“
Auch das Mädchen steckte seinen Kopf wieder heraus.
„Darius, das ist Alexander. Mit dem ich damals in Mailand war.“
„Der Alexander?“, lachte dieser Darius, und ich streckte mich ein wenig. Zwar reichte ich körperlich nicht an ihn heran, aber der konnte mich nicht beeindrucken. Der nicht.
„Ellen, ich bin gekommen, um dich um deine Hand zu bitten. Du bist die Frau, die ich liebe und begehre.“
„Aus was für einer Schnulze kommen Sie denn?“ Darius sah mich noch einen Moment an, wandte sich dann um und verschwand. „Komm, Ellen. Der Abwasch wartet.“
„Mama, eine Rose!“
Ellen tauchte in meine Augen ein. „Ich habe ein Jahr auf dich gewartet. Dann kam Darius. Das Kind“, sie tätschelte der Kleinen den Kopf, „ist bereits drei.“
„Ich liebe dich. Ich habe es dir in Mailand geschworen. Nichts kann das ändern.“ In meinem Glauben war ich unerschütterlich. Eisern. Hartnäckig.
Ellen schüttelte den Kopf, zog ihr Kind zurück und schloss die Tür.
Nach endlosen Minuten setzte ich mich auf eine Treppenstufe. Ich begann die Blätter auszurupfen. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht … Samtig fühlte sich das letzte Blatt an, das ich still betrachtete, als Ellen mit einer Tasche und dem Kind an der Hand in den Flur trat.
Sie liebt mich …

© mb2011 2.

Letzte Aktualisierung: 24.07.2011 - 19.50 Uhr
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