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Flower Power | Juli 2011

Das Kraut der Alten
von Dominik Schmeller

Eine Gruppe Reiter galoppierte über brachliegende Äcker, erreichte den ehemaligen Dorfrand und jagte dann zwischen den verbrannten Resten einiger Häuser hindurch. Die Hufe rissen Asche empor. Der Trupp hielt auf den Wald zu. Keinem von ihnen war bewusst, dass es fast auf den Tag genau zehn Jahre her war, seit die Soldaten dieses Dorf vernichtet hatten.

Sie erreichten ihr Ziel und ließen ihre Pferde halten. Das musste die Hütte am Waldrand sein, die man ihnen beschrieben hatte. Der Anführer, ein Mann mit schwarzem Brustharnisch, schwang sich von seinem Pferd und reichte die Zügel einem seiner vier bewaffneten Begleiter.
Ihr Atem bildete Wolken. Die Asche, die sie bei ihrem Ritt durch das Ruinenfeld aufgewirbelt hatten, fiel wie graue Schneeflocken wieder aus dem bewölkten Himmel herab und sammelte sich auf den roten Überwürfen der Männer. Die Pferde schnaubten und trippelten nervös über den kleinen Hof vor der Kate, der leer war, bis auf einen Stapel Brennholz, dicht ans Gemäuer gedrückt.
Der Mann stiefelte auf den Eingang der Hütte zu, zerrte den Vorhang mit der Linken zur Seite und musste sich bücken, als er durch die Tür trat. Rauschend fiel der Vorhang hinter ihm zurück. Der einzige Raum der Kate war dunkel. In der Feuerstelle in der Mitte glühten nur einige Kohlen, über ihnen hing ein Kessel. An der Wand stand ein Tisch neben einem Regal, beide waren überhäuft mit Tiegeln und Kistchen. Der Boden davor war vollgestellt mit Körben, aus denen Büschel von Kräutern und Wurzeln ragten.
Auf einem Stuhl in der Ecke, gegenüber dem Eingang, saß eine Frau mit weißen Haaren, die bis auf den Boden reichten. Ihr Gesicht war von Falten gezeichnet; ihre Haut und das Kleid, das sie trug, waren beschmiert mit Ruß und Lehm. Sie schnüffelte, dann klatschte sie plötzlich in die Hände.
»Ein Mann, nur herein, komm herbei!«, kreischte sie, lachte und wippte auf dem Stuhl hin und her. »Was will er? Ein Besucher, sei still, damit er nicht entschwindet!« Das Lachen verstummte abrupt und die Alte streckte ihre Hand aus. Mit ihrem Zeigefinger rief sie ihn herbei. Der Mann zögerte zuerst und massierte sein rechtes Handgelenk, dann marschierte er entschlossen los, umrundete die Glut und blieb zwei Schritte vor der Frau stehen. Seine Stiefel klangen dumpf auf dem Boden aus festgetretener Erde.
»Was will er, der Mann?«, fragte sie in seine Richtung gewandt. Sie blickte ihn nicht direkt an und aus der Nähe konnte er sehen, dass ihre Augen komplett weiß waren.
»Ich bin Baron von Tyltheid. Man sagte mir, Ihr wüsstet über die Heilkräfte der Natur. Meine Schwerthand«, wieder packte er sein rechtes Handgelenk, »sie ist steif und schmerzt. Wenn es weiter so geht, kann ich bald mein Schwert nicht mehr führen.«
»Ein Baron ohne Schwert, dann kann er gar nicht mehr führen.« Sie zog das A in Baron lang. »Die Hand ramponiert, Siglinda wird dem Mann helfen müssen.«
Sie beugte sich nach vorne und der Baron hielt seine Hand ausgestreckt, da er dachte, sie wollte sie untersuchen, als sie plötzlich vorneweg kippte und auf dem Boden aufschlug, noch bevor er reagieren konnte.
Sie kicherte und begann ihren Körper zu winden, Arme und Beine eng angelegt, wie eine Schlange; so kroch sie zügig auf die andere Seite der Kate, an der die Körbe mit den Kräutern standen.
Von Tyltheid folgte ihr. »Soll ich Euch beim Suchen helfen, verehrte Siglinda? Eure Augen sind nicht mehr die eines jungen Mädchens.« Er wollte hier so schnell wie möglich weg, und je schneller die Alte fand, was sie suchte, desto besser.
Sie fing wieder an zu lachen. Es klang wie das Kreischen eines Raubvogels. »Er weiß es nicht. Es ist so einfach, aber er weiß es nicht. Ich brauche keine Hilfe, mit der Nase erkennt man gar mehr als mit den Augen, Dummkopf-Baron! Was braucht Siglinda Augen, wenn sie mit ihren Nüstern sehen kann.«
Wie zur Bestätigung beugte sie sich über die Körbe und schnupperte.
Plötzlich hielt sie inne, ihr Kopf ruckte nach oben. Ihre blinden Augen weiteten sich im Moment des Erkennens.
»Baron von Tyltheid?«, krächzte sie wütend. »Wart Ihr es nicht, der die Söldner schickte, die das Dorf abbrannten, alle töteten? Rache sagte der Baron, Rache sagten wir! Siglinda blieb alleine … nur die alte Siglinda.«
Dann wurde ihre Stimme wieder ganz ruhig. »Natürlich war er es. Schlächter-Baron. Wer sonst, du dummes Mädchen? Suche jetzt das Kraut, es ist hier irgendwo. Na also, hier ist es!« Sie riss triumphierend eine armlange Pflanze aus einem Korb. Sie hatte große, blutrote Blätter und dicke Beeren, von der Größe eines Hühnereis und von derselben Farbe wie die Blätter. Sie reichte sie von Tyltheid und dieser nahm sie vorsichtig in Empfang.
»Sag ihm, er muss die Blätter nehmen, einen Tee daraus trinken, aber nicht die Beeren, niemals die Beeren«, rief die Alte und fügte hinzu: »Und Finger weg von der Wurzel, rühr sie nicht an!«
Von Tyltheid betrachtete die Pflanze genau, aber sie war sauber am Strunk abgetrennt. »Es hängt keine Wurzel mehr dran«, sagte er.
Die Frau reagierte nicht darauf, sondern schlängelte in derselben seltsamen Art wie zuvor zurück in die Ecke, warf sich in ihren Stuhl und nahm eine Schale von einer Kommode. Sie rieb ihren Daumen an Zeige- und Mittelfinger und wies dann in die Schale, in der schon drei Silbermünzen lagen.
Der Baron griff an seinen Gürtel, nahm seine Geldkatze ab und kramte umständlich mit der Linken zwei Kupfermünzen heraus. Als er das Geld in die Schale legte, ruckte die Alte mit dem Kopf nach vorne und versuchte nach seiner Hand zu schnappen.
»Kein Kupfer. Silber!«, zischte sie.
Der Mann verzog den Mund, zog dann zwei Silberlinge aus dem Säckchen und ließ sie in die Schale fallen.
Die Frau nickte zufrieden. Und fing an, zu schaukeln.
Dabei sang sie ein Lied, das von Tyltheid aus seiner Jugend kannte. Es handelte von einem Fürsten, der von einer Hexe verflucht wurde und all seine Macht verlor. Er schauderte. Mit schnellen Schritten lief er durch den Raum, schlug den Vorhang aus dem Weg, nickte seinen Männern zu, verpackte das Kraut sacht in der Satteltasche und schwang sich auf sein Pferd.

Zuerst hatte er lange gegrübelt und versucht sich zu erinnern, ob er die Blätter oder die Beeren für den Tee verwenden sollte. Mit geschlossenen Augen war die Erinnerung schließlich zurückgekehrt. Aus den Blättern hatte er einen Tee aufgegossen.
Jetzt stand der Krug unberührt vor ihm und der blutrote Trunk hatte schon seit Längerem aufgehört zu dampfen.
Etwas hielt ihn noch zurück. Hatte sie ihn nicht erkannt und von Rache gefaselt, kurz bevor sie die Pflanze aus dem Korb gezogen hatte? Was, wenn sie ihn nicht heilen wollte? Was, wenn er röchelnd sterben sollte, sobald er einen Schluck von dem Tee nahm?
Ach, was war ein Baron noch wert, dem der gehörige Mut fehlte? Er führte den Krug an seine Lippen und leerte ihn in einem Zug.
Dann rülpste er und stand auf.

Von Tyltheid saß auf einem Schemel in seinem Schlafgemach, vor sich die Kommode, auf der die Waschschüssel und der Silberspiegel standen, und streckte seine rechte Hand. Keine Schmerzen! Er spielte mit den Fingern und drehte das Gelenk. Das gefürchtete Knacken blieb aus. Seine Schwerthand war geheilt. Er lachte vor Freude. Warum hatte er der Alten misstraut?
Doch als er sich aufrichtete und sein Spiegelbild erblickte, wurde er unsicher und das Lachen verstummte. Wuchsen die Haare aus seinen Ohren nicht dichter als vor einer Woche, als er sie das letzte Mal angesehen hatte? Von Tyltheid drehte seinen Kopf vor dem Spiegel. Auf alle Fälle schienen mehr von ihnen grau zu sein. Genauso wie die Haare auf seinem Kopf.
Seine Kehle schnürte sich zu und er röchelte. Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Er drängte die Panik zurück und zwang sich, beherrscht zu bleiben. Als sein Atem wieder ruhig ging, spürte er, wie es in seinem Magen rumorte, krampfend zog er sich zusammen.
Seine Rechte ballte sich zur Faust.

Version 3

Letzte Aktualisierung: 24.07.2011 - 17.19 Uhr
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