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Flower Power | Juli 2011

Adams Rückkehr
von Mario Rembold

So schnell sie konnte bewegte sie sich auf ihr Kollektiv zu. Wie all ihre Schwestern hatte auch sie keinen Namen. Jeder Hauch von Individualität war ihr ebenso fremd wie Genuss, Selbstverwirklichung oder Faszination. Sie war in der Lage, einfache Entscheidungen zu treffen und wog ihre Möglichkeiten stets zu Gunsten des Kollektivs ab. Ihre Verfolger waren dicht hinter ihr. Die Option ‚Kampf’ schied aus, denn ihr Gift würde maximal zehn Gegnerinnen ausschalten können. Andererseits war der Weg bis nach Hause zu weit und sie würde es nicht mehr bis zum Kollektiv schaffen, Jedenfalls nicht bis zu ihrem Kollektiv. Also entschied sie sich zu einem Kurswechsel und passierte die Grenze. Nalomas Soldatinnen flogen ihr entgegen, im selben Moment drehten ihre Verfolgerinnen ab. Sie leistete keinen Widerstand, als drei Stacheln in sie eindrangen und die tödliche Substanz injizierten. Wichtig war, dass ihr Bericht wenn nicht das eigene, so wenigstens doch ein verbündetes Kollektiv erreichte.

Tilimos blickte besorgt in die Landschaft und ahnte, dass die Idylle trog. Die gigantischen Blumenfelder durchzogen beinahe das ganze Land und machten fast den gesamten Kontinent bewohnbar. Seit Jahrhunderten wurden die Homoschinen weiterentwickelt und waren nun fast selbstständig in der Lage, ganze Landstriche zu bewässern und die Bestäubung der Blüten und Aussaat neuer Samen zu verrichten. Tilimos versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste, als die Bienenvölker noch große Mengen an Arbeiterinnen produzieren mussten, nur um die Vermehrung ihrer Nahrungsgrundlage zu sichern. Noch vor wenigen Millionen Jahren waren die Bienen fast so primitiv wie alle anderen Insekten gewesen. Die Vorfahren verfügten nämlich noch nicht über Kontaktsynapsen, mit denen die einzelnen Bienen Nervenimpulse austauschen und zu einem gigantischen Netzwerk verschmelzen konnten; stattdessen kommunizierten sie über einen komplizierten und ineffizienten Schwänzeltanz.

Tilimos war ein Bewusstsein, dass sich auf Millionen meist weiblicher Individuen verteilte, die alle einander berührten. Hin und wieder verließen einzelne Bienen das gigantische unterirdische Nest in der Rolle einer Arbeiterin, Soldatin oder Kundschafterin. Auch größere Verbände Tilimos konnten in Formation das Kollektiv kurzfristig verlassen, wenn es um anspruchsvollere Aufgaben wie etwa den Bau komplexer Maschinen ging.

Ein Fernruf traf ein. Die Wächterinnen über der Erde berührten das Kupferkabel und leiteten die Signale hinunter ins Nest. Tilimos Befürchtungen sollten sich bestätigen.
„Hier spricht Naloma! Wahrscheinlich existiere ich nicht mehr, wenn diese Meldung bei Dir eintrifft. Du hast in unserem gestrigen Gespräch berichtet, dass keine Deiner Arbeiterinnen aus dem nördlichen Quadranten zurückkehrte. Wie ich vermute, sind auch die Kundschafterinnen, die Du heute entsandt hast, überfällig. Wie Du weißt betätige ich mich ausschließlich auf den östlichen Blumenfeldern, somit war mir bis jetzt keine Anomalie aufgefallen, obwohl ich nahe der nördlichen Grenze wohne. Heute aber überflog eine Deiner seit gestern vermissten Arbeiterinnen unautorisiert meine Grenze. Die Soldatinnen haben sie abgefangen und ihre Informationen heruntergeladen. Tilimos, Du hattest stets recht mit Deiner Skepsis! Es ist geschehen, die Menschen sind außer Kontrolle!“

Besorgt lauschte Tilimos den aufgezeichneten und elektronisch verschickten Gedanken Nalomas. Ja, Tilimos war stets dagegen, die Urform des Menschen zu studieren. Vor 80 Millionen Jahren, dies belegen Fossilien, war der Mensch technisch hoch entwickelt. Einige Bienenvölker vertraten die Ansicht, der Mensch habe sogar ein Bewusstsein gehabt. Für Tilimos waren diese Überlegungen abstrus, denn in diesem Falle hätte der Mensch ja die Folgen seines Handelns absehen und die Katastrophe abwenden können. Dass der Untergang der menschlichen Zivilisation dennoch folgte, war doch der klare Beweis, dass ein solches Bewusstsein fehlte. Wie sollte denn ein einzelnes Individuum höhere geistige Fähigkeiten erlangen? Ein Wirbeltier ohne die Fähigkeit, sich neuronal zu Kollektiven zu vernetzen? Ein einziges Gehirn?

Nach dem Untergang der Menschen befanden sich fast alle Tier- und Pflanzenspezies der Erde am Rande der Ausrottung. Doch die Evolution stand nicht still, und so wurden die Bienen zur Krone der Schöpfung. In den letzten hunderttausend Jahren schließlich lernten sie, ihre Pflanzen systematisch anzubauen und verwandelten fast den gesamten Kontinent in eine wahrhaft blühende Landschaft. Die letzten Wildmenschen wurden von den Bienen als Nutztiere kultiviert und genetisch verändert. Die Entwicklung des menschlichen Großhirns wurde gehemmt, da man um das Gefahrenpotential dieses Organs wusste. Der Mensch musste kontrollierbar sein. Später dann hatte man auch Menschenformen mit Kontaktsynapsen gezüchtet, welche direkt von Arbeiterinnen programmiert und gesteuert werden konnten. Sie wurden für industrielle Zwecke und insbesondere in der Landwirtschaft zur Gewinnung von Nektar, zur Blumenbestäubung und zur Bewässerung eingesetzt. Sie wurden als Homoschinen bezeichnet. Doch in einigen Forschungsanlagen probierte man, die Urform des Menschen zurück zu züchten. Es ging hier nur um Grundlagenforschung ohne jeden praktischen Nutzen. Man wollte einfach das geistige Potential dieser Wirbeltiere studieren.

Tilimos widmete sich wieder Nalomas Nachricht: „Wir wissen nicht, wann und aus welcher Forschungsanlage diese Menschen entkommen waren, doch sie müssen sich schon viele Jahre unbemerkt in Freiheit befunden haben. Sie haben voll entwickelte Großhirne und Kontaktsynapsen. Dies bedeutet, dass sie zur Vernetzung fähig sind. Sie müssen sich in den wenigen unbewohnten Gebieten des Kontinents versteckt gehalten und ihren Angriff dort von langer Hand geplant haben. Jetzt sind sie von Norden her eingefallen und haben die Homoschinen umprogrammiert. Mit ihren Kontaktsynapsen konnten sie die Kollektive der Nordzone assimilieren. Wie Du weißt, Tilimos, fanden Assimilationen auch in den düsteren Zeiten der vorindustriellen Bienenkriege statt. Kollektive unterwarfen andere Nester, schalteten deren Bewusstsein aus, luden ihre Informationen ins eigene Kollektiv herunter und kontrollierten deren Individuen. Jetzt sind die Bienenvölker des Nordens unter menschlicher Kontrolle. Ihr Ziel scheint die totale Unterwerfung aller Bienenvölker zu sein. Ich werde nicht zulassen, dass wichtige Informationen in die Hände des Feindes fallen, daher beginnen meine Arbeiterinnen und Soldatinnen in diesen Minuten damit, sich gegenseitig zu töten. Tilimos, leite diese Nachricht weiter an die Völker im Süden, Westen und Osten. So unglaublich es nach den Jahrtausenden des Wohlstands scheint, von heute an herrscht Krieg!“

Die Nachricht war zu Ende. So schockierend ihr Inhalt auch war, irgendwann musste ein solches Unglück geschehen. Die Bienen hatten mit dem Feuer gespielt, sie versuchten, eine Kraft zu kontrollieren, die nicht zu kontrollieren war. Die eigene Errungenschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt Frieden und Wohlstand gesichert hatte, wurde nun zur existentiellen Bedrohung für die gesamte zivilisierte Welt. Tilimos sinnierte, ob es eines Tages eine andere intelligente Spezies auf diesem Planeten geben könnte, die darüber streiten würde, ob die ausgestorbenen Bienen tatsächlich ein Bewusstsein gehabt hatten. Sie hätten doch erkennen müssen, dass sie ihre Lebensgrundlage und damit sich selbst früher oder später durch ihr Handeln zerstören würden. Denn die Gefahr lag ja auf der Hand: Ein Wirbeltier, dass sich selbst und die ganze Welt einst an den Rand der Ausrottung gebracht hatte, war ein sehr gefährliches Werkzeug!

Letzte Aktualisierung: 22.07.2011 - 23.27 Uhr
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