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Mysterium | August 2011

Wechselwirkung
von Anne Zeisig

Früher konnte ich immer direkt hinterm Bahnhof kostenlos parken.
Links stand das Postgebäude und rechts das der Hibernia-Brauerei.
Direkt gegenüber befand sich die Fußgängerzone.
Jetzt ist alles anders.
Ich irre seit Stunden umher.
Warum?
Weil ich für mein Graueselchen Marlies eine Flasche Parfum zum fünfundsechszigsten Geburtstag kaufen muss.

Früher gab es bei uns im Viertel eine kleine Drogerie, einen Blumenladen und einen Bäcker, wo man ‘ne aromatische Tasse Kaffee trinken konnte.
Jetzt gibt es nur noch den Blumenladen.
Da habe ich jedes Jahr rote Rosen für Marlies gekauft.
Diesmal muss es Parfum sein.
Ich müsse frischen Wind in unsere langjährige Ehe bringen und solle gewohntes Einerlei verlassen, meint unsere Tochter Julia.

Endlich!
Die Fußgängerzone ist in Sicht.
Die Sonne brennt unbarmherzig auf meine Halbglatze.
Früher waren Sonnentage angenehmer.
Ich habe Durst.
Meine Zunge hat sich an meinem unteren Gebiss festgesogen. Ich fürchte, der Zahnersatz könne auseinanderbrechen, wenn ich sie löse.
Also lass ichs bleiben und kehre bei ‘Schibohne’ ein. Eine gute Tasse Kaffee wird meine Zunge lösen.

“Ich hädde gerne eene Dasse Gaffee.”
Die nicht mehr ganz taufrische Dame hinter der Theke zupft ihr braunes Shirt mit der Aufschrift ‘Röstfrisch’ über ihrem üppigen Busen zurecht.
“Mit Milch? Latte aufgeschäumt? Aufgebäumt? Fester Schaum? Halbfest oder flüssig? Mit Amaretto, Konfetti, Pavarotti, Salti oder ohne?”
“Sfarss.”
Ihre Oberlider zucken. “Schwarz also. Im Cup-to-go, Worldcup oder Cuperose-to-home? Big? Bigger? Oder lieber am Biggesten? Zehn-XL haben wir auch! Hat aber Lieferzeit.”
“Dasse sum Hierdringen.” Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und ignoriere die Mitleidsblicke der vermeintlich Röstfrischen.
“Und die Bohnen? Aus Brasilien oder vom Äquator? Sonnenverwöhnte Steillage mit leichtem Abhang oder lieber aus dem vernebelten Hochmoor Schottlands? Das ist dann aber auch kein kräftiger Arabica! Der Geschmack ist eher zart, herb und trocken.”
Ein noch trockeneres Mundgefühl kann ich nicht gebrauchen.
“Flüsig und heis.”
“Wie heiß soll’s denn sein? Fünfundneunzig Grad, fünfundsiebzig wie Espresso oder ... “
Ich verlasse den Laden und begebe mich auf die Suche nach der Parfümerie aus dem Werbefernsehen: ‘Komm rein und finde raus.’ Mein Enkel hat ‘s mir übersetzt.
Viel Speichel steht mir nicht zur Verfügung. Ich sammele jeden kostbaren Tropfen in meiner Mundhöhle und löse vorsichtig meine Zunge vom Gebiss.
Die Leute könnten ja denken, ich sei in meinem Alter ein logopädisches Abfallprodukt.
Das ist die erste Flasche Parfum, welche ich für Marlies kaufe. Da darf mir kein Fehler passieren, nur weil meine Rhetorik defekt ist.
Ich werde ein mittelgroßes Fläschchen ‘Echt-Rheinisch-Wasser’ aus dem Hause ‘4812' kaufen und die Sache ist ruck, zuck erledigt.
Ha! Ich weiß, was ich will, und werde schnell wieder hinausfinden aus dem Duftladen.
Das ‘Rheinische Wasser’ kenne ich aus meiner Kindheit.
Für meine Mutter war das ein Elixier in allen Lebenslagen: Bei Kopfweh und Hitzewallungen, gegen Rheuma und Impotenz. Sie hat sich und meinen Vater quasi bei jeder sich bietenden Gelegenheit besprüht.
“Und noch ‘n paar Spritzer über Heinz-Jürgens frisch gewaschene Pullis!”
In der Schule nannten sie mich den ‘Rheinischen Duftboy vom Rhein-Herne-Kanal’!
Aber die Mädels standen drauf. Da habe ich mir das Zeug literweise in die Unterhose gesprüht.
Vielleicht wirkt es ja auch bei Marlies?

Nun stehe ich also in dem LED-durchfluteten Glas- und Spiegeltempel vor einer Rothaarigen mit übergroßer schwarzer Hornbrille auf einem niedlichen Näschen über dem knallroten Kussmund.
Eine durchaus erotische Erscheinung, wenn da nicht ihre Krächzstimme pausenlos auf mich einreden würde, während sie unzählige Fläschchen öffnet, Papierstreifen hinein- und alsdann mir unter die Nase hält.
“Wenn Ihre Frau über sechzig ist, graues Haar hat und noch nicht botoxbehandelt ist, dann brauchen wir einen dominanten Duft, der von der Realität ablenkt!”
Bevor ich verlangen kann, was ich will, fährt sie ohne Luft zu holen fort.
“Wie wäre es mit ‘Hot-Water-Wave’. Ein Duft, der wie eine heiße Welle über die Geruchszellen weht und alle Nasenschleimhautfalten glättet! Auch ‘Grey-Naturel-Killer’ könnte ich mir vorstellen, weil das blumige Odeur mit einem Hauch Kräuter die Trägerin blumig duften lässt. Beides gibt es in big, bigger und am biggesten. Zehn-XL können Sie außerdem erhalten, das hat jedoch Lieferzeiten.
Dann wäre da noch ‘Touch-of-Cellulite’, allerdings ist die Verpackung nicht jedermanns, äh, jeder Frau gefällt ‘s nicht.”
Sie hält mir einen Würfel aus grauer Wellpappe entgegen.
Früher waren bei uns in der Firma die rostigen Schreck-Schrauben in solchen Verpackungen untergebracht.
“Ich möchte gerne ‘Echt-Rheinisch-Wasser’ von ‘4812', da sieht auch die Verpackung gut aus.”
“Wir sind eine junge, dynamische Parfümerie und kein Antiquitätenladen!”
Ich klemme mir eine schwarze Hochglanzverpackung unter den Arm und bezahle.
“Duft und Wirkung entsprechen aber nicht Ihrer Altersklasse.”
Mir egal. Ich habe Kaffeedurst und finde hoffentlich den Ausgang.

* * *

Habe dann auch noch im Blumenladen bei uns um die Ecke Rosen besorgt und platze direkt hinein in die Kaffeetafel.
“Papa! Wo bleibst du denn? Ich habe mir Sorgen gemacht”, zischt Julia mich an, “schließlich warst du schon Ewigkeiten nicht mehr mit dem Auto in der Stadt. Dir hätte ja was passieren können.”
“Du hast mich doch hinaus ins feindliche Leben geschickt! Vergessen?”, fauche ich zurück und drücke meiner Holden die Rosen und das Päckchen in die Hände.
Marlies zieht erstaunt ihre Stirn kraus, reißt herzlos die Verpackung auf und verkündet lautstark allen Anwesenden: “Oh! Das Parfum heißt ‘Mysterisex’!”
“Wer hat Sex?”, fragt die Schwiegermama, “hab mein Hörgerät nicht auf!”
Das Gesicht unseres dreizehnjährigen Enkels läuft einschließlich seiner blonden Haare purpurrot an. “Ey! Ich glaub es nich! Die Alten sind ja voll abgedreht! Igitt!” Er verlässt fluchtartig den Raum.
Julia meckert mit pädagogischer Oberlehrerstimme, wir hätten auf den Pubertierenden Rücksicht nehmen müssen und läuft ihrem Sohn hinterher.
Unser Schwiegersohn rückt seine Krawatte zurecht. “‘tschuldigung, aber Julia und Sohnemann sind derzeit etwas sensibel.” Er zwinkert mir zu. “Wünsch euch ‘ne gute Nacht.”
Mein Graueselchen umarmt mich. “Willst du einen Kaffee?”
“Und wer bringt mich ins Seniorenstift?”
Ich. Den Weg kenne ich ja.

* * *

Bereits in der Diele tönt mir der Song ‘Je t’aime’ entgegen. Marlies muss die Anlage oben im Schlafzimmer voll aufgedreht haben.
Sie empfängt mich tänzelnd und wirbelt mit einem Hauch-Von-Nichts-Nachthemd durch den Raum. Die Balkontür ist weit geöffnet.
“Willst du dich erkälten?” Ich schließe die Tür.
Marlies presst sich eng an meinen Rücken und raunt mir mit heiserer Stimme ins Ohr. “Siehst du, wie golden die Sterne schimmern? Nur für uns hat der Himmel sein Festkleid angelegt.”
Ich sehe keine Sterne, weil es bewölkt ist.
Sie beginnt, meine Schultern zu massieren.
“Mystische Wolken begraben das Licht.
Es ist schon spät, doch schlafen kann ich nicht.
Wer fuhr so spät die Mutter noch ins Heim.
Es war mein Gatte, konnt’ nicht bei mir sein.
Verzehre mich nach ihm dank meiner Gier.
Heinz! Mein Liebster! Bleibe bei mir.
Bevor die Mystik mich dunkel umgibt.
Ach, ich habe dich so schrecklich lieb.”
Ich drehe mich abrupt herum und fasse mein Graueselchen bei den Schultern.
Früher hat sie doch nie gedichtet!
“Hauch mich an. Wein oder Sekt. Oder beides?”
Marlies lässt sich rücklings auf unser Ehebett fallen, reißt sich das Nichts von Hemd herunter und stöhnt. “Lass mich dein Mysterium sein.”
Irgendwie stinkt es in unserem Schlafzimmer nach ...
Toilettenreiniger?
Chlorreiniger?
Ich öffne die Tür und gehe auf den Balkon zum Luftschnappen.
Marlies schnarcht, als ich unser Schlafgemach wieder betrete.
Mein Graueselchen ist immer noch eine attraktive Frau. Ich bedecke ihre Blöße und gehe dem Gestank schnüffelnd auf den Grund.
Marlies stinkt wie eine Klofrau in Altersteilzeit.
Das Parfumfläschchen auf dem Nachttisch ist halb geleert und die Weinflasche daneben komplett.
Offenbar hat die Wechselwirkung der beiden Flüssigkeiten einschläfernde Wirkung.
Einen Beipackzettel finde ich nicht und gieße den Rest ‘Mysterisex’ ins Klo.
Ob mir unser Schwiegersohn übers Internet ‘4812 Echt-Rheinisch-Wasser’ bestellen kann?

© anne zeisig
Endfassung

Letzte Aktualisierung: 26.08.2011 - 09.11 Uhr
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