Diese Seite jetzt drucken!

Mysterium | August 2011

Der Traum hinter dem Apfelbaum
von Sylvia Seelert

Im Garten

Ein Raunen lief durch Holunderbüsche und Brombeersträucher, als Alice den Garten betrat. Laub raschelte unter ihren Füßen im hohen Gras. Behutsam tastete sie sich durch die Sträucher, schob die langen Ranken zur Seite und entdeckte schließlich eine kleine Lichtung. Knorrige Obstbäume standen schützend um einen Apfelbaum, der zersplittert am Boden lag. Sein gebrochener Stumpf ragte wie ein fransiger Phallus aus der Erde.
„Wie traurig“, murmelte Alice und strich langsam über die alte Borke. Dann stutzte sie, denn inmitten der Splitter lag eine schmale Pfeife. Sie hob sie hoch, betastete das Material. Es fühlte sich kühl und glatt an. Drei Löcher befanden sich darin.
„Wie ein Hühnerknochen“, dachte Alice laut und blies hinein.
Kein Ton erklang. Nur die Sträucher duckten sich unruhig im Wind, peitschten mit den Zweigen. In der Ferne donnerte eine Stimme.
„Aaaaaliiiice … komm sofort ins Haus!“
Sie rannte zurück, riss sich an einer Brombeerranke den Arm auf. Blut tropfte auf ihr T-Shirt und klebte an den Blättern.

Im Haus

„Herrgott, dieses Kind. Hört nie.“
„Sie kommt doch schon, Heinz. Sieh doch!“
„Und sieh du, wie deine Tochter wieder ausschaut. Muss sie denn immer im Dreck spielen? Ich hab keine Lust, ihr ständig neue Klamotten zu kaufen. Dafür geh ich nicht schuften!“
„Heinz, sie ist doch noch ein Kind.“
„Ja, dein Kind. Du hast sie nicht im Griff. Sie braucht eine starke Hand!“
„Heinz, nicht …“

In der Nacht

„Als der Mond hell am Himmel stand, trat der Pan auf seinen bocksbeinigen Füßen aus der Höhle.“
„Mama, was sind bocksbeinige Füße?“
„Weißt du, der Pan ist halb Mensch und halb Ziegenbock. Daher seine bocksbeinigen Füße.“
„Oh, das klingt schaurig.“
„Oh ja, das ist auch schaurig. Die Menschen fürchteten den Anblick des Hirtengottes. Das Spiel auf seiner Flöte konnte sie in den Wahnsinn treiben. Und doch baten sie ihn um Schutz für ihre Herden.“
„Mama, lass ihn uns auch um Schutz bitten!“
„Ach, Alice …“

Im Garten

Wolken türmten sich zu dunklen Burgen am Himmel. Ein Regengürtel wand sich um das Haus mit dem verwilderten Garten. Doch im Garten selber, an dem umgestürzten Apfelbaum, fiel kein Tropfen nieder. Alice stand am Baum und blies auf der Flöte. Obwohl kein Ton erklang, tanzte sie um den Stumpf herum.
Zwischen den Blättern der Sträucher schob sich ein stupsnasiges Gesicht hindurch. Ein Bärtchen kringelte sich zitternd am Kinn.
„He du“, rief er Alice zu. „Dein Spiel nervt.“
Alice schrie auf und drehte sich mit aufgerissenen Augen zu ihm um.
„Bist du der Pan?“, fragte sie mit kieksiger Stimme.
„Der Pan?“
Er lachte und schob seinen nackten Körper gänzlich aus den Büschen.
„Wenn du willst, nenne mich Pan.“
„Aber du hast keine Ziegenbeine“, rief sie enttäuscht und starrte auf die riesige Schlange in seiner Körpermitte.
„Beißt die?“
„Sie kann beißen, wenn du sie reizt. Aber jetzt ist sie ganz lieb!“
Leichtfüßig tänzelte er um sie herum.
„Gib mir die Flöte und ich zeige dir, wie man sie spielt!“
Kaum berührten seine Lippen die Flöte, so erklangen die lieblichsten Töne daraus. Alice und der Fremde tanzten um den Baum.
„Zeig mir, wie das geht. Ich möchte auch so spielen können!“
„Du musst bereit dafür sein!“, antwortete der Fremde. Dann lachte er und verschwand hinter den Bäumen.

Im Haus

„Verdammt, das Essen ist kalt. Und diese Pampe schmeckt nach Scheiße!“
„Bist heute später gekommen, musste alles warm halten.“
„Ach so, bin ich jetzt schuld? Schiebe Extraschichten, um den Kredit für dieses Haus abzubezahlen. Da kommt man halt mal später!“
„Ich wollte das Haus doch gar nicht …“
„Alles schieb ich dir und deiner Göre in den Arsch. Und wo bleibt der Respekt? Ich werde dir zeigen, was Respekt heißt!“
„Heinz, nicht …“

In der Nacht

„Mama, tut das weh?“
„Nein, Alice. Alles ist gut!“
„Erzählst du mir mehr vom Pan? Was geschah, als er aus seiner Höhle kam?“
„Nun, die Hirten hatten ihn durch ihr lautes Spiel geweckt. Und dem Pan ist der Mittagsschlaf heilig. So war er recht ungehalten und schlug mit seinem Schäferstab nach den Schafen. Sie stoben in großer Angst auseinander und die Hirten schreiend hinterher. Da lachte der Pan wieder fröhlich und spielte ein Lied auf seiner Flöte.“
„Du, Mama. Im Garten habe ich den Pan gesehen. Er hatte aber keine Ziegenfüße.“
„Ach Alice, du hast geträumt …“

Im Garten

Summend mähte Alice mit einer Sichel das Gras unter den Obstbäumen. Die Sonne blinzelte durch das Blätterdach und warf goldgelbe Sprenkel auf den Boden.
„Was machst du da?“, fragte er neugierig vom Baum herab.
„Einen Platz zum Ausruhen. Eine Decke hab ich auch mitgebracht.“
„Warte“, rief er und sprang von dem Ast zu ihr hinunter. Er nahm die Sichel aus ihrer Hand, drehte sich wie ein Wirbelsturm um die eigene Achse, so dass die Gräser unter dem Sausen der Klinge hoch aufspritzten, um sich dann matt auf den Boden zu legen.
„Fertig“, strahlte er sie an.
Alice breitete eine karierte Decke auf den Boden aus, legte sich hin und klopfte auf die rechte Seite der Decke.
„Komm“, forderte sie ihn auf.
Er legte sich zu ihr. Sie spürte die Wärme seines Körpers an ihrer Seite und roch seinen erdigen Geruch.
„Du riechst nach Wald und Erde. Ich mag das.“
Er lächelte und strich sanft über ihr Haar.
„Und du duftest nach Flieder. Das mag ich auch.“
Er setzte die Flöte an seine Lippen und spielte eine beschwingte Melodie. Der wilde Wein, der seine überbordende Heimstatt entlang der Steinmauer gefunden hatte, nickte mit seinen dreispitzigen Blättern dazu.
„Wann zeigst du mir, wie ich auf der Flöte spielen kann?“
„Wenn du bereit bist!“ Und er lachte sie herausfordernd an. Dann nahm er die Sichel in die Hand und ließ sie langsam durch die Luft sausen.
„Sie hat eine gute Klinge. Behalte sie immer in deiner Nähe.“
Und er drückte sie ihr in die Finger.
Sie blickte auf seinen Schoß.
„Deine Schlange ist wirklich groß. Die von Heinz ist nur ein mickriger Regenwurm. Ganz faltig und schlapp.“
Sie kicherte.
„Darf ich sie berühren?“
„Nein!“
Er sprang auf und tänzelte aus ihrer Reichweite.
„Niemals, wirklich niemals darfst du sie anfassen. Dann erwacht sie zum Leben und ich werde sie nicht halten können. Hörst du? Fass sie nicht an!“
Er verschwand in den Büschen und scheuchte dabei drei Krähen auf, die nach Beeren pickten.

Im Haus

„Komm, ich will ficken.“
„Ich bin müde.“
„So, die feine Dame ziert sich. Was soll ich sagen? Hab wieder zwölf Stunden geackert, damit ihr ein Dach über den Kopf habt. Du und dein Bastard. Ich will nur das, was mir zusteht.“
„Nicht, die teure Bluse.“
„Stell dich nicht an. Die hab ich doch bezahlt.“
„Das Kind. Nicht vor dem Kind.“
„Dann kann sie gleich lernen. Komm mal her, Alice…“
„Heinz, nicht …“

In der Nacht

„Mama, es tut weh.“
„Ich weiß, meine Kleine. Schscht… Alles wird gut. Ich verspreche es dir.“
„Das hast du schon so oft gesagt.“
„Ach, Alice …“

Im Garten

Der Wind jagte die Wolken wie eine aufgescheuchte Schafsherde über den Horizont. Gelbe Blätter rieselten von den Bäumen und verdeckten das Grün der Wiese. Alice saß angelehnt am Apfelbaum und wiegte den Oberkörper immer wieder hin und her. Sie summte dabei. Sie hob nicht einmal den Kopf, als ihr Summen von Flötenspiel durchwebt wurde.
„So traurig heute?“
Er setzte sich neben sie und wischte ihr die Tränen aus den Augen. Seine Finger waren ganz warm und energiegeladen. Eine wohlige Glut zog sich bis in ihren Magen hinein.
„Jetzt“, flüsterte er ihr ins Ohr, “bist du bereit. Komm heute Nacht in den Garten und steige auf den höchsten Baum. Dann werde ich dir deine Sehnsucht stillen.“
Sie blickte scheu durch ihr langes Haar zu ihm hoch. Ein zaghaftes Lächeln blitzte kurz in seine Richtung. Dann nickte sie.

In der Nacht im Haus

„Los, Alice, berühr ihn.“
„Nein.“
„Komm schon, kleine Schlampe. Jetzt zier dich nicht!“
„Nein.“
„Kleines Miststück, gib mir sofort deine Hand. Hey, was hast du da in der Hand? Leg das sofort hin. Alice, ich warne dich. LEG ES HIN! AAAAALICEEEE …“

In der Nacht im Garten

Der Mond blickte rot glühend auf den Garten und durchzog ihn mit finsteren Schatten. Alice rannte durch die Büsche zum Apfelbaum in der Mitte. In den Schatten suchte sie nach der höchsten Baumkrone. Sie kletterte hinauf, zerriss sich dabei an den Ästen ihr Nachthemd.
„Du bist gekommen!“
Sein Gesicht wirkte wilder und härter im Licht des Blutmondes. Seine Zähne blinkten hell und spitz, als er lächelte.
„Nimm meine Hand!“
Sie schob ihre kalten Finger in seine warme Hand.
„Oh“, rief sie. „Jetzt hast du Ziegenbeine!“
Er lachte kehlig und feurig zugleich.
„Ich bin doch der Pan. Und du hast mich gerufen!“
Er hob die Flöte hoch und spielte mit einer Hand eine wilde, schnelle Melodie. Bei den ersten Tönen erhob sich der Wind aus seinem Nachtbett und zerrte mit vielen Fingern an ihrem Hemd und den Haaren. Der Mond pulsierte, wurde noch größer und glühte wie Lava.
„Und nun gehört die Flöte dir!“
Sie hielt das Instrument in ihrer Hand. Seine Lippen waren dicht an ihrem Ohr, seine Zunge züngelte an ihrem Ohrläppchen entlang.
„Lass dich fallen.“
Sie fiel und im Fallen noch setzte sie die Flöte an ihre Lippen und spielte ein Lied, bei dessen Melodie der Boden in blutrote Tränen ausbrach.

Letzte Aktualisierung: 16.08.2011 - 00.47 Uhr
Dieser Text enthält 9511 Zeichen.


www.schreib-lust.de