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Mysterium | August 2011

Sprachfehler
von Karl-Otto Kaminski

Astrid behauptet, ich hätte gar keinen Sprachfehler, aber das weiß ich besser. Ich leide seit meiner Kindheit unter dieser Behinderung. Ich kann nicht zur rechten Zeit Nein sagen. Schon bei meinen Geschwistern, Spielkameraden und Mitschülern war das so. Und im Büro mache ich heute widerspruchslos alle ungeliebten Arbeiten und unangenehmen Gänge, vor denen sich meine Kollegen gern drücken. Ich koche, wenn auch ungern, für alle im Büro Kaffee; außer für Frau Pelzig, die trinkt nur Früchtetee. Ich muss die Frau unseres Chefs anrufen, wenn der wieder mal „Überstunden“ macht. Dabei weiß jeder im Haus, dass diese Überstunden aus einem Tête-à-tête mit der flotten Blondine aus der Exportabteilung bestehen. Aber man schiebt die peinliche Lügerei einfach mir zu. Weil ich nicht Nein sagen kann.
Den Nachbarn Lehmkuhl bringe ich ihren Müll runter, obwohl beide viel jünger sind als ich. Sie bitten mich, und ich sage nicht Nein.
Unser Briefträger hat es auf einmal mit der Bandscheibe und bittet mich, die Post für die zwölf Empfänger in unserem vierstöckigen Haus raufzubringen. Ich kann ihm seine Bitte nicht abschlagen. Dabei wohnen Astrid und ich in der ersten Etage.

Ach ja, Astrid! Die hat mich abgerichtet, wie einen Pudel.
„Wenn du beruflich schon keine Karriere machst, muss es zuhause wenigstens zum Putzen reichen“, findet sie. Also wische und sauge ich seit Jahren Staub, reinige Fenster, wienere Klinken und Gardinenstangen aus Messing, bringe das Tafelsilber auf Hochglanz …
Währenddessen kuschelt sich meine Frau mit einem Buch in ihre Lieblingsecke unserer Wohnzimmercouch oder trifft sich mit Freundinnen.
Oft möchte ich ihr den Putzlappen vor die Füße werfen und mit Ewald und Jost in der Eckkneipe ein paar Bierchen trinken und eine Runde Billard spielen. Mein Sprachfehler hindert mich. Wenn ich mal was einwenden will gegen Astrids Anweisungen, schaut sie mich mit einem unechten Lächeln an, das die Steilfalten auf ihrer Stirn aber nicht wegbekommt.
„Bitte!“, sagt sie dann. Aber das ist keine Bitte, das ist eindeutig ein Befehl.
Obwohl ich mir bei der Putzarbeit größte Mühe gebe, kritisiert sie mich ständig. Der Standspiegel in unserer Diele sei nicht wirklich sauber, behauptete sie heute, während sie sich davor rasch noch einmal die Nase puderte. Sie hasse es, Staubpartikel oder Fingerabdrücke zu sehen, wenn sie ihre Garderobe oder den Sitz ihrer Frisur kontrolliere. Dann rauschte sie ab zum Kaffeeklatsch mit Lilo.

Jetzt stehe ich vor dem alten Möbel in pseudobarockem Rahmen. Obwohl ich beim besten Willen weder Flecken noch Staub darauf erkennen kann, hebe ich meinen Putzlappen, der mir fast schon an der rechten Hand festgewachsen ist, und will mürrisch beginnen, die saubere Fläche zu bearbeiten.
Da rast ein Adrenalinstoß durch meine Adern. Meine rechte Hand ist plötzlich nicht mehr da, wie knapp über dem Handgelenk abgeschnitten. Es tut aber nicht weh. Es blutet auch nicht. Ich kann sogar die Finger bewegen, spüre das feuchte Tuch. Nur sehen kann ich beides nicht mehr. Mein Arm endet an der Spiegelscheibe, der Rest scheint auf der Rückseite zu sein.
Vorsichtig bewege ich meinen Arm rückwärts. Zentimeterweise folgt ihm der Handrücken, werden die Knöchel sichtbar, der Ehering, ein Zipfel Putztuch. Dann gehört endlich alles, wenn auch vor Schreck zitternd, wieder zu mir.
So etwas gibt’s doch nicht! Nur langsam bekomme ich meinen flatternden Körper wieder unter Kontrolle, auch die eben noch abwesende Hand. Der Schock über das jeder physikalischen Erkenntnis widersprechende Ereignis lässt langsam nach. Dafür kommt Neugier in mir auf. Wenn es eine Sinnestäuschung war, lässt die sich wiederholen? Oder habe ich womöglich die Fähigkeit entwickelt, feste Gegenstände zu durchdringen?
So was gab es doch schon mal in einem alten Film. Da konnte jemand, den man vorher ständig untergebuttert hatte und der deswegen in wahnsinnigen Stress geraten war, plötzlich mühelos durch alle Wände gehen und sich wehren. Habe ich jetzt diese Stressschwelle erreicht oder überschritten? Soll ich das noch mal versuchen? Ich muss es einfach tun. Vorsichtig nähere ich mich dem Spiegel, berühre die kühle Fläche mit den Fingerspitzen. Das Glas gibt dem leichten Druck nach, als wäre es eine Art trockener Flüssigkeit, senkrecht in einen dunkelbraunen Holzrahmen gespannt. Meine Finger verschwinden darin, die Hand, der Arm. Mein Gesicht kommt jetzt seinem Spiegelbild entgegen.
Nun will ich es wissen! Ohne jeden Widerstand dringen Nase, Stirn und Jochbein in die glatte Fläche ein. Vorsichtshalber halte ich die Augen geschlossen, während ich mich weiter vorwage. Ich weiß, hinter dem Spiegel befindet sich unser eheliches Schlafzimmer. Doch zwischen dem und mir steht eine feste, beidseitig mit Raufaser tapezierte Mauer.
Als ich die Augen wieder öffne, schaue ich jedoch nicht vor oder durch die Wand sondern total verblüfft in unsere Diele, nur jetzt offenbar von der anderen Seite. Meine rechte Hand, mein rechter Arm, der halbe Kopf und das linke Knie sind schon im Raum. Der Rest von mir befindet sich noch hinter dem Spiegel. Oder darin? Oder in der Wand? Oder wo?
Mit einem entschlossenen Schritt nach vorn füge ich die getrennten Teile meines Körpers zu einer Einheit zusammen. Aufatmend stehe ich, wieder komplett, in unserer Diele. Aber das kann ja gar nicht sein. Die habe ich doch eben verlassen, als ich durch die silbrige Glasscheibe schritt.
Und doch ist es unsere Diele. Alles befindet sich am richtigen Platz, jedenfalls fast. Die Eingangstür ist jetzt links und nicht rechts, wo sie sich in den fast zwanzig Jahren immer befand, die wir hier wohnen. Dafür ist die massive Messingklinke rechts angebracht. Die widerspenstige Ecke des teuren Orientläufers, über die man so schnell stolpern kann, ist links von der Tür statt rechts. Und das Ganze ist nicht nur ein Bild. Ich kann die Dinge ja anfassen. Alles ist real, nur eben verkehrt herum. Gibt es so was oder träume ich das nur? Wenigstens ist oben und unten noch da, wo es vorher war.
Und was ist mit mir? Irritiert blicke ich an mir herunter, erkenne auf den ersten Blick aber nichts Absonderliches. Doch dann fällt mir auf, dass mein Ehering am linken Ringfinger glänzt und meine Armbanduhr am rechten Handgelenk. Das Putztuch halte ich mit links statt mit rechts, wie gewöhnlich.
Ich wende mich zum Spiegel und erkenne die kleine Warze, die mich beim Rasieren immer ärgert, unten links am Kinn, nicht rechts, wie sonst. Der schnurgerade Scheitel teilt meine dürftigen Haare jetzt rechts, statt bislang links. Das heißt, im Spiegel war der Scheitel schon immer rechts, oder?
Verstört fasse ich an meinen Kopf, bewusst mit der rechten Hand. Tatsächlich! Auf dieser Seite des Spiegels ist offenbar alles anders. Das will ich jetzt ganz genau wissen.
Auf dem kleinen Tischchen unter dem schmalen Flurfenster liegt neben ein paar Illustrierten die heutige Tageszeitung. Ich greife nach dem Titelblatt.
Da! Überschriften, Texte, alles in Spiegelschrift! Nicht ganz einfach zu lesen, aber kein Problem für mich. Jetzt zeigt sich, dass Jugenddummheiten gelegentlich auch etwas Gutes haben. Lange und eifrig haben wir in der Schule geübt, mit Hilfe kleiner Frisierspiegel Briefe zu schreiben, die ihre Empfänger nur dann entziffern konnten, wenn sie dazu ebenfalls einen Spiegel benutzten.
Mit der Lektüre des Leitartikels habe ich kaum Probleme. Es ist fast so, als würden sich alle Buchstaben vor meinen Augen allmählich freiwillig umdrehen, je länger ich lese. Schon sind die Reportagen, Reklametexte und Todesanzeigen ganz leicht zu erfassen. Auch die seitenverkehrte Anordnung des Mobiliars, der Tür und des Fensters irritiert mich nicht mehr.

Seit ich den Spiegel durchschritten habe, wandelt sich diese gespiegelte Welt für mich erstaunlich rasch zur normalen Wirklichkeit, und in der fühle ich mich ausgesprochen wohl. Angewidert werfe ich den Putzlappen in den Schirmständer. Was wollte ich eigentlich damit? Prüfend klopfe ich gegen die kalte, harte Silberscheibe des Spiegels. Sie gibt nicht nach. Wäre ja auch nicht normal.
Auf meiner Stirn bilden sich zwei strenge senkrechte Falten, als ich die zwei hässlichen Fingerabdrücke auf dem Glas erkenne. Die können doch nur von Astrid stammen. Das Licht der späten Nachmittagssonne, das von Westen her durchs Flurfenster fällt, lässt daneben viele glitzernde Staubkörnchen aufleuchten. Hier ist also schon länger nicht geputzt worden. Sobald Astrid nach Hause kommt, muss sie das Möbel unbedingt sofort ordentlich abledern. Warum säubert diese Frau unsere Wohnung eigentlich nicht vernünftig? Verdammte Schlamperei! Ich muss ihr wohl mal richtig den Marsch blasen. Sobald sie wieder zurück ist, muss sie ran an die Arbeit. Da helfen keine Ausreden.

Letzte Aktualisierung: 20.08.2011 - 15.25 Uhr
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