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Mysterium | August 2011

Angst
von Hajo Nitschke

4. 10.

Gestern haben sie mich wieder beobachtet, Klaus. Ich untersuche schon seit Monaten meine Wände, bisher ist mir kein Erfolg beschieden. Wartet nur, ich kriege euch! Aber bis dahin werde ich alles dokumentieren.Nach bestem Wissen und Gewissen. Ich schwöre bei Gott, dass ich die Wahrheit schreibe. Die Welt wird sie früher oder später erfahren, dessen bin ich gewiss.


6. 10.

Mittags im Supermarkt. Ich stehe im Eingang, schräg hinter den Einkaufswagen mit den roten Griffen – Berichtigung: mit den gelben. Und wer steht vor meinem Wagen und wirft unauffällig einen Blick unter‘s Chassis? Tut, als sei ihm die Einkaufstüte entglitten und unter das Fahrzeug geraten? Ich habe ihn trotz seiner Kapuze erkannt. Hinter der glatten Fassade eines biederen Hauseigentümers und Nachbarn, der harmlos tut, obwohl er schon so viele Anschläge auf mich verübt hat, dass ich mich wundere, noch am Leben zu sein, wenngleich der Preis meine derzeit schlechte nervliche Verfassung ist, gegen die mein Arzt zum Glück gute Pillen hat, verbirgt sich ein Teufel. Das kann kein Mensch sein! Auch der Frau trau ich nicht über den Weg. Ein Verbrecherpärchen, das mir nach dem Leben trachtet. Ich werde mich teuer verkaufen. Allein schon die verschlagenen Blicke! Aber ich schütze mich jetzt außerhalb der Wohnung mit einer Sonnenbrille dagegen.


10. 10.

Die Werkstatt hat nichts gefunden, aber wem kann man heute schon trauen? Vielleicht brauche ich einen unabhängigen Sachverständigen. Wenn mir aber vorher etwas zustößt, bitte ich dich herzlich, dies für mich nachzuholen. Ich kann nicht völlig ausschließen – obwohl man gerne an den Sieg des Guten glaubt (aber oft enttäuscht wird) -, dass ihre Mordpläne - und die haben sie! – doch noch Erfolg zeitigen. Bitte veranlasse im Fall des Falles eine gründliche Untersuchung durch die Gerichtsmedizin plus zweitem, unabhängigem Gutachter. Vorerst werde ich meine Wohnung nicht mehr verlassen und von Vorräten leben.


14. 10.

Mein Junge, es ist bittere, gleichwohl unumstößliche Gewissheit. Sie wollten mich vergiften! Beide haben sich heute unter einem durchsichtigen Vorwand Zutritt zu meiner Wohnung erschlichen, genauer gesagt, zunächst zum Badezimmer. Dass ihre Wandfeuchtigkeit nicht aus meinem Bad kommt, stellte sich schnell heraus. Während er mich dann ins Gespräch verwickelte, verschwand sie in die Küche. Ich eilte sogleich hinterher und sah gerade noch, wie sie sich an meinem gefüllten Kaffeebecher zu schaffen machte. Ertappt, tat sie so, als ob ihr dieser simple Becher es angetan habe. Fragte mich scheinheilig, wo ich den käuflich erworben habe! Nach diesem Vorfall verwies ich beide sofort der Wohnung. Wie gut, dass sie wenigstens mein Schlafgemach nicht betraten. Ich hatte es sowieso abgeschlossen: Hier habe ich seit gestern die Wände mit Rigips-Platten verkleidet und diese mit Alu-Schichten beklebt. Wie auch immer man mich beobachten, durchleuchten, bestrahlen oder sonst wie mental beeinflussen will: so einfach werde ich es denen nicht machen! Und in meine Wohnung kommen sie nur noch über meine Leiche.


15. 10.

Habe morgens den Becher vom Labor abholen lassen. Nachmittags kam der Anruf, man könne keine toxischen Rückstände mehr nachweisen: Ich hätte den Auftrag gestern sofort erteilen sollen, oder das Gift hat sich zu schnell verflüchtigt. Aber vielleicht steckt sogar das Labor mit denen unter einer Decke, denn man will ja auch keine Anthrax-Spuren in ihren an mich gerichteten Schreiben, die ich nie gelesen habe – denn wenn es die Kündigung ist, werde ich sie ohnehin nicht akzeptieren -, nachgewiesen haben können. Ich werde künftig meine Sinne noch mehr schärfen. Das ist kein Spiel mehr. Es geht ums Überleben.


19. 10.

Grauenhaft! Ich vermag es kaum in Worte zu fassen: Der Teufel hat sich in meine Wohnung geschlichen. Mitten in der Nacht höre ich ein Geräusch. Vor Angst wage ich nicht, den Lichtschalter der Nachttischlampe zu betätigen. Dann sehe ich im Mondlicht, das durch den nicht zur Gänze - vielleicht zu drei Viertel oder vielleicht etwas mehr, aber nicht viel mehr – geschlossenen Rollladen scheint, eine Gestalt mit Kapuze. Ich hatte den Unseligen bereits einmal überführt, als er an meinem Auto herummanipulieren wollte. Da hatte er auch diese Kapuze auf. Ich stelle mich schlafend, bin aber dessen ungeachtet in Todesangst. Er leuchtet mit dem abgedämpften Strahl seiner Taschenlampe umher, so viel bekomme ich durch halbgeschlossene Lider mit. Als der Lichtkegel das Bett erfasst, endigt meine Selbstbeherrschung. Ich reiße die Augen auf, richte den Oberkörper empor, halte die Arme abwehrend vor’s Gesicht und schreie wie noch nie in meinem Leben. Wie der Blitz ist er verschwunden. Raffiniert ist er ja: diesen fragwürdigen Respekt muss ich ihm zollen! Keine Spuren zu finden und nebenan alles dunkel und ruhig!


20. 10.

Mittags kamen die bestellten Sicherheitsanlagen. Nach reiflicher Überlegung und sorgfältigem Abwägen von Für und Wider – du weißt ja, wie detailliert ich meine Entscheidungsprozesse schon vor der skandalösen Zwangspensionierung zu gestalten pflegte, so sorgfältig, dass missgünstige Mitarbeiter dies als zwanghaft geißelten [und wenn ich daran denke, erkenne ich noch heute, wie ungerecht unsere Welt ist (weil das Böse über das Gute triumphiert) und wie ohnmächtig der Einzelne zum Spielball finsterer Mächte gerät] und mich bei Vorgesetzten denunzierten – bin ich zum Entschluss gekommen, den Überfall nicht zu melden. Ich habe keine Beweise, Klaus, und der legt es womöglich nur darauf an. Man kennt das. Wie schnell wird man des Wahns geziehen! Aber nicht mit mir! Deshalb hab ich noch heute Morgen Rigips- und Alu-Verkleidung im Schlafzimmer wieder restlos entfernt. Dass mein Verstand funktioniert wie immer, weiß ich. Aber werden es auch andere wissen? Seit heute sind nun sämtliche Türen dreifach und und die Fenster mit Alarmsensoren gesichert. Erstmals seit dem Besuch der Werkstatt vor zehn Tagen habe ich mich heute – um 18.43 Uhr – wieder aus dem Haus getraut, einkaufen. Hab mich gut vorgesehen: Niemand ist mir gefolgt, ich hab sie überlistet und war um 19. 37 Uhr unversehrt zurück. Vorsorglich tastete ich vor Öffnen der Wohnungstür nach dem nahezu unsichtbaren Haar, welches ich zwischen Oberkante Tür und Rahmen befestigt hatte: Es war noch an seinem Platz.


27. 10.

Der Satan ist besiegt, Klaus! Wenigstens einer von beiden! Der Schlange in Gestalt eines Biedermannes habe ich den Kopf zertreten. Besser gesagt, den Kopf zertrümmert. Mit meinem Wagen.
Es ist jetzt spät und nach einem aufregenden Tag komme ich endlich zur Ruhe. Der Herzschlag normalisiert sich, ich bin bereit, die Ereignisse Revue passieren zu lassen. Du kennst deinen Vater, welcher der Lüge unfähig ist. Ich stehe um 16.44 Uhr (vielleicht war es auch schon 16.45 Uhr, aber nicht später. Eher früher) mit laufendem Motor in der Garagenausfahrt. Die Gedanken kreisen um die Frage, ob ich meinen Wohnort verlegen (wofür spräche, dass dies meiner nervlichen Gesundung zuträglich wäre, wogegen aber spräche, dass ich den beiden Verbrechern damit das Feld überließe, und du weißt, ich habe in meinem Leben nie so schnell nachgegeben, gerade deshalb hat mich Mama verlassen, was nun hundertdreiundach tzig Tage her ist. Ja, ich habe sie alle gezählt, diese einsamen Tage!) oder jetzt doch Anzeige erstatten solle.

Da ich getreu meiner Gewohnheit sehr akkurat sämtliche Optionen eruiere, verzögert sich die Abfahrt. Plötzlich taucht der Lump vor dem Auto auf und fuchtelt mit der Hand. Dreht sie, als wolle er mir den Hals umdrehen. Er hat etwas Blitzendes in der Hand und seine Haltung ist aufs Äußerste bedrohlich. Mir sträuben sich die Kopfhaare, ich reagiere wie ein Seismograph. Kupplung, Gang, Gaspedal bis zum Anschlag – es ist, als übernähme eine fremde Macht den Ablauf. Er oder ich! Und glaube mir, ich verdanke es nur meiner Geistesgegenwart, dass ich noch unter den Lebenden weile. Der Wagen schießt vorwärts, rammt den Verbrecher in den Boden, und es rumpelt so heftig, dass ich mir, noch unangeschnallt, den Kopf stoße. Aber sorge dich nicht, ich kam mit dem Schrecken davon. Nur eine kleine Platzwunde über dem linken Auge – von mir aus gesehen. Die Polizei ist schon seit Stunden abgerückt, morgen soll ich mich auf der Wache melden.


***

Klaus Sauer blättert zum wiederholten Mal das Tagebuch seines inzwischen in die geschlossene Abteilung eingelieferten Vaters durch. Er ist einmal mehr erschüttert und macht sich Vorwürfe, nichts bemerkt zu haben. Welche Dämonen mögen Vater beherrscht haben!? Ob sich jetzt, sieben Wochen nach jenem schrecklichen Unfalltod Heribert Seidlers, dessen arme Frau wieder gefasst hat? Es sind inzwischen neue Mieter eingezogen: Seidlers Tochter nebst Familie. Ob sie ihn einmal in die Wohnung ihres Vorgängers lassen? Er verwirft diesen Gedanken, denn die Polizei hat die Wohnung bereits gründlich inspiziert und nichts Ungewöhnliches gefunden. Auch kein Guckloch in der Wand: Klaus schüttelt in Gedanken an Vaters kranke Fantasie den Kopf. Natürlich wurde auch die Witwe Elvira Seidler vernommen. Das Protokoll kennt er fast auswendig. Ihre Aussage rundet das Bild eines Psychopathen ab, der mit der Trennung von seiner Frau nicht fertigwerden konnte. Das Hauseigentümer-Ehepaar hatte ihn stets nachsichtig behandelt, obwohl es unter seinen Auffälligkeiten litt. Man sei besorgt um ihn gewesen, habe ihm jede Hilfe angeboten, aber er habe sich in Wahnvorstellungen verrannt. Ein Sonderling, misstrauisch gegenüber jedermann. Überall Verfolgung und Schlimmeres witternd. Sein Schlafzimmer mit Alufolie ausgekleidet, als fürchte er mentale Fremdeinflüsse. Sein Auto nie aus den Augen gelassen: beim Einkaufen ständig auf den Parkplatz zum Nachschauen gerannt. Nur noch mit Sonnenbrille unterwegs gewesen. Sich unablässig wie gehetzt umgeschaut und so weiter: Alles klassische Symptome von Verfolgungswahn. Und so wurde der Vorgang Ernst Sauer dann mit der gutachterlichen Diagnose abgeschlossen: Dementia paranoides – chronische Paranoia.

Letzte Aktualisierung: 24.08.2011 - 09.24 Uhr
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