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Mysterium | August 2011

Tote kann man nicht vergessen
von Nicole Müller

Schweißgebadet steht Simone in der Terrassentür des Kindergartens, schaut über den Spielplatz und versucht, in dem Getümmel ihre Tochter Leana zu finden.
Frau Jansen, Leanas Erzieherin, eilt auf sie zu. „Frau Dietz! Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie von Ihrem Arbeitsplatz geholt habe. Ich muss dringend mit Ihnen reden!“
Simone hält die Luft an und nickt. `Bitte lass nichts Schlimmes passiert sein‘, hofft sie und folgt ihr ins Büro. Simone spürt in jeder Ader des Körpers ihren Puls. „Wo ist Leana?“
„Frau Dietz, bitte setzen Sie sich. Leana geht es gut. Sie spielt im Nebenraum.“
„Und warum bestellen Sie mich hierher?“
Frau Jansen setzt sich an ihren Schreibtisch. „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Frau Dietz. Doch ich muss wissen, ob Leana noch zur Therapie geht.“
„Natürlich geht sie zur Therapie! Darüber habe ich Sie doch in Kenntnis gesetzt.“ Mit weit aufgerissenen Augen blickt Simone die Erzieherin an. ‚Was soll das? Das hätte sie mich beim Abholen fragen können!‘
Frau Jansen nickt und lässt sich Zeit, bis sie fortfährt. „Das ist gut, sehr gut. Brechen Sie diese auf gar keinen Fall ab. Sie müssen wissen … Es tut mir leid, Frau Dietz. Leana sollte vorerst nicht mehr den Kindergarten besuchen.“
Simone kneift die Augen zusammen. „Wie bitte? Ich verstehe nicht …“
„Sie wissen, wir können nicht hinter fünfundzwanzig Kindern gleichzeitig stehen. Bisher gab es keine Bedenken, wenn Leana eine Schere in die Hand nahm. Doch heute soll sich Justin auf ihren unsichtbaren Freund Linus gesetzt haben, woraufhin Leana ihm ein Stück vom Ohrläppchen abgeschnitten hat.“
Simone starrt auf Frau Jansens Lippen. ‚Das ist jetzt doch nicht wahr. Leana kann keiner Fliege etwas zuleide tun!‘
„Sie behauptet, ihr imaginärer Freund habe es getan. Offensichtlich ist sie überzeugt davon. – Wir wissen, dass die Trennung von Ihrem Mann Leana schwer getroffen hat. Vielleicht benötigt sie Sie mehr, als vermutet. Könnten Sie sich freinehmen?“
„Muss ich wohl“, flüstert Simone, steht auf und reicht Frau Jansen die Hand. „Wie geht es Justin?“
„Er befindet sich noch in ärztlicher Behandlung. Wir haben bisher keine Rückmeldung erhalten.“

„Mami!“, ruft Leana und rennt ihrer Mutter in die Arme. Simone betrachtet den blutbefleckten Pullover. Allein bei der Vorstellung, wie ihre Tochter dem Jungen die Schere ans Ohr … Sie bekommt einen kalten Schweißausbruch.
„Schatz, was hast du gemacht?“, hört sie sich sprechen. Es erscheint alles so unwirklich.
„Das war ich nicht, das war Linus. Justin war ihm auf dem Schoß zu schwer. Ich habe versucht mit Linus zu reden. Er macht sonst, was ich möchte. Aber jetzt will er das machen, was er möchte, hat er gesagt.“
Simone greift nach der Hand ihrer Tochter. Sie spürt Tränen auf der Wange. ‚Heul jetzt nicht‘, ermahnt sie sich. ‚Du musst stark sein!‘
Sie holen die Kindergartentaschen von Leana und Linus. Gemeinsam verlassen sie die Einrichtung.

„Mutter, bitte! Ich brauche eure Hilfe. Wenn ihr jetzt auf Distanz geht, hat Leana noch einen Verlust zu verarbeiten. Du weißt genau, dass Martin sein Besuchsrecht nicht wahrnimmt. Und Leana ist gerne bei euch!“ Simone drückt den Hörer ans Ohr, als könne sie ihre Mutter damit näherholen.
„Heidi, leg jetzt auf!“, ruft Simones Vater aus dem Hintergrund. „Sie sollen öfter in die Kirche gehen, dann ziehen sie auch keine bösen Geister an! Vor allem muss die Kleine endlich getauft werden!“
Simone seufzt. „Wir brauchen keine Teufelsaustreibung und wir sind auch nicht besessen! Lea leidet, Mutter. Ich habe dir doch von dem Therapeuten erzählt. Er sagt, es ist normal, dass die Kinder unsichtbare Freunde erfinden. Gerade in unserer Situation!“
Im Hörer raschelt es, dann flüstert ihre Mutter: „Liebling, es tut mir wirklich leid. Dieser moderne Schnickschnack ist nur Geldmacherei. Dein Vater hat Recht. Linus! Inge hat erzählt, Linus bedeutet jammern und klagen. Die Kleine denkt sich so was doch nicht aus! Lass die Kleine taufen. Dann ist der Spuk vorbei und ihr seid wieder herzlich eingeladen.“

Leana spielt in ihrem Zimmer. Simone schaut auf die Uhr. In einer Stunde haben sie einen Termin bei Doktor Gorstal. Sie muss aber jetzt mit jemanden reden, der sie versteht und ihr die Kraft gibt, das alles durchzustehen. Vielleicht kann Katja ihr helfen.
„Mama, was machst du?“ Leana hält sich am Türrahmen fest und schaut ins Wohnzimmer.
„Lea, Schatz. Ich wollte telefonieren.“
„Bist du traurig?“ Große grüne Augen schauen sie erwartungsvoll an.
„Ja, Mäuschen. Ich glaube, es war für uns beide in der letzten Zeit viel zu viel. Ich wollte Katja anrufen. Vielleicht können wir mit ihr ein Eis essen gehen, wenn wir von Doktor Gorstal kommen.“
„Die brauchst du nicht anzurufen, Mama. Linus ist gerade bei ihr.“
Simones Nackenhaare stellen sich schmerzhaft auf. ‚Alles gut! Das ist nicht möglich‘, beginnt sie sich zu beruhigen. Sie atmet tief ein und versucht die Kontrolle über ihre Gesichtsmuskulatur wieder herzustellen, bis sie ein gefühltes Lächeln vermutet.
„Lea, das ist schön, dass Linus Katja besucht. Möchtest du nicht, dass ich sie anrufe?“
„Doch. Sie ist aber nicht zu Hause.“ Leana zwirbelt mit ihrem Finger durch ihr rotes Haar. ‚Du wirkst so sanft und unschuldig. Im Mittelalter hätte man dich trotzdem auf den Scheiterhaufen geworfen‘, überlegt Simone. Doch so etwas darf sie nicht denken. Zum Glück gibt es den heute nicht mehr. Ihr Engel hat einfach nur Probleme. Und Probleme lassen sich lösen.
„Ich muss Groß“, teilt Leana mit und verschwindet in Richtung Toilette.
Simone beginnt erneut zu wählen. Es tutet mehrmals, keiner hebt ab. Im Esszimmer knatscht das Laminat.
„Das ging aber schnell. Bist du schon fertig?“, fragt Simone überrascht und legt den Hörer weg.
„Nein, Mama!“, hallt es aus dem Badezimmer.
„Hm.“ Simone schleicht Richtung Esszimmer. Es ist still. Sie hat den Eindruck, dass es unheimlich heiß geworden ist. Sie schwitzt. ‚Jetzt glaubst du auch schon an Geister‘, versucht sie sich über sich lustig zu machen. ‚Siehst du! Nichts! Du machst dich verrückt. Alles Einbildung!‘, freut sie sich, als sie im Raum steht.
„Ich bin fertig!“, ruft Leana. Das heißt Popo abputzen. Simone dreht sich ruckartig um und bleibt entsetzt stehen. Ein greller Schrei erfüllt mit ihrer eigenen Stimme den Raum. Vor ihr steht Martin, doch sie kann durch ihn durchschauen. Seine Haare sind fast komplett vom Blut verdeckt. Seine Augenhöhlen wirken schwarz, der Mund ist weit geöffnet.
„Geh weg“, kreischt Simone und hält sich die Augen zu.
„Mama?“ Leana kommt mit heruntergelassener Hose hinzu. Gerade will Simone sie davon abhalten, doch er scheint verschwunden zu sein.
„Mama? Was ist los?“
Simone versucht ein Lachen hinzubekommen. „Ich dachte, da wäre eine Maus, aber ich habe mich geirrt. Ich komme.“ Mit weichen Beinen, die ihr gerade noch gehorchen, folgt sie ihrer Tochter ins Badezimmer.

Während Leana nach ihrem Gespräch im Praxiskinderzimmer spielt, berichtet Simone von den heutigen Ereignissen.
„Frau Dietz, ich möchte nicht drum herumreden. Leana hat mir heute berichtet, dass Linus ihr verstorbener Zwillingsbruder sei. Ich muss wissen, ob es komplett erfunden ist.“
„Das kann nicht sein!“, entgegnet Simone. Klang ihre Stimme gerade schrill? Sie räuspert sich. „Also, ja. Ich meine, Leana hat schon einen verstorbenen Zwillingsbruder. Er kam mit ihr zur Welt, aber weit unterentwickelt und konnte nicht … Aber wir haben mit Leana nie darüber geredet. Er hieß auch nicht Linus.“ Wieder liefen ihr die Tränen.
„Ich vermute, dass Leana vielleicht doch etwas davon aufgefangen hat. Es wird Zeit, dass Sie beginnen, etwas für sich zu tun. Ich stelle Ihnen einen Kinderkrankenschein aus. Sie erholen sich bitte und suchen einen Therapieplatz. Es ist viel, was Sie aufarbeiten müssen. Und Ihre Tochter hat dafür sehr feine Antennen.“

Leana sitzt vergnügt im Park und schleckt ihr Eis. Die Schaukel bewegt sich vom leichten Wind vor und zurück.
„Guck mal, Mama. Linus kann schon prima schaukeln.“
Simone versucht dem nicht zu widersprechen und beißt sich dabei auf die Unterlippe. Anderseits muss die neue Schaukel bei der zarten Brise sehr leicht sein, denkt sie verwundert. Sie soll Linus akzeptieren, hat Doktor Gorstal erklärt. Wenn sie ihn leugnet, könnte sich Leas Drang zu dem unsichtbaren Freund noch mehr verstärken. ‚Vielleicht sollte ich mir auch so einen Freund zulegen. Anscheinend geht es Leana durch ihn blendend`, überlegt sie.


Nach unzähligen Geschichten ist Leana eingeschlafen. Simone richtet ihre Decke, legt sich in ihr Bett und schaltet den Fernseher ein. Ein Nachrichtensprecher berichtet von einem Autounfall direkt aus ihrer Nähe. „… Unfall kam, ist noch unklar. Im Fahrzeug saßen ein Mann und eine Frau. Bisher konnten sie noch nicht identifiziert werden. Sachdienliche Hinweise …“
Zwei unscharfe Bilder werden eingeblendet.
„Oh mein Gott!“ Simone ist sich sicher: Es handelt sich um Martin und Katja. Das kann doch nicht sein. Sie schaltet den Fernseher ab. ‚Ich will das jetzt nicht‘, entgegnet sie dem Bildschirm. ‚Morgen ist auch noch ein Tag. Ich will schlafen.‘ Sie schließt die Augen und versucht, jeden Gedanken abzuschalten.
Plötzlich steht Leana neben dem Bett.
„Mama, Papa und Katja sind tot. Linus wollte dir dadurch helfen, damit du nicht mehr traurig bist, weil sie sich immer geküsst haben.“
Simone ist sich nicht sicher. Träumt sie? Ihr Mund ist trocken, ihre Zunge scheint ihr trotzdem zu gehorchen.
„Schatz, Katja und Papa mögen sich nicht. Sie haben sich ganz sicher nie geküsst.“
Aber woher weiß Leana, dass sie tot sind? Das kann nur ein Traum sein! Simone möchte sich aufsetzen.
„Nein, Mama! Bleib liegen. Ich halte dir jetzt die Hand. Linus sagt, du glaubst nicht, dass es ihn gibt. Deswegen möchte er es dir beweisen. Es kann ein bisschen weh tun.“
Leanas Augen strahlen, als ein fliegender Hammer über der Bettdecke auf Simones Knie fällt.
„Ich träume! Es ist ein Traum! Es wirkt nur real“, flüstert Simone, als sie den stechenden Schmerz in ihrem Knie wahrnimmt und ihr Bewusstsein ins beruhigende, tiefe Schwarz eintaucht.

Version 3

Letzte Aktualisierung: 20.08.2011 - 10.20 Uhr
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