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Mysterium | August 2011

Brausepulversupermann
von Jule Anders

Da ist jemand, ich spüre das. Ich öffne die Augen und er steht vor meinem Bett. Seine Augen mustern mich nervös, seine Haare sind dunkel und er ist etwas unscharf. Sein Mund ist viel zu groß für den Rest seines Gesichts und an den Rändern ausgefranst, so schrecklich ausgefranst, dass ich denke, das muss doch wehtun.

„Weißt du, wie spät es ist?“, frage ich ihn.

„Genau richtig“, antwortet er.

„Ich hab dich kommen gehört.“

Er lächelt und schüttelt den Kopf. „Du hast mich gerufen.“

„Nein, ich will nicht, dass du hier bist.“

„Tja, Liebes, das wirkt aber ganz anders auf mich.“

Ich schaue aus dem Fenster, das Licht der Straßenlaterne fällt in mein Zimmer, ich schaue hinaus in die Nacht und versuche vergebens, ihn zu ignorieren. Er füllt den ganzen Raum aus. Er kommt näher an mein Bett heran und ich weiß, was jetzt passiert. Er greift sich meinen linken Fuß, ich bin zu schwach, ihn zu hindern, er greift meinen linken Fuß und fängt an, daran zu knabbern. Nach und nach knabbert er mir alle Zehen weg. Es tut nicht weh, ich werde nur weniger, das ist nicht schön. Als er bei meinem Fußknöchel ankommt, wehre ich mich nicht mehr. Soll er doch machen.

Ich merke, wie er innehält, er hört auf zu nagen und blickt irritiert hoch. Sein ausgefranster Mund formt ein „Was …?“. Er wird unschärfer. Ich schaue nach links zur Tür und sehe einen kleinen Jungen. Er trägt eine Kappe, ein blaues Shirt und eine Jeans mit einem Supermann-Aufnäher.

Er folgt meinem Blick, sieht den Jungen im Türrahmen stehen und lässt mein Bein los. Er schaut wieder zu mir, mit seinem großen Mund, und wirkt unentschlossen. Der Junge macht einen Schritt in den Raum hinein. Er weicht zurück, lässt das Kind nicht mehr aus den Augen, er weicht zurück, geht zum Fenster, öffnet es und verschwindet. Er hinterlässt einen schlechten Geruch, der erst später verfliegen wird.

„Rück mal“, der Junge steht an meiner Bettkante und ich rutsche etwas tiefer an die Wand, damit er sich an den Rand setzen kann. „Hier, willste auch? Ich hab Waldmeister und Orange.“ Er zieht aus seiner Hosentasche kleine zerknitterte Brausetüten und einen losen Knopf, der ihm an irgendeinem Kleidungsstück fehlen wird.

„Orange“, sage ich blitzschnell und schnappe sie ihm aus der Hand. Ich setze mich zu ihm auf die Bettkante. Er ist sehr klein und zart, seine Beine baumeln kurz vor dem Boden in der Luft.

Wir öffnen die kleine rechteckige Tüte und schütten uns das Brausepulver gleichzeitig auf die Zunge. Es prickelt, alles in meinem Mund zieht sich zusammen. Ich mische das Pulver mit meinem Speichel, bis ich den Brei runterschlucken kann. Wir schauen uns an und strecken uns gegenseitig die Zunge raus. Seine ist knallgrün und ich weiß, dass meine orange leuchtet. Wir prusten beide los und lachen, bis es im Bauch wehtut.

Ich wische mir eine Lachträne aus dem Auge. Er nimmt seine Kappe ab und setzt sie mir falsch herum auf den Kopf. Wir sitzen schweigend nebeneinander und genießen die Stille.

Ich blicke an mir hinunter und sehe zehn Zehen.


Version 03

Letzte Aktualisierung: 27.08.2011 - 17.44 Uhr
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