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Mysterium | August 2011

Im heiligen Hain
von Thea Derado

Zwischen ihren Fingern zerreibt Rhena ein Lorbeerblatt und atmet den würzigen Duft ein. Mit weit ausgebreiteten Armen möchte sie am liebsten die ganze antike Welt umarmen. Der heilige Hain von Olympia liegt ihr zu Füßen.
Wieso hat sie bisher nur immer geglaubt, griechische Mythologie gehöre in die Sagenwelt? Sei nur eine Fiktion? Und nun steht sie inmitten einer Stein gewordenen Wirklichkeit. Zerborstene Säulen und Stelen, noch immer mächtige Ruinen bezeugen pulsierendes Leben einer untergegangenen Kultur vor über zweieinhalb Jahrtausenden.
Rhena versucht, sich das Treiben der vergangenen Zeiten vorzustellen. In ihrer Phantasie wetteifern im Stadion junge Athleten um den Sieg, angefeuert von ihren Mannschaften. Händler bieten Fladenbrote und Feigen feil. Schon fühlt sie sich Teil des bunten Trubels.
Sie kann ihren Überschwang, über den Rasen tanzend, in die flirrende Luft jubeln. Lediglich einige gaukelnde Schmetterlinge und eine sich auf einer Mauerkrone sonnende Eidechse sind ihre Zuhörer.
Wer außer einer verrückten Nordeuropäerin fährt schon Ende Juni in die Gluthitze des Südens!

Rhena hat diese Zeit bewusst gewählt. Sie bekommt leicht Urlaub, und die Tage sind lang. Ein volles Programm lässt sich da bewältigen. Abends brodelt das Leben noch bis in die Nacht hinein auf Plätzen und in Lokalen. Sie genießt es, von daheim weg zu sein, weg aus dem verregneten Deutschland. Mit Hanno, ihrem Mann, wäre es vermutlich noch lustiger. Aber der kann mal wieder nicht weg von seiner Arbeit. Naja, bisschen Abstand ist wohl mitunter auch ganz gut. Vielleicht klappt es ja nach einer kurzen Trennung mit dem Kinderkriegen!
Fünf Jahre sind sie nun schon verheiratet, und noch immer ist sie nicht schwanger. Monat für Monat das ernüchternde Resultat, dass wieder alles für die Katz war. Je ungeduldiger sie die Sache angehen, umso mehr schwindet die Hoffnung. Sie wird ja auch nicht jünger!
Die Sehnsucht nach einem eigenen Kind kann Rhena auch inmitten der duftenden, von summenden, brummenden Insekten umschwirrten Macchia nicht verdrängen. Ein leichter Hauch von Wehmut bleibt in ihrem Gemüt.

Bei Apollos Schatzhaus angelangt, stellt Rhena sich vor, wie reiche Griechen ihrem Gott Geschenke brachten und ihre Bitten vortrugen, auf ein wohlwollendes Orakel hoffend. Ach ja, wenn ihr sehnlichster Wunsch doch auch in Erfüllung ginge! Wie ist das mit der Unsterblichkeit der Götter? Ein kurzes Stoßgebet an die Olympier, am besten wohl an eine Göttin, kann ja nicht schaden.

Nachdem sie das Gelände durchstreift und sich sattgesehen hat, setzt sie sich auf die Stufen des Hera-Tempels, holt ihre Trinkflasche aus dem Tagesrucksack und genießt die Ruhe der Mittagshitze. Als lähmende Müdigkeit ihr auf die Augenlider drückt, sucht sie sich ein schattigeres Plätzchen hinter dem Altar der Hera, wo alle vier Jahre das olympische Feuer entfacht wird. Sie streckt sich aus und schläft bald ein.
Noch im Einschlafen ist ihr, als würde sie emporgehoben. Sie schwebt durch einen hinter Büschen versteckten Höhleneingang. Öllampen verbreiten gedämpftes Licht. Ihr zur Seite schreiten leicht bekleidete Frauen und Mädchen, bekränzt mit Blumen und Blättern.
Schon nach wenigen Schritten versperrt ihnen ein Mann den Weg. Es ist Mystagog, dessen Aufgabe es ist, ihr den Eid der Verschwiegenheit abzunehmen: Nie darf ein Wort über ihre Aufnahme in die Mysterien über ihre Lippen kommen. Der mystischen Lade entnimmt er ein Feigenblatt. Mit einem Blutstropfen aus ihrem linken Ohrläppchen unterschreibt Rhena und besiegelt so den Bund mit den Urkräften des Werdens und Vergehens. Bricht sie das Schweigen, wird die Erfüllung ihres geheimen Wunsches sofort wieder annulliert und ihr Liebstes auf der Welt wird ihr genommen und muss über den Styx.
Tiefer gleitet sie in die Höhle. Pfaue schlagen schillernde Räder, kleine Drachen balgen sich mutwillig. Fackeln beleuchten die Gänge, in deren spärlichem Lichte flackernde Schatten grotesk springen und tanzen. Über die Felswände rieseln Rinnsale von Perlen in zarten Farben, sammeln sich in einem leuchtenden See, dessen Perlmutt-Oberfläche Rhena blendet.
Schon nähert sie sich dem Bereich der Großen Mütter: Gaia, der Erdmutter, ihrer Tochter Rhea, der Göttermutter, und Hera, der Göttin der Geburt.
Nymphen zelebrieren den Göttinnen-Dienst. Üppige Blumenkörbe und volle Garben verheißen Fruchtbarkeit. In einer erweiterten Grotte wird an einem Altar vor ihren Augen ein Lamm geschlachtet. Sein Blut wird mit der Milch des Muttertieres gemischt. Ambrosia und berauschende Zusätze verfeinern den Mischtrank. Rhena wundert sich anfangs, dass ihr vor diesem seltsamen Trunk nicht graust. Doch mit jedem Schluck verstärkt sich das wohlige Gefühl in ihren Eingeweiden, zu den Eingeweihten zu gehören. Ein Urvertrauen in die ewigen Mächte schaltet jeden kritischen Gedanken in ihr aus.
Die Wände sind geschmückt mit Phalli, die sich ihr lüstern entgegenrecken. Zärtliche Hände entkleiden sie, reiben ihren Körper mit kühlenden, wohlriechenden Essenzen ein, kneten ihre Füße, massieren die Schläfen, die Beine, zu den Oberschenkeln hinauf. Lust steigt in ihr auf, und sie fühlt ihre Gebärmutter vor Erwartung schwingen.
Nur mit einem leichten Schleier bedeckt, schwebt sie weiter. Zimbeln erklingen, Sphärenmusik, die ihre Haut prickeln lässt.
Über ihr projizieren sich Darstellungen von Göttern, die sich mit ihren Geliebten vereinigen. Zeus als Stier mit Europa, als Schwan mit Leda, als zärtlicher Wind, der auch unter ihren Schleier weht. Apollo lächelt ihr zu. Blütenblätter regnen auf sie herab. Die Bilder wechseln rasch wie ein Traum, prägen sich dennoch ein und verfehlen nicht ihre erregende Wirkung. Schlangen winden sich verführerisch über ihren Bauch, züngeln an ihren Brustwarzen. Rasch sind auch sie wieder verschwunden
Neben der zunehmenden Begierde und Erwartung fühlt Rhena doch leichte Beklommenheit. Sie liebt ihren Mann, sie will ihn nicht betrügen, nicht einmal mit einem Gott. - Aber wenn das Mysterium beschlossen hat, das sei die einzige Möglichkeit für sie, ein Kind zu kommen? Die Begattung durch einen Gott, gilt das als Fremdgehen? Wohl doch eher als Gottesdienst, als Teil des Mysteriums der Zeugung.

In einer Kristallgrotte hält Rhena inne. Amethyste, Bergkristalle, Rosenquarz und Türkise reflektieren sanften Glanz.
Da, am Ende des Raumes, leicht aufgestützt, steht er, der strahlende junge Gott. Bereit für sie. Beim näheren Betrachten schmelzen rasch alle flüchtigen Bedenken in der Glut ihrer Gefühle: Sie ist überzeugt, weil sie es glauben möchte, das ist Hanno, ihr Mann! Jedoch irgendwie perfekter, strahlender, hinreißender, unwiderstehlicher, als sie ihn je gekannt und erlebt hat!
Sie läuft auf ihn zu, springt auf seine Hüften. Schlingt ihre Arme um seinen Hals und küsst ihn mit all der aufgestauten Leidenschaft. Die Klänge im Raum schwellen an, alles pulsiert und schwingt und dringt tief in sie ein. Sie fühlt sich eins mit den Göttern im Zeugungsakt. Vor Wonne möchte sie aufjauchzen.
Auf dem Höhepunkt schwinden ihr die Sinne.

Noch bebt ihr Körper von der empfundenen und empfangenen Lust. War das die so lang ersehnte Empfängnis? Rhena blinzelt.
Während sie geschlafen hat, ist die Sonne um ein ganzes Stück weiter gen Westen vorgerückt. Verwirrt reibt sie sich die Augen. Was war das? Sie ist feucht und der Geruch nach Sperma streift ihre Nase. Oder bildet sie sich das alles ein? Hat sie so lebhaft geträumt? Hat sie sich selbst im Schlaf ihre Bluse aufgeknöpft? Oder wer? Ihre Sandalen stehen neben dem Rucksack. Hat sie die denn vorhin ausgezogen?
Sie schaut sich um, späht hinter die Büsche. Weder Spuren einer anderen Person, noch irgendwo ein Höhleneingang zu entdecken.

Wenn es denn so war, wie sie es noch immer spürt, hat etwa etwas Mysteriöses ihren Mann kurzfristig zu ihr getragen? Sie würde ihn gerne fragen, ob er Ähnliches geträumt hat.
Aber nein, sie darf kein Wort darüber verlieren.
Oder war es doch ein Gott? Zeus hat ja schon mal die Gestalt eines Ehemannes angenommen, als Amphitryon. Aber doch nicht im 21. Jahrhundert!
Rhena findet sich damit ab, dass die Mysterien wohl ewiglich dauern.

***

Neun Monate später brachte Rhena einen prächtigen Sohn zu Welt. Sie nannte ihn Bogdan, Gottesgeschenk.

(3. Version)

Letzte Aktualisierung: 26.08.2011 - 18.52 Uhr
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