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Mysterium | August 2011

Welt hinter deinen Augen
von Asla Kant

Eine leichte Brise, blauer Himmel und Sonnenschein beleben jeden noch so verkommenen Winkel. „Ach wie schön, Oberflächenschwimmen“, denkt Maud. Sie taucht ein in das Basisrauschen einer Großstadt. Auf dem Marktplatz wird sie von zwei Pennern angebettelt. Erdrückender Mief aus vollgeschissenen Hosen lässt sie kalt. Ihre Erfahrungen mit Alkohol sind ebenso reichhaltig – eine Flüssigkeit, allgegenwärtig, immer greifbar, die bereits die pränatale Existenz der jungen Frau in Frage gestellt hatte. Dennoch, Maud überzeugte mit dem Kopf-durch-die-Wand-Prinzip: Abitur, Jobs und Studium. All das im Rausch, mit einer Seele in Isolation. Delirien, die sich mittlerweile einstellten, erleichterten das Vergessen, die Vernachlässigung ihres Körpers. Maud hatte die Totgeburt eines Kindes beinahe mit ihrem Leben bezahlt. Die anschließende Entgiftung läutete einen neuen Lebensabschnitt ein.

Heute erwartet Maud einen Stuhlkreis. Nichts Aufregendes und Standard in der Mittwochsgruppe der anonymen Alkoholiker.

Angewidert von sich selbst, dem Zittern ihrer Hände, den Ausdünstungen ihres Körpers, dem Saufdruck, übergibt sich Maud auf dem Bordstein, bevor sie das Treppenhaus betritt. Nichts kann die Gier nach einem gepflegten Schluck, die köstlichen Flammen im Hals, das Kribbeln im Arsch und das Jucken zwischen den Beinen auslöschen, noch nicht einmal die widerlichen Dauerschweißfahnen, die Maud so sehr hasst. Im zweiten Stock friert sie. Unter ihr hämmern Pfennigabsätze auf die Stufen ein. Die Schritte erzeugen ein Echo, werden schneller und lauter. Maud verzieht ihr Gesicht. Die Kälte stört. Im vierten Stock sackt sie zusammen, ringt nach Atem, greift an das Treppengeländer und rutscht ab. Die Feuchtigkeit auf dem Holz hat sich zu einer dünnen Raureifschicht zusammengezogen. „Was soll denn die Scheiße jetzt?“ Wie hungriges Getier fressen sich die seltsamen Veränderungen der Umgebung durch die fragile Fassade ihres abgewirtschafteten Verstandes. Untergraben die Hoffnung, mit den eigenen Dämonen selber fertig werden zu können. „Delirium“, stöhnt Maud. Sie unterdrückt ihre Wut. Ein unmissverständliches Nein lässt sie aufspringen. Licht zeichnet zwei Schatten an die Wand. Maud sieht sich um. Niemand da. Augen starren. Zwei Schatten verschmelzen. Verstand registriert und verabschiedet sich. Etwas Fremdartiges, Kaltes dringt ein.

Schreib!

Maud spürt nichts. Wie berauscht schleicht sie durchs Treppenhaus. Vor der altbekannten Tür im fünften Stockwerk schwinden Schatten und Kälte. Maud klopft, und als Karl die Tür öffnet, hat sie vergessen, was geschehen ist.

„Mädel, du riechst nach Sprit!“ Karl hält Maud auf Abstand. Solomon steht hinter ihm und zückt einen Alkotest. „Blasen ist angesagt, Kleines.“ Maud ignoriert die Anspielungen und pustet. Ein Pieps bestätigt: Null Promille. Die beiden Männer nehmen Maud in die Mitte. Teilnahmslos lässt sie sich führen. „Irgendwas stimmt nicht, was hast du?“, entgegnet Karl. Maud reagiert nicht.

Nach dem üblichen Begrüßungsritual richten sich alle Augen auf die einzige Frau unter Gleichgesinnten. „Gib mir die Schlafmaske, Sol.“ Eine gutes Hilfsmittel, wenn es ans Eingemachte geht. Alle hören zu. Stille folgt. Maud wartet, lauscht und trommelt mit ihren Fingernägeln auf die Stuhlkanten ein. Lauschen, trommeln, warten. Stille bleibt. Während Fingernägel auf die Stuhlkanten eintrommeln, Maud immer noch wartet und lauscht, legt sich ein seltsamer Geschmack auf ihre Zunge. Alkohol und Schimmel paaren sich im Mund. Sie schluckt ihren Ekel. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens nimmt sie die Maske ab.

Es ist arschkalt, stockdunkel, die Luft satt von Sprit, Kastanienblüten und weißem Moschus. Der Stuhl, auf dem Maud gesessen hat, ist weg. Sie liegt. Nein, sie hockt und fühlt den Boden unter ihren Knien. Hände fassen in ihren Nacken, streicheln sanft über ihr Gesicht. Es sind alte Hände. Ihre eigenen umklammern etwas, und als die Flamme eines Streichholz wenig Licht spendet, erkennt Maud, was ihre Hände nicht loslassen wollen: Einen Penis.
„Die Kleine hat mehr drauf, als mit der Zunge im eigenen Arsch herumzurühren. Ich spreche aus Erfahrung“, bestätigt ein Lachen im Hintergrund. Es ist Karl, der in diesem Moment Kerzen anzündet. Maud lässt los. Weißgelbliche, klebrige Schleimfäden verbleiben auf Lippen, Gesicht und Händen. Maud ertappt sich bei dem Versuch, diesen Schleim genussvoll in sich einzusaugen. „Du nimmst es ganz locker mit zwölf Männern auf. Du schluckst wie ein Tier. Jetzt kann ich sterben, Kleines, worauf wartest du?“ Maud erkennt Stimme und Gestalt. Es ist Hans, der Älteste in dieser Gruppe.
„Oh nein, bitte KGV“, ist alles, was sie aussprechen kann. Hans schüttelt den Kopf und Maud stöhnt erleichtert auf. „Kein GV, dass ich nicht lache, wenn dich der alte Sack nicht gebremst hätte, würdest du immer noch auf ihm hocken“, provoziert Karl. Er schüttelt eine Flasche, reibt sich im Schritt und ölt seinen Rachen mit einem kräftigen Schluck. Das knallt im Kopf, zwischen den Beinen, im Arsch. Maud beherrscht ihre Lust, ihren Durst und kontert: „Du widerst mich an. Mach einfach den Kopf zu, Arschloch!“

Überfordert mit allem, begreift Maud nicht, was sie angerichtet hat. In der Mitte des Stuhlkreises parkt eine geöffnete Flasche Gin. Zwölf Männer. Eine Frau. Neun Männer sind tot. Brutaler Gestank breitet sich aus, dringt ungefiltert ein. Maud kommt nicht mehr dazu, sich von Körpersäften zu befreien, und scheitert bei dem Versuch zu schreien. Sie kriecht, steht wieder auf, rennt und prallt mit voller Kraft gegen Türen. Nase und Stirn bluten, mehr passiert nicht. Tritte gegen Glas, Beton und Holz bleiben erfolglos. „Was läuft hier? Schoßgebete für Degenerierte? Wo sind die Kameras? Ich will hier raus!“, keucht sie und würgt. Sie bemerkt nicht, dass sie speichelt.
Trink, du musst durstig sein.
Die Stimme ist kalt, körperlos, unmenschlich. Maud hält sich die Ohren zu.
Du hörst mich trotzdem.
Panik bricht in ihr aus. Ein Schatten bewegt sich entlang der Wände und dringt ein Stück in das Mauerwerk hinein. Maud erinnert sich an die Wand im Flur. Sie musste schreiben.
Na schön, der Gin geht dir am Arsch vorbei, neun von zwölf sind tot, Etappensieg.
Maud unterdrückt ihre Tränen.
Heulen wird dir nicht helfen. Du wirst es vollenden.
„Sonst was?!“, brüllt sie.
Schau dich um. Dein Werk, wenn du scheiterst.
Maud versteht die Welt nicht mehr. Verzweiflung und Ohnmacht entladen sich am Mauerwerk, und als die Wand an einer Stelle nachgibt, steckt ein Arm bereits tief im Beton. „Das geht nicht!“ Sie presst eine Hand vor ihr Gesicht und ergibt sich dem Sog. Der Weg durch die Mauer endet abrupt. Sie landet auf feuchten Steinen in einer riesigen, dunstigen Halle. Der Schatten bedrängt ihren Verstand. Atem aus Eis gleich einer scharfen Klinge erzeugt Schmerz.
Bereit?
Maud dreht sich um. Sie ertrinkt in ihren eigenen Augen und kann ihren Schrei nicht zurückhalten.
„D…, du, du, du bist ich!“
Ach nee! Spar dir dein Gestammel und höre dir selbst zu. Eine kurze Atempause platziert Erinnerungen in das zuständige Gehirnfragment. Ihre Tagebücher, Bilder und Briefe zeichneten damals diese Welt während des kalten Entzugs. Maud wendet sich verlegen ab. Scham mischt sich mit Selbsterkenntnis.
Du bist in dir. Du hast diesen Abgrund selbst geschaffen. Du tötest, was du liebst. Wenn du das geschafft hast, finde ich dich.
„Und dann?“, flüstert Maud.
Du musst an mir vorbei, du musst mich besiegen.
„Aber…, aber du bist ich…, ich soll mich selbst …?“
Schlaues Mädchen! Das dürfte nicht schwer fallen. Du hast dein Kind getötet, schon vergessen?
Das reicht. Ein Hagel von Erinnerungen bringt die junge Frau um den Verstand.

Maud erwacht gefesselt und nackt auf einem Schemel in der Mitte des Stuhlkreises. Sie spürt die Lederriemen nicht, die sich bei jeder Bewegung tiefer in die Haut schneiden. Karl, der sonst vor Vitalität und Überheblichkeit strotzt, kauert neben ihr auf dem Boden. Seine Augen, leere, schwarze Höhlen, aus denen Flüssigkeit rinnt. Es ist Blut. Leicht geronnen, zieht es bereits Fäden. Hans liegt auf einem Haufen toter Körper. Aus seinen Leisten ragen zwei Beine eines Stuhls.
„Sol! Sol, wo bist du? Hilf mir doch! Bitte!“

Aromen von frischem Schweiß und Alkohol hämmern sich wie Peitschenhiebe in Mauds weichen Kern. Solomon ist gnädig. Er foltert nur und drückt die vierte Zigarette in ihre Brust. Nachdem sich Maud mehrfach vor Schmerz entleert hat, nur noch Galle kommt, schaltet sie den Schmerz ab. Solomon kennt den Trick. Er nimmt den Gin, zündet sich die nächste Zigarette an und zieht. Seinen rauchgeschwängerten Speichel rotzt er in ihr Gesicht. Als wenn das alles nicht schon schlimm genug wäre, hält er ihr die Nase zu und drückt die Flasche auf ihren zusammengepressten Mund. „Schluck, du Sau!“ Unter dem Druck platzen ihre Lippen auf. Maud muss atmen. Sie öffnet ihren Mund und wehrt sich gegen den Schluckreflex. Nun presst dieser Bastard seine Hände auf Nase und Mund. „Du schluckst!“ Doch als eine Hand loslässt, die Flamme eines Feuerzeugs entfacht, reißt Maud ihren Kopf zur Seite und spuckt. Der Gin schießt wie eine Fontaine in Solomons Gesicht. Fünfzig Prozent Alkohol brennen, und es dauert so verdammt lang, bis ein Gesicht verbrannt ist.

Das unvorstellbare Grauen löst die Fesseln.
Vollende es.
Mensch und Schatten werden eins.
Maud atmet ein zartes, kaltes Echo ein.


„Maud?“
Karls Stimme hallt durch den Flur.
„Mensch Hans, wo bleibt denn unsere Kleine?“
„Lass mal, ich seh nach.“
Maud erwacht, als alte Hände über ihren Kopf streicheln. „Bist eingenickt, hm? Komm, wir warten auf dich.“ Benommenheit weicht einem unaussprechlichen Moment. Maud fällt Hans in die Arme. Ihre Freudentränen sind ansteckend. Vor einer Wand im Flur bleibt sie kurz stehen. Die eingeritzten Buchstaben im Beton zaubern ein Lächeln in ihr Gesicht.

atem aus eis
du liebst mich
ich bin du
und du bist ich
take a look at the world behind your eyes


©anahtar

Letzte Aktualisierung: 22.08.2011 - 09.03 Uhr
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