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Mysterium | August 2011

Akte S
von Katharina Conrad

Sternchen tanzten vor ihren Augen.
Nein.
Tanzende Sternchen war lächerlich untertrieben.
Vor ihren Augen explodierte ein Silvesterfeuerwerk.
Und irgendetwas juckte sie in der Nase. Drängte sich die Scheidewände entlang in ihr Bewusstsein.
Aber das Schlimmste: Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre jemand mit einem Stabmixer zugange.
Innen drin.
Nicht bewegen. Langsam orientieren. Was war hier eigentlich los?
Die Waschküche … was zum Geier … das Waschbecken!
Sie hatte sich gebückt, wieder mal auf der Suche nach einer verschwundenen Socke – es war zum Jungekriegen, ausgerechnet eine von den neuen lilafarbenen!
Aua. Besser nicht aufregen …
Da war ein lila Funkeln gewesen, unter dem Waschbecken, sie hatte sich danach gebückt – nur ein alter Fetzen Luftballongummi, nicht die Socke.
Und dann: Schädelknochen gegen Emaille, Lichter aus; weich war sie gefallen … in den Korb mit der Dreckwäsche?!
Aber irgendetwas war da nicht richtig.
Sie fühlte glatten Boden unter ihren Händen, wo eigentlich Kacheln und Fugen hätten sein sollen.
Alex lag ganz still. Traute ihren malträtierten Sinnen nicht.

Plötzlich wurde sie unsanft in den Allerwertesten gepiekst. Sie rollte auf den Rücken, wollte protestieren, brachte aber lediglich ein qualvolles Stöhnen zustande. Licht attackierte sie durch die geschlossenen Lider; ein kaltes Neonlicht, das unmöglich von der wattkargen Glühbirne ihrer Waschküche stammen konnte.

„Na, was haben wir denn da?“, näselte eine Stimme, und Alex zwang ihre Augen, sich einen Spalt breit zu öffnen.
Da schwebte doch eine Gestalt in weißem Laborkittel über ihr und traktierte sie mit der Spitze eines Zeigestockes!
„Ach du Scheiße.“ Sie rappelte sich auf die Füße. Die Explosionen in ihren schmerzleitenden Hirnfasern hatten nachgelassen und brodelten nur noch auf halbwegs erträglichem Whirlpoolniveau, aber dafür kroch jetzt ein anderes Übel ihre Nase hinauf.
„Ach du Scheiße!“, bekräftigte sie und presste sich eine Hand vor die Nase, die andere an die immer noch pulsierende Stirn. Was für ein schleimhautverätzender Gestank! Alex rang gewaltsam einen Würgereiz nieder und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.
„Gestatten, mein Name ist H7/26. Wie's aussieht, ist es wieder einmal passiert! Manchmal kommt es vor, ärgerlicherweise, dass wir ganze Menschen statt unserer Proben hochbeamen. Das hält uns ganz schön auf, wissen Sie ...“
„Hochbeamen?“, murmelte Alex.
„Profan ausgedrückt, ja. Eigentlich eher dematerialisieren, dysmorphieren, translozieren und anschließend rekonvertieren und corporalisieren. Ist Ihnen nicht gut?“, erkundigte sich das Wesen freundlich.
Alex drückte die Hand vor den Mund und schüttelte langsam den Kopf. Dieser Gestank! In müffelnden Molekülen diffundierte er durch alle Poren, sie konnte ihn förmlich auf der Zunge schmecken!
„Proben?“, nuschelte sie, fragte sich, wie ihr Gegenüber das aushielt und musterte ihn verstohlen.
H7/26 besaß offensichtlich keine Nase, was natürlich einiges erklärte.
Überhaupt wies er keinerlei körperliche Gemeinsamkeit mit Alex auf, abgesehen vielleicht davon, dass sich der Kopf am oberen Ende befand und eine Art Hand den Zeigestock führte. Der Rest erinnerte Alex bestenfalls an Zuckerwatte. Ein riesiger, gestankresistenter Wattebausch.
„Anhand spezieller Proben erforschen wir fremde Rassen“, erklärte H7/26. „Früher haben wir gerne einige Exemplare jeder Spezies, sagen wir mal, ausgeliehen, aber das war irgendwie suboptimal ... Dank unseres immensen technischen Fortschritts sind wir jetzt aber in der Lage, zumindest bei den Menschen darauf zu verzichten. Stattdessen extrahieren wir aus den textilen Verhüllungen eurer unteren Extremität alle Essenzen, die wir für unsere Forschung benötigen.“
Stolz beschrieb er einen Bogen mit seinem Zeigestock.
„Essenzen“, stöhnte Alex und kämpfte gegen neuerlichen Brechreiz. Dann sickerte durch den Mief in ihr Gehirn, was H7/26 ihr gerade offenbart hatte.
„Moment mal – ihr stehlt unsere Socken aus den Waschmaschinen? Dahin verschwinden all die verdammten Socken?! “ Ihr Mund stand vor Entrüstung offen, aber nur für eine Viertelsekunde, denn in der miefgesättigten Luft erwies sich das als extrem unklug.
„Aber nein, wo denken Sie hin!“ H7/26 widersprach vehement. „So etwas würden wir nie tun! Und es würde auch gar keinen Sinn machen. Natürlich holen wir uns die Proben schon vor der Wäsche! Und auch stets nur eine einzelne, niemals beide, also kann es gar nicht so schlimm sein. Was mache ich denn jetzt mit Ihnen - ich weiß! Wo Sie schon mal da sind, kann ich Ihnen genauso gut unser Labor zeigen.“
Zu verdutzt für Widerworte, zu betäubt, um sich zu wehren, wurde Alex vom Zeigestock um eine Ecke geschoben.
„Die Vorsortierung“, erläuterte H7/26. Andere Zuckerwatteberge glitten lautlos an ihnen vorüber, ohne sie zu beachten.
Glänzende Metallcontainer zogen Alex' Blick auf sich, und ungläubig entzifferte sie die Aufschriften.
„Männlich“, „Weiblich“ und „Junges“ stand darauf. Ihr fragender Blick nötigte H7/26 zu einer Erklärung.
„Sie werden nach Größe und Muster getrennt und zur weiteren Untersuchung ins Labor gebracht.“
Widerlich, dachte Alex und ließ sich durch gläserne Flügeltüren in einen weiteren Raum schieben, wo verschiedenste Socken ordentlich auf großen Arbeitsflächen ausgebreitet waren. An einer Wand stand eine monströse Apparatur, die unablässig vor sich hin zischte und Dampfwolken ausstieß.
„Unser ganzer Stolz“, erklärte H7/26 und bauschte sich auf. „Die neueste Entwicklung auf dem Segment der Aromaextraktionswissenschaften: Der Odeuromat 2000ii!“
Alex entwich ein klägliches Fiepen.
„Damit extrahieren wir, wie ich schon sagte, alle relevanten Essenzen und können so weiter differenzieren und Rückschlüsse auf den Träger ziehen. Schauen Sie mal!“ Der Stock wies auf eine lange Reihe Container, die von den Laborzuckerwatten Stück für Stück befüllt wurden.
Alex kniff die Augen zusammen.
„Bartträger“, stand auf einem Container, „Mauerblümchen“ auf einem anderen.
„Das könnt ihr an den Socken ablesen? Nicht möglich!“
„Das und noch viel mehr. Sehen Sie nur!“ H7/26s Zeigestock fuhr die ganze Reihe der Container entlang, und Alex las mit hochgezogenen Brauen, was sich darin befand.
„Ovo-Lacto-Majo-Vegetarier“, „Trächtig“, „Diplom-Oecotrophologe“ …
Aus einem Container mit der Aufschrift „Falschparker“ sprang ihr ein lila Farbtupfer entgegen, und ihr Herz klopfte schneller. Ihre lila Socke! Aber – Falschparker? Wie konnten die das wissen?
Egal. Schnell griff Alex danach, knüllte die Socke zu einem kompakten Stoffball zusammen und schenkte H7/26 ein gequältes Lächeln - allerdings ohne Zähne, den Mund ließ sie lieber zu -, aber der hatte den Zurück-Diebstahl gar nicht mitbekommen.
Kopfschüttelnd, gleichzeitig fasziniert und abgestoßen spähte sie in weitere Sockenbehältnisse. Nicht im Traum wäre sie darauf gekommen, dass jemand die Menschheit in „Spätzünder“, „Dackelbesitzer“ und „Putzteufel“ einteilen würde.
Sie folgte der Reihe, vorbei an „Klatschtante“, „Latin Lover“ und „Urlaubsreif“, bis sie an einer besonders interessanten Beschriftung hängen blieb.
„„Lügner, Betrüger und untreue Ehegatten“, das geht auch?“
„Nur, wenn schlechtes Gewissen im Spiel ist, denn nur das hinterlässt nachweisbare Spuren“, schränkte H7/26 ein.
„Sonst würde das kleine Ding auch kaum ausreichen“, murmelte Alex.
Am Ende der Reihe stand ein Behälter ohne Aufschrift. Vor allem Radler- und andere Sportsocken häuften sich darin.
„Was ist denn mit denen?“
„Ach, das ist der Ausschuss. Die sind so von Chemikalien verunreinigt, dass wir nichts Vernünftiges mehr herauslesen können. Tja, ein bisschen Schwund gibt es immer.“
Erzähl du mir nichts von Schwund, dachte Alex und griff ihre geknüllte Socke fester.
„Tja, damit wären wir am Ende der Führung angelangt.“ H7/26 schwebte einen Moment nachdenklich auf der Stelle.
Dann zielte er mit dem Zeigestock auf Alex' Füße. „Wie ich sehe, haben Sie auch noch zwei Prachtexemplare dabei. Könnten wir vielleicht eins davon ...“
Da platzte Alex der Kragen.
„Jetzt geht’s aber los! Könnt ihr nie genug bekommen? Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was für gigantische Socken-Müllberge ihr auf der Erde hinterlasst? All die übrigen, einsamen, zu nichts mehr nützen Einzelsocken?“
Sie redete sich in Rage und bemerkte nicht den heruntergefallenen Strumpf vor ihr auf dem Boden ... Als sie zornig aufstampfte, glitt sie darauf aus und stieß hart mit dem Kopf gegen einen der Container.

Sie erwachte mit ekelhaften Kopfschmerzen und einem ranzigen, romadurartigen Geschmack im Mund. Die Waschmaschine blickte ihr entgegen, gelangweilt und leer, und über dem Rand des Wäschekorbes hing eine einzelne, lila Socke.
Blinzelnd öffnete sie ihre Hand, die krampfhaft etwas umklammert hielt.


©K.Conrad 2011 – Vers.3

Letzte Aktualisierung: 12.08.2011 - 01.09 Uhr
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