Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Landleben | September 2011
Rinderwahnsinn (oder Gone with the wind)
von Hajo Nitschke

Autsch! Was fĂŒr ein Trampel! Die reißt mir noch die Zitzen ab, die dusselige Kuh!

‘tschuldigung, ich vergaß, dass Sie meine Gedanken lesen können. Vielleicht sollte ich 


Volltrottel, diese Katrin! Mensch, pass doch auf!

Zieht und rupft wie eine Wahnsinnige, die Braut. Nicht lange, und meine Zitzen haben einen Blutstau. Voll Porno oder was? – Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, vielleicht sollte ich uns erst mal vorstellen. Wir befinden uns in der Hall of Fame – im Stall von Bauer Aloys. Mit dem kommen wir gut aus. Das heißt, wir kamen. Wir, das sind zum Beispiel sechs ganz in Braun gekleidete Damen im besten Milch-Alter. Gestatten, von links nach rechts Susi, Wilma, Hanna, Resi, Adelheid und ich, Tamara. – „MĂ€dels, sagt Hallo!“

„Muuuh!!“

Hörte sich das fĂŒr Sie nur wie „Muh“ an? Etymologisch bedeutet es mit drei U‘s „Hallo!!“. „Muh“ heißt „Ja“ und „Muuh“ logischerweise „Nein“. Der Rest ergibt sich aus LautstĂ€rke, Hebungs-Senkungs-Kurve und Anzahl der Ausrufezeichen.
UrsprĂŒnglich waren wir sieben. Doch Ulysses hat Yvonne als Kundschafterin hinter die Linien geschickt. Nach fast hundert Tagen kam sie heimlich zurĂŒck und erstattete Meldung, ein illegaler Quartierwechsel sei zu riskant. – Mission erfĂŒllt. Sie ließ sich ganz nach Plan wieder einfangen und brachte die Leute dazu, ihr einen Kurlaub zu bewilligen.

Fuck! Das war wieder zu fest. Aufhören!

Hat echt ‘nen Sockenschuss, die Schabe! Melken konnte sie noch nie, alles andere ist Absicht. Aloys ist ihr hörig, und daher muss es leider heißen: Wir kamen gut mit ihm aus. Jetzt aber wollen wir nur noch weg.

Die Tussi hat ihn glatt ĂŒberredet, aus KostengrĂŒnden im Winter auf unser Kraftfutter zu verzichten. Und den Stall nicht zu flicken, obwohl es tierisch zieht. Auch den neuen Melkautomaten hat sie untersagt, und so sind wir unsensibelster Handarbeit ausgeliefert. Das Infamste: Wir mögen noch so zappelig werden: Unser Stier wird nĂ€chstes Jahr verkauft. Ab dann Fremdbesamung ohne Direktkontakt! Als ob wir MilchmĂ€dchen keine GefĂŒhle hĂ€tten. Von Ulysses ganz zu schweigen!
”By’n bye hard times come a-knocking at the door 
” Wie lange muss ich das wohl noch vor mich hin summen 
?

Sogar der Rotwein, den man uns MĂŒttern nach jeder Geburt flaschenweise eintrichtert, wurde gestrichen. Was fĂŒr ein Geizkragen, die Schnepfe! Aber niemand hĂ€lt zu uns. Höchstens Rauchi, doch der startet mit seiner Familie bald nach Afrika. TĂ€te auch uns gut. Oder Indien. Hier jedenfalls herrscht TrĂŒbsal.
”Weep no more my lady, oh weep no more today 
”

Scheißscheinwerfer – das geht auf keine Kuhhaut! Sind meine Augen denn Spiegeleier, hĂ€? Ich muss meine Linsen zukneifen 



Ha! Dachte ich‘s mir doch: Halbtotale, Zoom – der Assi hĂ€lt voll drauf. Und die TV-Tante schiebt ihre Sahneschnittchenmaske dekorativ neben mein Gesicht. SĂ€uselt, wie behaglich ich mich fĂŒhle, wenn ich so genĂŒsslich die Augen schließe. Sie lĂ€chelt und das Klatschvieh vor den Bildschirmen ist gerĂŒhrt. Ich verfolge durch die Wimpern den Kameraschwenk auf die Tafel: ‚Tamara von Trautenstolz‘ steht dort ĂŒber meinem Platz, außerdem, dass ich viereinhalb Jahre alt bin und mein drittes Kind Anfang Mai zur Welt kommt: in acht Monaten.

Endlich. Puh! – Drehtag vorĂŒber, wurde auch Zeit.

„Muuuuh!!!“

Das ist ein langer Satz, unisono aus sechs MĂŒndern. Sie erkennen ihn an den vier U’s mit Stimmsenkung: ‚Und TschĂŒss, zieht Leine und lasst euch hier nie mehr blicken!!!‘ – Katrin eilt dem Kamerateam hinterher: Ohne Galerie kein Handschlag 

Vor vier Monaten hat sie sich an Aloys rangesegelt. Brief geschrieben, ausgesucht worden, den Bauern beim Scheunenfest stierig gemacht. Die Klamotten waren reif fĂŒr die AbfrackprĂ€mie: bedeckten nichts und enthĂŒllten alles, nĂ€mlich eine ĂŒberdimensionale Topografie und das unterbelichtete Hirn einer Intelligenzallergikerin.

Oh ja, ihr sĂ€ugefĂ€higes Euter gefiel dem Bauern. Aber er hat sich verdaddelt, denn ihre Milchproduktion dĂŒrfte im Fall der Besamung betrĂ€chtlich hinter der unsrigen zurĂŒckstehen. Außerdem hat Aloys jetzt nichts mehr zu melden. Selber schuld 


“Traudl, jetzt wird’s Zeit: Schöne TrĂ€ume! Morgen lĂ€sst euch die Schnalle bestimmt raus.“

Das verspreche ich meinem Babyface jeden Abend, aber es wird nur selten wahr. Seit diese Hexe hier ist, kommen unsere MĂ€dchen kaum ins Freie und die KĂ€lber werden noch frĂŒher abgeholt als bisher. Zuletzt hat es Theo, meinen JĂŒngsten, erwischt. Wilmas kleiner Wotan ist schon zwei Jahre verschwunden. Niemand sagt, wohin. Einfach weg, wie vom Wind fortgetragen 
 Immer sind es die kleinen Bullen. Gerade mal etwas mehr als zwei Wochen war Theo an meiner Seite. Muss allerdings sagen, dass er in dieser Zeit erstaunlich viel und gute Nahrung bekam 
 Wo bist du, Baby? Geht’s dir gut? Wirst sicher auch mal so ein Leit-Stier wie Ulysses, aber ich werde es nie erfahren.

Wenn man vom Stier spricht 
 Da kommt Ulysses, gefolgt von Alma. Die beiden sind unser Thinktank, zu dem zuvor auch Yvonne gehörte. Die stecken seit Monaten die Köpfe zusammen. Irgendein Plan, aber noch geheim. Alma ist Adelheids Älteste, ‚FĂ€rse‘, wie der blöde Ochse auf ihre Tafel schrieb. Na ja, ein Knecht muss kein Germanist sein. Alma hat in ihrem ganzen zweijĂ€hrigen Leben noch keinen Vers hingekriegt, geschweige denn mehrere. Stattdessen ist sie jetzt gebĂ€rfĂ€hig: Nachwuchs zeugen – kleine Schnullerbacken, aber no future.

Oha! Ulysses will uns heute den Plan verraten, höre ich soeben. Leider darf ich Sie vorerst nicht weiterlesen lassen. Wie gesagt: Top secret! Gehaben Sie sich wohl. Ich verabschiede mich mit einem unserer lĂ€ngeren SĂ€tze: „Und TschĂŒss, ihr wart ein tolles Publikum, beehrt uns bald wieder“. Ebenfalls mit vier U’s, diesmal aber mit Schlusshebung und nur einem Ausrufezeichen:

„Muuuuh!“

***

22.09.2012

„Wir schalten jetzt um zu Kai Edel. Hallo Kai, kannst du mich hören und wie sieht‘s bei euch aus?“

„Danke. Ich stehe hier zusammen mit Ornithologen und anderen Experten sowie zahlreichen Schaulustigen auf einer der reservierten Prominenten-Plattformen des Felsens. Spannung liegt wie ElektrizitĂ€t in der Luft 
 In diesem Moment wĂ€chst die herannahende Wolke ins Riesenhafte 
 Der Schwarm ist ĂŒber unseren Köpfen! Alle starren wir mit angehaltenem Atem. Dicht an dicht drĂ€ngen sich die Objektive. Was fĂŒr ein Anblick! Lautlos schweben sie etwa dreihundert Meter ĂŒber uns dahin, in derselben aerodynamischen Formation wie vor einem Jahr. MajestĂ€tischen Zeppelinen gleich. Die Beine grazil ausgebreitet, die Blicke wie entrĂŒckt in die Ferne gerichtet. Manchmal eine leichte Korrektur mit Bein oder Schwanz.

Wieder sind wir Zeugen eines Quantensprunges der Evolution. Sie fliegen. nein, korrekter gesagt, sie fahren wie Luftschiffe durch das ihnen eigentlich fremde Element. Seit einem Jahr mĂŒssen die Wissenschaftler ihre BĂŒcher umschreiben. Es ist unfassbar, mir versagt es die Stimme. Lassen Sie die Bilder fĂŒr sich sprechen und genießen Sie den Anblick ...“

„Danke, Kai Edel. Beim Jungfernflug vor einem Jahr war es nur die kleine Rinderherde von Aloys Huber in Bayern, die es zum Überwintern in den SĂŒden zog. Bei ihrer RĂŒckkehr wurde sie zum Multiplikator fĂŒr andere Herden, inzwischen vereinigt der Schwarm Hunderte KĂŒhe aus der ganzen Region. Soeben sind sie ĂŒber die Straße von Gibraltar Richtung Marokko geflogen, Ă€hm 
 gefahren. Bald werden sie in einer Reisehöhe von tausend Metern nach Zentralafrika unterwegs sein. Über SĂŒdfrankreich, PyrenĂ€en, Spanien bis nach Afrika: Immer auf der Westroute und sprichwörtlich in Windeseile. Einige KĂŒhe haben ihre KĂ€lber wie im lageverkehrten Tandemflug huckepack auf dem RĂŒcken. Sie sehen es jetzt noch mal in der Verlangsamung. Und hier – bitte einmal das Bild anhalten –, hier erkennen Sie in der Nahaufnahme deutlich eine Schwalbenfamilie auf dem SchĂ€del des Leitbullen vorneweg: Seltsame Wege der Natur!
Sehen Sie gleich auch unser Special 
“


***

Hier ist Tamara, meine Lieben. Richtig, die Tamara. Es war alles sehr einfach: Methangas ist leichter als Sauerstoff und Stickstoff. Ulysses hat die Molekulargewichte genau errechnet, ebenso Neigungswinkel und Öffnungssequenzen der Mund- und GesĂ€ĂŸventile und Ausrichtung des DarmgeblĂ€ses. Wir mussten dann nur die Flatulenz eine Woche unterdrĂŒcken, um Gas anzusparen. Der Rest war Sache der Technik: Dosiertes Windablassen, Auftrieb durch VerdrĂ€ngung der Luft entsprechend unseres eigenen Volumens, Vortrieb, Steuerung und Abtrieb mit Beinen und Schwanz. Ansonsten sich weitgehend nur von der Thermik tragen lassen, voilĂ !

Rauchi, unser Schwalberich, hat sich als Navigator zur VerfĂŒgung gestellt. Bald wird die Route in unseren Genen gespeichert sein. Überall haben wir Flugschulen gegrĂŒndet. WĂ€ren wir so zwanghaft wie ihr Menschen, wĂŒrden wir sie Fahrschulen nennen.
Die Leute haben damals Stielaugen gemacht. Haben wohl an das Ende der Welt geglaubt, als sie uns ĂŒber ihren Köpfen sahen. Katrin ganz bestimmt, denn wir zogen sie mit hoch und ließen sie in eine Jauchegrube fallen. Der Aloys hat die Hexe ĂŒbrigens spĂ€ter vom Hof gejagt. Sie stank ihm 


“Summertime, and the living is easy 
”

Yvonne nebst Anhang ist auch da. Mit der Milch gibt’s keine Probleme. Entweder saugen uns die Kleinen leer oder die eigenen Verwandten melken sich mit ihren großen Lippen gegenseitig. Traudl macht das sehr geschickt. Theo der Zweite ist nun ein Jahr alt. Er wurde einen Monat nach unserer ersten Heimkehr geboren. Ich bekam meinen Rotwein wie frĂŒher. Sogar einen Merlot, den mit dem grasigen Bukett. Und niemand hat meinen kleinen Jungen von mir getrennt, denn wir alle stehen unter Naturschutz. Über die uns dargebrachte Verehrung wĂ€ren unsere BrĂŒder und Schwestern in Indien neidisch.

“Oh your daddy’s rich and your mam is good looking. So hush little baby 
”

Aus einem afrikanischen Nationalpark mit großen, wasserreichen GrĂŒngĂŒrteln und saftigem Weidegras sendet

liebe GrĂŒĂŸe
Ihre Tamara von Trautenstolz

Letzte Aktualisierung: 16.09.2011 - 09.29 Uhr
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