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Landleben | September 2011

Mein Haus umarmt von Tränen
von J. Th. Thanner

Am 29. März beendete Johannes die Arbeit an der Arche. Er sah zum Himmel empor und gewahrte schwarze und dunkelblaue Wolken, die vom Horizont heranstürmten. Da wusste er, dass die Zeit ablief. Er rannte ins Haus und schnappte Uschi und Putzi und Henk und Apollo und schleifte sie in die Arche. Er lief zurück und schaffte Futter und Streu und jede Menge Zewa herbei. (Seiner Erfahrung nach brauchte es das wirklich!)
Harro, neugierig geworden von dem Hin- und Hergerenne seines Herrchens, stand unter dem Dach und blickte ihm fragend entgegen. Johannes löste die Kette und verfrachtete den Rüden ins Innere, brachte auch Fressi und den Napf und eine Schaufel, mit der er den Kot wegmachen konnte.
Er trieb die Hühner in die Enge und griff sich vier, fünf, sechs und schleppte sie in die Arche, wo er einen Raum für sie vorbereitet hatte. Er schleifte Säcke mit Körnern herbei und schaufelte Stroh in einen großen, dafür vorgesehenen Raum.
Die Wolken standen nun direkt über ihm, und ein feiner Nieselregen hatte begonnen auf ihn niederzugehen.
Jetzt hatte er vielleicht nur noch Sekunden!
Er rannte zum Stall und trieb die Kühe hinaus. Er hatte Planken aufgestellt, die den Weg begrenzten. Die Kühe ließen sich von ihnen leiten und liefen direkt in die Arche, wo sie sich verteilten.
Dann war sie voll. Proppevoll! Nichts und niemand fand mehr Platz da drin – außer natürlich Johannes, der mit einer komplizierten Flaschenzug- und Seilkonstruktion die Tür zuzog. Er verankerte sie in der Aussparung, trieb vier Keile in die vorgesehenen Winkel und Halterungen, und wusste, dass er alles getan hatte, was ihm möglich gewesen war.
In der nächsten Sekunde setzte der Regen ein: Ein donnerndes Trommeln aufs Dach, das nicht mehr aufhören wollte. Stundenlang hielt es an, selbst noch, als Johannes in der Wärme der Arche an seinem CB-Funkgerät saß und vergeblich versuchte, Kontakt mit der Außenwelt herzustellen. Entweder störte der Regen den Funk, oder es war tatsächlich niemand mehr QRV.
Nach geraumer Zeit nahm er das Prasseln gar nicht mehr wahr. Die Tiere gaben Wärme ab, die Konstruktion hielt. Er fühlte sich beinahe wohl in seiner Arche, obwohl Unruhe und Anspannung ihn nie völlig losließen. Als es seinem Gefühl nach Abend wurde, stieg er in den Lagerraum hoch und holte sich etwas Brot und Käse. Er fand sich auch in der Dunkelheit zurecht, schließlich hatte er alles selbst gebaut.
Er schob sich gerade den zweiten Bissen in den Mund, als ein Ruck durch die Arche ging. Für einen Moment fühlte er sich beinahe schwerelos. Und da wusste er, dass die Arche ihre Bodenhaftung verloren hatte. Das Wasser hatte sie emporgehoben.
Sie prallte einige Male irgendwo gegen, gegen das Haus vielleicht, gegen die Stallwand, gegen einen Baum? Johannes war es egal, obwohl es in der Dunkelheit der Nacht irgendwie gruselig wirkte. Da er draußen ohnehin nichts sehen würde, unternahm er gar nicht erst den Versuch, zum Fenster hinauszuspähen.
Er legte sich auf sein vorbereitetes Lager, und während er in Schlaf sank, spürte er das leichte Wippen und Schaukeln der Arche auf den Wellen.
Regen fiel den ganzen nächsten Tag und die nächste Nacht.
Und auch den übernächsten Tag und die übernächste Nacht.
Johannes schaufelte Kot aus der Arche, schaufelte Futter in die Näpfe und Tröge und leerte kübelweise Wasser über die verdreckten Stellen. Das Wasser zog er mittels eines an einem Seil befestigten Eimer von draußen herein. Er hatte extra dafür eine kleine Öffnung, einen ausfahrbaren Mast und eine Rolle eingebaut. Auch die Abläufe des Schmutzwassers hatte er architektonisch genau vorgesehen. Sein Herz schlug einen Tick schneller, als er merkte, dass seine Rechnung genau aufging und das Schmutzwasser problemlos durch die kleine Rinne abfloss und nach draußen geleitet wurde.
Ansonsten saß er nur herum und wartete. Er hatte keine Ahnung, wohin ihn die Strömung trieb, und der Regen machte ihn mit der Zeit ein wenig kirre. Er hasste regengraue Tage und verfiel langsam in eine Art Depression.
Er zog ein Kartenspiel aus der Jackentasche und legte im Schein der Taschenlampe Patiencen. Mehrmals wechselte er die Batterien; in seinem Lager hatte genügend davon vorrätig.
Mitten in der vierten Nacht hatte er das Gefühl, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Wie sehr wünschte er sich menschliche Gesellschaft! Er hatte seiner Schwester angetragen, mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in die Arche zu kommen. Ihr Gelächter dröhnte jetzt noch in seinen Ohren. Sie und ihr Mann hatten ihn mit einer ganzen Reihe neuer »Spitznamen« bedacht, die er niemals auf einen anderen Menschen anwenden würde, so ungerecht und menschenverachtend erschienen sie ihm. Dass er nicht von ihren Eltern geboren, sondern in einem Mülleimer gefunden worden wäre, war noch der harmloseste von allen.
Er hatte viele Menschen gefragt: Seinen Onkel, seine alte Mutter, die Nachbarn, auch Silke. Niemand hatte eingewilligt, mit ihm zu kommen.
Er hatte nicht gewollt, dass Silke starb. Seine gehässige Schwester – na, wenn schon, das hätte er noch hinnehmen können. Aber Silkes Tod? Nein, dagegen hatte er etwas tun wollen! Er war eine Zeitlang jeden Tag bei ihr auf der Matte gestanden, hatte argumentiert, sie bekniet, sie angefleht, mit ihr gestritten. Ja, gestritten. Und das war’s dann gewesen.
Sie hatte verkündet, dass er sich sonstwohin scheren, bloß sich nie wieder bei ihr blicken lassen solle. Wahrscheinlich hatte sie ihn für einen Spinner gehalten. Für einen, der hinter Gitter gehörte.
Zwei Tage hatte er daraufhin gesoffen, den Bau der Arche ruhen lassen. Dann hatte er endlich akzeptiert, dass er anderen Menschen die Verantwortung nicht abnehmen konnte. Obwohl ihm das in Silkes Fall mehr als schwergefallen war. Die Verzögerung hatte er kaum noch einholen können. Er hatte Nachtschichten eingelegt und es schließlich in letzter Minute geschafft. Für seinen Entschluss, keinen Alkohol mit an Bord zu nehmen, war er jetzt zwar nicht gerade dankbar, aber er wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war.
Wohin die Arche wohl treiben mochte? Über Land, das er früher bestellt hatte? Das seine Nachbarn bestellt hatten? Über Waldgebiet? Über Städte, Villen, Kirchtürme, die jetzt metertief unter Wasser begraben lagen? Über den Friedhof, auf dem sein Vater lag?
Trieben vielleicht die aufgeblähten Leichen seiner Mutter und seiner Schwester und anderer starrsinniger Leute, die er gekannt hatte, draußen in der Nähe herum? Stießen sie womöglich gegen die Wand der Arche?
Er erschauderte bei dem Gedanken, doch wusste er, dass so etwas durchaus sein könnte: Das Wasser stand viel zu hoch und war viel zu kalt, als dass nach dieser langen Zeit noch jemand am Leben sein konnte.
Aus Langeweile setzte er sich wieder ans CB-Funkgerät und sendete ein paar CQs in den Äther, die jedoch unbeantwortet blieben. Er machte sich einen Spaß daraus, einen Moderator zu imitieren, der andere Leute interviewte, die er mit verstellter Stimme selbst spielte. Zuletzt sang er Sweet Home Alabama schief und schräg und ohne die Tonart zu halten.
Es war ihm egal.
Für jeden Regentag schnitzte er eine Kerbe in den Holzbalken neben der Tür. Inzwischen waren die Kerben auf achtunddreißig angewachsen. Das Futter ging zur Neige; ein Großteil davon war verdaut und ausgeschieden und von Bord gespült worden, was die Arche leichter gemacht hatte, und wenn die Tiere hin und her traten, schaukelte sie bedenklich. Zusammen mit dem Futter hatte er auch Ballast verloren.
Nun, egal – die Reise würde nicht mehr lange dauern.
Er brachte gerade die vierzigste Kerbe im Balken an, als das Rauschen des Windes und das Prasseln des Regens schlagartig verstummte.
Johannes lief zu dem kleinen Fenster und sah hinaus. In weiter Ferne fielen gerade die letzten Regentropfen auf die Wasserfläche. Dann lag die Oberfläche klar, hell und glatt vor ihm, wie ein blauer Spiegel, der den Himmel reflektierte. Wellen waren kaum zu sehen.
Die Stille, in der er sich befand, löste tiefen Frieden in ihm aus. Er wusste: Was auch immer kommen mochte, es konnte nichts Schlimmes, Schreckliches sein. Frieden würde ihn erwarten. Frieden und Glück.
Zwei Tage später schaufelte er gerade Futter, als ein so heftiger Ruck durch die Arche ging, dass er das Gleichgewicht verlor und hinfiel. Er rappelte sich auf und lief zum Fenster. Und da sah er das Land. Einst war es bewachsen gewesen. Nun hatten sich Seen gebildet, in denen Wasser stand, und Kanäle, durch die das Wasser abfloss. Zahlreiche niedergedrückte Büsche und Bäume, die aber nicht entwurzelt waren. Und das Gras hatte sich bereits wieder aufgestellt.
Kein Zweifel: Fruchtbares Land, auf dem er die Tiere ausladen konnte!
Er betätigte die Seilkonstruktion und öffnete die Tür, trieb die Kühe, die Hennen, die Katzen und den Hund hinaus. Dann stieg er hinab und spürte das Land unter seinen Beinen. Er zog die Schuhe aus, und der Schlamm quoll zwischen seinen Zehen hervor.
Die Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche und wärmte das Land. Vom Meer her kam ein Geruch nach Fisch und Algen und Salz.
Verdammte Narren!, dachte er. Sie hatten so viel Zeit. Warum nur unternahmen sie nichts gegen die Klimakatastrophe? Warum waren sie blind für all das, was sich so offensichtlich vor ihren Augen abspielte?
Doch dann verscheuchte er die Gedanken. Er wollte nicht mehr an die Dummheit derer denken, die jetzt tot waren.
Gerade wollte er sich wieder der Arche zuwenden, da entdeckte er auf einem nahen Hügel eine Gestalt. Sie war hochgewachsen, schlank und langhaarig und beobachtete ihn. Ein buntes Kleid, geflochten aus Baumfasern, umhüllte ihren Körper.
Er lief zu ihr hin, und es schien natürlich, dass sie auf ihn wartete.
Eine Weile sahen sie sich in die Augen, wortlos. Er wusste, dass sie nicht verstehen würde, was er ihr sagte, genauso wie er nicht verstehen würde, was sie ihm sagen wollte.
Dann nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich.
Und er ließ sich von ihr führen und folgte ihr bis zu dem Dorf, das sie und die anderen dort errichtet hatten, wo die Wasser bereits abgeflossen waren.

Letzte Aktualisierung: 05.09.2011 - 01.04 Uhr
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