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Landleben | September 2011

Wenn wir groß sind
von Lutz Schafstädt

Ein lauer Sommertag am Rande des Dorfes. Viele Jahre war ich nicht mehr hier. Spatzen schwirren aus ihrem Versteck im Holunder, es duftet nach frischem Heu. Frösche quaken im von wuchernden Brennnesseln gesäumten Graben neben dem Weg. Gleich muss ich an der kleinen Brücke sein, die auf die Wiesen führt. Ich atme tief, öffne zwei Knöpfe an meinem Hemd. Ein Lüftchen rauscht durch die Gräser, streichelt kühl meine Brust, wirbelt vergessene Bilder und Gefühle auf.

In mir spult die Zeit zurück. Ich spüre, wie die Welt sich reckt und der Himmel sich weitet. Die Bäume und Büsche schrumpfen, die Wiesen verwandeln sich in Koppeln mit weidenden Kühen. Unter mir wölbt sich der Asphalt, wird zum schwarzen Morast eines ausgefahrenen Feldweges, mit Pfützen in den Mulden breiter Reifenspuren und zermalmt von den Klauen der Rinder. Schon meine ich, meine nackten Kinderfüße in diesem Brei versinken zu fühlen. Von mir fällt ab, was an Gegenwart an mir haftet. Ich winde mich von mir los und schaue mir nach, wie ich mit dem ungestümen Elan eines Elfjährigen ins Dorf laufe. Gedankenstaub wirbelt auf, trübt für erwartungsvolle Sekunden die Sicht. Ich sehe mich nicht mehr, bin hinter der windschiefen Scheune verschwunden, die sich eben aus dem Dunst erhoben hat. Die drei Linden mit ihren gestutzten Kronen sind wieder da, der rostrot getünchte Lattenzaun, das vielstimmige Kläffen der Hunde.

Da kommen wir um die Ecke. Mein Freund Frank und ich, der blasse Paul, in Sandalen und blauer Turnhose, die um meine Hüften flattert. Frank, mit stets zerzaustem Blondschopf und flinken Augen, hält eine Harke geschultert und einen Blecheimer an der Hand. Er trägt schwarze Shorts, seine Beine schlackern in den unvergesslich gelben, am Schaft umgekrempelten Gummistiefeln. Wir sind unterwegs, um Entengrütze zu holen. Mit dem letzten Hof endet die gepflasterte Straße und wird zu einem Feldweg, der von einem Gewitterschauer aufgeweicht ist. Franks Stiefel, eigentlich als Schutz gegen Blutegel gedacht, bewähren sich schon jetzt im Matsch. Ich bleibe bis zum Graben auf der schmalen Grasnarbe am Rand.

"Lass uns ein Stück weiter gehen", sagt Frank. "Hier vorn ist schon alles abgeharkt." Eigentlich bin ich der Meinung, dass sich bereits hier der Eimer gut füllen und die Arbeit schnell erledigen ließe, doch ich willige ein und ziehe meine Sandalen aus. Weg und Graben führen auf die Weiden hinaus, neugierig kommen die Kühe an den Elektrozaun getrottet. Bald sieht das Dorf hinter uns aus wie eine Insel aus Bäumen und Dächern, die der Kirchturm als Leuchtturm überragt. Es ist von einem Meer aus flachem Weideland und Äckern umgeben, auf dem Büsche, Bäume und Strommasten wie Bojen den Verlauf von Wegen und Straßen markieren.

"Wenn wir groß sind, werden hier überall Hochhäuser stehen", sagt Frank und ich sehe ihn erstaunt an.
"Warum denn?"
"Wegen dem Fortschritt und weil alles wächst."
"Wer sagt das?"
"Mein Papa. Er hat erzählt, in den Dörfern werden jetzt moderne Häuser gebaut, da leben die Leute dann wie in der Stadt."
"Nicht schlecht."
"Ja, und die Gärtnerei wird dann bis an die Chaussee reichen und ein Heizhaus mit drei Schornsteinen haben."
Ich finde Gefallen am dem Gedankenspiel: "Und am Dorfplatz wird ein Kaufhaus gebaut. Und einen Bahnhof bekommen wir."
Lachend fällt unser Blick auf einen Blechtrog im Graben, eine Tränke, die irgendwer hier in ein Boot verwandeln wollte.
"Und ein Hafen fehlt", ruft Frank, wirft Eimer und Harke auf den Weg und trampelt einen Pfad in das Gestrüpp der Böschung. "Hier ist schon mal der Kanal."
Wir steigen in den wackligen Trog, das Regenwasser darin wabert umher.
"Willst du einmal Kapitän werden?", frage ich.
"Nein", schüttelt Frank den Kopf. "Ich werde Hubschrauberpilot." Er sieht, wie verdutzt ich bin. "Hab ich noch nicht gesagt? Ich werde über die Felder fliegen, ist ja klar, dass auch die riesig sind, und Dünger streuen."
"Nimmst du mich mal mit, im Hubschrauber?"
"Klar Paul, aber du wirst ja Präsident und musst zwei Mal die Woche nach Moskau."
"Am Wochenende. Da komme ich doch zu Besuch."
"Dann ja."

Unser Blechkahn schwimmt nicht. Das Wasser im Graben ist zu flach, wir sind zu schwer. Frank steigt aus, will ihn ein Stück schieben. Doch der Druck seiner Arme überträgt sich auf seine Stiefel. Sie versinken im weichen Untergrund, sind im Nu mit brackigem Wasser vollgelaufen und sitzen fest. Mit vereinten Kräften, bis zu den Ellenbogen im Morast, ziehen wir sie wieder heraus. Zum Glück erst danach fallen Frank die ekligen Blutegel wieder ein, die hier überall lauern sollen. Mit Grasbüscheln reiben wir uns hektisch die Arme und Beine sauber, um dann aufmerksam inspizierend einander zu umkreisen. Nichts zu sehen, wir dürfen weiterleben.

Es ist Zeit, sich nach einer guten Stelle mit Entengrütze umzusehen. Nun beide barfuß, gehen wir noch ein paar Schritte, dann wirft Frank die Harke aus. Auf dem Rückweg tragen wir den vollen Eimer gemeinsam am Henkel. Frank balanciert mit der anderen Hand die Harke, ich trage die Stiefel, in denen meine Sandalen stecken. Da spüre ich plötzlich etwas Kaltes an meiner Ferse. Mit dumpfem, kantigem Druck lässt es mich zusammenzucken. Ich reiße das Knie hoch, greife nach meinem Fuß, will den Schmutz abreiben. Die schwarze Erde an meiner Hand vermischt sich mit Blut. Als ich es sehe, setzt auch der Schmerz ein.
"Ich habe mich geschnitten!"
Ich setze mich an den Wegesrand. Den Fuß mit beiden Händen hebend und drehend, versuche ich, einen Blick auf die Wunde zu werfen. Immer mehr Blut quillt hervor.
"Soll ich laufen und Hilfe holen?" In seinen Hosentaschen kramt Frank nach einem Taschentuch.
"Nein, es geht schon."
Das Stofftaschentuch von Frank ist zu klein, um es um den Fuß zu knoten. Wir drücken es gegen den Schnitt und ziehen eine Sandale darüber. Frank hilft mir auf, stützt mich, ich lege meinen Arm um seine Schulter. So humpeln wir langsam dem Dorf entgegen, wie zwei geschundene Krieger nach einer verlorenen Schlacht.

Am ersten Hof meint Frank, ich solle mich am Zaun festhalten. Lass, ich bin doch gleich zu Hause, will ich noch sagen, aber er ist bereits durch das Tor verschwunden. Er kommt mit der weißhaarigen Frau Weber zurück. Sie nehmen mich in ihre Mitte, geleiten mich hinein und setzen mich in der Küche auf einen Stuhl.
"War wohl eine Scherbe", sagt Frau Weber, während sie die Wunde säubert. "Ist nicht tief. Blutet auch nicht mehr." Sie schneidet ein breites Stück Pflaster ab, tätschelt mir tröstend den Kopf und lobt Franks fürsorglichen Einsatz. Zum Abschied werden uns Grüße an die Eltern aufgetragen und gibt es aus dem Korb im Flur einen großen gelben Augustapfel für jeden. "Sind paar Stellen dran, die spuckt einfach aus."

Ich warte vor dem Haus. Frank und ich kommen nicht mehr heraus. Die Erinnerung an einen saftigen, sauren Apfel kreist durch meinen Mund. Ich bin allein. Und reichlich erwachsen. Frank und ich sind fort, die Zeit hat uns fortgeweht, wie den Schmerz in meiner Ferse, den Bretterzaun, die Scheune, die Linden, das Kopfsteinpflaster. Ich weiß nicht, welche Leute hier heute wohnen. Der Hof ist eine Pferdepension geworden, angelegt wie ein Garten, mit markierten Stellflächen für Autos und Gästezimmern im ausgebauten Stallgebäude.

Ich gehe die frisch sanierte Dorfstraße entlang. Parktaschen gibt es nun auch hier. Nirgendwo ist ein Mensch zu sehen. In die Lücken zwischen den alten Bauernhäusern, wo einst Gärten waren, wurden kleine weiße Familienhäuser gebaut. In ihnen wohnen die neuen Dörfler. Sie schwärmen morgens aus an ihre Arbeitsorte und lassen Leere zurück. In den staubig-grauen Häusern leben die alten Leute. Wo sie schon Platz gemacht haben, sind die Fenster frisch gestrichen, die Fassaden neu verputzt, blinken auf den Dächern von Scheunen und Ställen Solaranlagen im Licht. Hier wird ländlich-nostalgisches Leben zelebriert, dort schweißt ein Künstler Skulpturen aus Metall. Ein Schild wirbt für handgefertigte Töpferwaren, auf einem Campingtisch an der Straße warten Tomaten, Gurken und Sträuße aus Sommerblumen auf Kundschaft.

Das Leben ist modern geworden, da hatte Frank recht. Geirrt hat er sich, was die Gärtnerei betrifft: Sie ist nicht gewachsen, sondern liegt verlassen und verwildert da. Die Glasscheiben der Treibhäuser sind eingeschlagen, geblieben sind Skelette aus splittergesäumten Rahmen.

Das Leben ist modern geworden, doch mein Dorf ist nicht mehr da. Dieser Ort hier fühlt sich falsch und leblos an. Ich spaziere enttäuscht die leere Straße entlang. So vieles hat sich verändert, ist verschwunden und vergessen. Alles war anders, damals. Besser? Schöner? Was ist es eigentlich, woraus Erinnerungen ihren Zauber holen?

Neben mir knarrt eine Tür, eine Frau in Kittelschürze und Pantoffeln tritt auf den Gehweg und würdigt mich, nur wenige Schritte entfernt, keines Blickes.
"Majo", ruft sie. "Möko!"
Eine unverständliche Antwort ist zu hören. Wenig später kommen sie um die Ecke, Vater und Sohn, und ich frage mich erst gar nicht, wer von ihnen Mario und wer Mirko ist. Der Vater schiebt eine Schubkarre vor sich her und setzt zum Galopp an. Der kleine Sohn sitzt darin, hüpft federnd auf einem Berg aus Kaninchenfutter, hat die Arme ausgebreitet, jauchzt und glaubt zu fliegen. Als der Junge mich erblickt, wird er still und lässt die Arme sinken. Sie schieben an mir vorbei. Der Vater nickt mir einen wortlosen Gruß zu, der Junge dreht sich nach mir um.

"Papa, wer war der fremde Mann?"

Lutz Schafstädt (09/2011)
Version 2

Letzte Aktualisierung: 22.09.2011 - 16.05 Uhr
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