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Landleben | September 2011

Klischees
von Anne Zeisig

Cassandra steuerte ihren alten Golf über den unbefestigten Feldweg. Rechts und links der Strecke recken sich goldene Ähren zur Sonne.
“Ausgerechnet mich schickt der Big Boss in diese Einöde! Das Charisma des Landlebens erfühlen und einsaugen! Raum finden für ungewöhnliche Aspekte des Landlebens. Neues entdecken! Pah!”
Sie wischte sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. “Außer den gängigen Klischees werde ich nichts entdecken!”
Ihr Kollege Markus schlug seine langen Beine übereinander und rückte seine Kappe zurecht. “Haste erwartet, dass ‘ne Neue von einem Provinzblättchen nach Berlin geschickt wird? Hier kannste dem Alten zeigen, waste drauf hast. Ist doch ‘ne coole Herausforderung.”
Sie steckte sich eine Zigarette zwischen ihre knallrot geschminkten Lippen und nuschelte. “Die einzige Herausforderung, die es gibt, stellt dieser Hinterwäldler-Feldweg an meine betagten Stoßdämpfer.”
Sie hielt ihrem Kollegen ihre Faust als fingiertes Mikrofon hin. “Liebe Leser, ich bin empört! Ja, man kann sagen, dass der Zustand dieses Weges ein Skandal ist. Tagaus, tagein, sommers wie winters müssen sich Landmaschinen über diese Strecke quälen! Die Pein der Pneus muss unsagbar sein. Aber sie ertragen es schweigend, würdevoll und lecken
sich in zugigen Scheunen ihre Wunden. Viele von ihnen führen ein einsames und geschundenes Schattendasein ohne Gnadenbrot und sind dem Rost hilflos ausgeliefert.”
Markus schnalzte mit der Zunge. “Ich habe gelesen, dass diese Ungetüme von Maschinen alles niedermetzeln, was blond, weiblich ist und ‘ne spitze Zunge hat.”
Cassandra lachte. “Ätsch! Selber blond!”
“Aber nicht weiblich.”
Sie blickte zur Seite und pfiff durch die Zähne. “Stimmt. Männlich markant.”
Die Bodensenke traf die Fahrerin unvorbereitet.
Cassandra und Markus stiegen aus und analysierten die Lage. BeideVorderräder waren tief im morastigen Untergrund eingesunken.
“Ich setz mich rein und starte im Rückwärtsgang, während du den Wagen vorne anhebst.” Cassandras blaue Augen strahlten. “Dann sind wir ruck-zuck raus aus diesem fiesen Loch.”
Markus schüttelte seine kinnlange Mähne. “Der steckt zu tief in der Scheiße. Will auch keinen Bandscheibenvorfall riskieren.”
Cassandra spitzte einen Schmollmund. “Defekte Stoßdämpfer reichen mir. Nicht auch noch kaputte Bandscheiben.”
“Weit kann es bis zum Dorf nicht sein. Wir laufen.”
Sie riss ihre Augen auf. “Zu Fuß?” Cassandra blickte auf ihre hochhackigen Lackschuhe.
Markus zwinkerte ihr zu. “Klischee Nummer Eins. Weibliche Stadtpflanze stöckelt in der Mittagshitze durch die güldenen Felder!”


Cassandra zog sich ihre Schuhe aus. “Klischee Nummer Zwei. Hinterwalddörfler bewegen sich barfüßig übers Land. Autsch!” Sie hob einen Fuß an und massierte ihre Fußsohle. “Fußreflexzonenmassage der natürlichen Art.”
“Willste meine Schafwollenen überziehen?”
“Igitt! Ich steh nicht auf vollgeschweißte Käsemauken! Lieber gehe ich barfuß über glühende Kohlen!“
Nach einhundert qualvollen Metern zog Cassandra dankend Markus’ Wollsocken an. “Hab extra ‘ne Tube Anti-Fußpilz-Creme eingepackt. Bei den Duschen in den alten Landgasthöfen kann man ja nie wissen, wie ‘s um die Hygiene steht.”
“Klischee Nummer Drei, Cassandra.”


* * *
Endlich waren sie im Gasthaus angekommen.
“Wenns dem Ernsterl sein Traktor noch tut, dann kann er Ihren Wagen bergen.” Die Frau hinter dem Tresen rückte ihre Armani-Brille zurecht. “Der betreibt seinen Hof freilich nur noch im Nebenerwerb. Leben tut er von der Ihhh-Tiiii-Branche oder so ähnlich, müssens wissen.”
“Sagte ich doch”, flüsterte Cassandra Markus ins Ohr, “dass die Landmaschinen hier ein Schattendasein führen.”
“Ein schattiges Doppelzimmer solls sein?” Sie malträtierte mit ihren Rotlackierten die Tastatur des PC’s.
“Einzel!”, antworteten beide im Chor.
“Is scho recht.”
Die Gasthausinhaberin ging mit den beiden vor die Tür. “Wenns da hinab gehen und an der nächsten Biegung links. Da ist dem Ernsterl sein Hof.” Sie blickte an Cassandra hinab und verkniff sich ein Lachen wegen der dicken Socken. “Stöckerln auf dem Land will halt gelernt sein.” Mit elegantem Hüftschwung machte sie kehrt und bewegte ihren fülligen Körper auf hohen Absätzen zurück in den Gasthof.
“Klischee Nummer Vier”, nuschelte Markus leise.
“Hast du die Brille gesehen? Mit Swarovski-Kristallen!” Cassandra pfiff zischend durch ihre Zähne. Sie fühlte sich verschwitzt, billig und unattraktiv. “Mit deinen Socken habe ich einen Gang wie ein Bauerntrampel”, maulte sie.
”Klischee Nummer Fünf, liebe Kollegin.”
Inzwischen war der Hof in Sichtweite.

Weil niemand die Tür öffnete, gingen Cassandra und Markus in die Scheune. Angenehm kühl war es hier. Sie kletterten über die Leiter auf den Heuboden und legten sich ins Stroh.
“Ah! Chillen! Geil!” Markus hatte sich auf den Rücken gedreht und beobachtete das Tänzeln der Staubteilchen im Schein der Sonnenstrahlen.
“Ich brauch ‘ne Dusche und Klamotten zum Wechseln.” Cassandra sah durch die Holzritzen hinab und blickte auf den Traktor. “Hoffentlich ist das Gefährt einsatzfähig. Ich will endlich meinen Koffer haben.” Sie rollte sich auch auf den Rücken. “Ey! Das mistige Stroh piekst!”
Zwei Männer betraten die Scheune.
“Er hat wieder seine Macke. Technisch ist alles okay. Der Schorschi hat ihn durchgecheckt.”
Cassandra und Markus drückten sich die Nasen platt, damit sie durch die Schlitze im Holz was erkennen konnten.
Unten standen zwei Männer. Ein Dunkelhaariger im Anzug mit Krawatte und der andere trug eine typische grüne Arbeitslatzhose.
Der mit der Latzhose umrundete den Traktor. “Äußerlich erkenne ich keinen Defekt.” Er streichelte über das Blech. “Ich vermute eine Depression. Ernst, der wird zu wenig von dir gefordert. Er fühlt sich nutzlos und alt.”
Der Anzugträger wischte sich mit der Hand übers glatt gekämmte Haar. “Hans, er könnte doch froh sein, im Alter nicht mehr so arg gefordert zu werden!”
Der Latzhosenträger legte sein Ohr auf den Motorraum, streichelte darüber und flüsterte Worte, die Cassandra und Markus nicht bis oben hören konnten.
“Sagte ich doch”, zischte Cassandra, “geschundene Kreaturen.”
“Pst.” Markus legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen. Sie öffnete ihren Mund und biss leicht in seinen Finger. Er zog ihn schnell weg und zeigte ihr einen Vogel. Cassandra kicherte leise.
Unten umrundete der Latzhosenträger abermals den Traktor und strich über alle vier Räder. Nun redete er lauter. “Der Ernsterl braucht dich. Draußen erwartet dich nichts Beängstigendes. Das Wetter ist gut, die Wege sind trocken und eben.”
“Von wegen eben”, flüsterte Cassandra.
Hans holte ein Stethoskop hervor und horchte am Motorraum. Inzwischen war der Ernst auf den Sitz hinters Lenkrad geklettert und ließ den Motor an.
Es knatterte und dröhnte.
Cassandra hob beide Arme in die Höhe. “Juhuh. Mein Auto kann samt Gepäck geborgen werden.”
“Pst!”
Das Knattern hörte auf.
“Siehst ‘s nun selbst! Sobald ich den Motor anlasse, geht er nach ein paar Sekunden wieder aus.” Ernst schlug auf den Lenker.
“Wenn du den Traktor so grob anfassen tust, dann wundert ‘s mich nicht, dass er sich dir verweigert, Ernst!”
Cassandra zwinkerte Markus zu. “Vielleicht ist das arme Traktorlein liebesbedürftig.” Sie lachten.
“Ist da wer?”
Die beiden stiegen die Leiter hinab. Cassandra zeigte hinauf. “Wir haben eine Pause gemacht. Die Gasthofangestellte meinte, der Traktor könne meinen festgefahrenen Golf aus einer Senke im Feldweg befreien.”
“Ich bin der Ernst.” Er hielt den beiden seine Hand entgegen. “Dann habens ja mitgekriegt, dass mein Traktor Probleme hat.”
Der Latzhosenträger nickte. “Ich darf mich vorstellen? Hans. Bekannt als Maschinenflüsterer auf dem Land.”
“Maschinenflüsterer?” Markus kniff seine Augen zusammen. “Ich habe bisher nur von Pferdeflüsterern gehört.”
“Was bei den Viechern funktioniert, muss bei den Maschinen nicht falsch sein”, wurde er von Hans belehrt, “aber die Leut’ aus der Stadt denken, wir da auf dem Land täten hinterm Mond leben.”
“Denkt ihr etwa auch so?”, fragte Ernst.
Cassandra und Markus schauten sich an und schüttelten einvernehmlich ihre Köpfe.
“Ich stehe Neuem stets aufgeschlossen gegenüber. Außerdem bin ich froh, wenn ich endlich meinen Koffer habe.”
“Aber er fährt nicht.” Ernst schlug mit seiner Faust auf das Traktorblech.
Hans schnellte vor und hielt sein Handgelenk fest. “Wenn ich noch einmal mitbekomme, dass du deinen Traktor schlägst, dann mache ich eine Anzeige wegen Misshandlung!”
Cassandra tänzelte freudig auf der Stelle und flüsterte Markus ins Ohr. “Das wird ein Superartikel. Missbrauch an Landmaschine! Reporter decken auf.”
“Ihr seids Reporter?”
Während Markus irgendetwas zu stammeln versuchte, schob Cassandra die Männer beiseite.
Sie kletterte auf den Sitz und öffnete drei Knöpfe ihrer Bluse. Dann legte sie ihren Oberkörper auf das Lenkrad und rieb leicht darauf hin und her. “Hallo Süßer. Ich bin die Cassandra. Und wenn du mir versprichst, mein Auto zu bergen, dann werden wir beide noch viel Spaß miteinander haben. Ich liebe ältere Traktoren.”
Wow! Außer ihrer Zickigkeit hatte die neue Kollegin auch Erotisches zu bieten.
Sofort schnurrte der Traktor zum Feldweg und die drei Männer hatten Mühe hinterherzulaufen.

* * *
Markus schob den Vorhang des Gasthofzimmers beiseite und blickte auf den Marktplatz. “Der Traktor hat wieder die ganze Nacht dort gestanden.” Er kuschelte sich zu Cassandra unter die Decke. “Ich kann ihn verstehen. Bei deinen Reizen.” Er bedeckte ihren Körper mit heißen Küssen. Plötzlich hielt er inne. “Kann es sein, dass der Traktormotor kurz aufgeheult hat?”
“Kann schon sein”, stöhnte Cassandra. “Ein eifersüchtiger Traktor. Das ist wenigstens kein Klischee.”


©Anne Zeisig, Version 3

Letzte Aktualisierung: 13.09.2011 - 20.10 Uhr
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