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Landleben | September 2011

Auf der Alm gibt’s Küh’
von Ingeborg Restat

„Oh, schau, wie schön diese Kühe hier sind mit ihrem braunen Fell, den Ohren wie Samt und dann: Diese großen schwarzen Augen!“, rief ich begeistert, als ich sie sah.
Städter im Urlaub, zum ersten Mal in den Bergen! Das waren wir, damals, vor vielen Jahren.

„Ja mei! Wenn ihr den Weg über die Wiesen zur Toberalm geht, da müsst ihr Acht geben, da steht ein böser Bulle. Der hat den Bauern schon angefallen. Den andern Weg durch den Wald am Bach entlang müsst ihr nehmen“, hörte ich beim Abendessen in einer Gastwirtschaft einen Einheimischen zu Gästen sagen. Zwinkerte er mit den Augen dabei? Egal!
„Frieder, hast Du das gehört?“ Ich stieß meinen Mann an, dass ihm der Semmelknödel, den er sich gerade nehmen wollte, vom Löffel auf den Teller mit dem Schweinsbraten fiel und ihm die Soße auf die Hose spritzte.
Er machte mit dem Stuhl einen Satz zurück, sodass der laut über den Boden scharrte.
Für einen Moment blickten alle zu uns.
Ich errötete.
„Sag mal, geht’s noch, Irene!“, zischte er leise und wischte mit seiner Serviette über die Hose.
„Tut mir leid! Aber hast du das eben gehört?“, drängte ich.
„Nicht so laut! Muss doch nicht jeder wissen, dass wir morgen dort vorbei und zum Toberkogl hoch wollen“, flüsterte er mir zu.
„Warum?“
„Wer weiß, was die Klugscheißer von Einheimischen dann glauben, uns Neulingen erzählen zu müssen. Möchtest du dir das anhören und die Tour am Ende verleiden lassen?“
Nein, das wollte ich nicht.
Es war nicht gerade der höchste Berg, den wir uns zu unserer ersten Bergtour ausgesucht hatten. Der Gipfel war grün bewachsen ohne gigantisches Felsgestein - aber er hatte ein Gipfelkreuz! Und bei dem wollte ich fotografiert werden.

Der Himmel war blau und die Sonne schien, als wir uns am nächsten Morgen auf den Weg machten - nicht zu früh, denn im Urlaub will man sich ja ausschlafen. Ich zünftig im neuen Dirndl - wie es sich für einen Flachländer in den Bergen gehört -, Frieder mit dem gerade erstandenen hier üblichen grauen Filzhut, den man zusammengedrückt in die Tasche stecken konnte. Drei Edelweiß -Anstecknadeln hatte er daran geheftet – damit es nach was aussah, wie er meinte.
Auf einem Parkplatz an einem See außerhalb des Ortes ließen wir unser Auto stehen und nahmen unseren kleinen Rucksack heraus.
„Leg doch deine Jacke darüber“, riet ich Frieder.
„Wozu? Hast du etwa eine Jacke für dich eingepackt?“
„Ja, eine Strickjacke!“
„So ein Quatsch! Siehst du irgendwo eine Wolke? Warum soll ich die unnötig hoch- und wieder runtertragen?“, entschied er, holte sie heraus und legte sie zu seiner Jacke in den Kofferraum.
Frieder vorneweg mit dem Filzhut auf dem Kopf, unserem Rucksack auf dem Rücken und dem Fotoapparat vor der Brust, ich hinterher, so begannen wir unsere erste Bergtour. Und es ging bergauf – nur bergauf!!! Noch war der Weg durch einen Wald breit, und bald konnten wir zwischen den Tannen ins Tal hinabsehen.
„Frieder, ist das schon der richtige Weg? Wo ist dann der Bach, an dem entlang es zur Alm gehen soll?“, fragte ich nach einiger Zeit.
„Wieso? Willst du dem Bullen begegnen? Den Wiesenweg müssen wir suchen, sobald wir aus diesem Wald heraus sind.“
„Aber am Wiesenweg soll der Bulle sein.“
„Red nicht! Wer weiß, was du wieder gehört hast. Der Bulle ist am Waldweg. Das weiß ich genau!“
Ich schwieg und hoffte, dass wir den Wiesenweg nicht finden würden.

Überwältigt blieben wir stehen, als wir aus dem Wald herauskamen. Herrlich dieser bereits weite Blick über die majestätischen Berge ringsum. Und vor uns eine Wiese voller Blumen, über die ein Pfad weiter hinaufführte.
„Jetzt muss hier bald der Wiesenweg abgehen“, meinte Frieder.
Aber es gab nur diesen einen Weg und er brachte uns erneut in einen höher gelegenen Wald.
Plötzlich war auch der Bach da.
„Verflixt! Jetzt sind wir doch auf dem Waldweg und müssen an dem Bullen vorbei“, ärgerte sich Frieder.
Ich aber war mir sicher, hier würden wir keinem bösen Bullen begegnen. Frieder musste sich irren.
Doch dann - gleich hinter den letzten Bäumen stand er vor uns: Ein einzelner Bulle hinter einem niedrigen Weidezaun.
Wie versteinert blieb ich stehen.
Auch Frieder ging keinen Schritt weiter.
Wir starrten den Bullen an, der starrte uns an.
„Da geh ich nicht vorbei!“, rief ich und drehte mich um.
Ein Griff und Frieder hielt mich fest. „Hab dich nicht so!“
„Lass uns zurückgehen, bitte!“
„Den ganzen Weg? Nein!“
„Aber wenn …“
„Wenn, wenn … Es hilft nichts, jetzt müssen wir vorbei. Bleib nur ruhig und mach keine hastige Bewegung“, sagte er und zog mich mit sich.
Mein Herz schlug bis zum Hals. Ganz dicht mussten wir an dem Weidezaun entlang. An der anderen Seite des schmalen Weges floss das Wasser des Baches rauschend ins Tal hinunter. Vorsichtig, fast gebückt, als würde der Bulle uns so weniger sehen können, schlichen wir vorbei. Doch plötzlich – was machte der? Er setzte sich in Bewegung und sprang auf uns zu! Ich schrie, riss mich los und rannte, rannte, immer bergauf, bis ich nicht mehr konnte!
„Halt, Irene, halt!“, rief Frieder und hastete mir nach.
Schwer atmend drehte ich mich um. Ein Stück unter mir stand der Bulle am Ende des Weidezauns und muhte uns hinterher.
„Hier gehe ich kein zweites Mal vorbei!“, versicherte ich noch zitternd.
Frieder nahm seinen Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wir müssen nur den Wiesenweg finden. Vielleicht geht das auf dem Rückweg von der Toberalm aus leichter.“ Dann jedoch fragte er frohlockend: „Na, wer hatte recht? Wo ist der Bulle gewesen? Am Wiesenweg kann er jetzt nicht mehr sein.“
„Dann hab ich mich halt mal verhört“, gab ich kleinlaut zu.
„Mal …?“, grinste Frieder.

Die Sennerin stand vor ihrer Almhütte und sah uns neugierig entgegen. „Grüß Gott!“, riefen wir ihr zu und gingen schnell vorbei. Warum lächelte sie so eigenartig? Hatte sie uns beobachtet und sich darüber amüsiert, wie wir an dem Bullen vorbeigeschlichen waren?
Jetzt stand die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel. Kein Baum, kein Strauch, keinen Schatten gab es mehr. In Serpentinen ging ein schmaler Pfad weiter hinauf. Er wurde felsiger und steiniger. Durch die Sohlen meiner sonst so bequemen Slipper spürte ich jeden Stein.
„Warum hast du dir nicht deine Schnürschuhe angezogen?“, fragte Frieder, als er bemerkte, wie ich um jeden Stein herumlief.
„Wie hätten die denn zu meinem Dirndl ausgesehen!“, antwortete ich empört.
„Hier ist ja auch der Ku-Damm“, brummte er und knickte trotz Schnürschuhe erneut um.
Stiefel müsste man haben!
Meine Kehle wurde trocken, Durst quälte mich. Ich beachtete weder Alpenrosen noch Enzian. Ich wollte nur hoch zum Gipfelkreuz, die Flasche aus dem Rucksack holen und trinken, trinken …
Selbst Frieder hatte aufgehört alles zu fotografieren, auch ihn zog es wohl nur noch nach oben.
Die Mittagssonne brannte, ich schwitzte, die Füße schmerzten und der Weg nahm kein Ende. Unterhalb des Gipfels kamen wir an einer Gruppe Kühe vorbei. Sie lagen wiederkäuend im Gras. Doch endlich, noch einmal um einen Felsen herum und wir standen vor dem Gipfelkreuz.
Erschöpft ließen wir uns ins Gras fallen. Noch hatten wir keinen Blick für die herrliche Aussicht von hier oben. Frieder holte die kleine Wasserflasche aus dem Rucksack und reichte sie mir. Doch kaum hatte ich den ersten Schluck getrunken, hörten wir Kuhglocken läuten. Es kam näher. Erst sahen wir eine Kuh, die zum Gipfel hochkam, dann noch eine und noch eine. Der Gipfel mit seinem Gras gehörte wohl zu ihrer Weide. Sie kamen auf uns zu, dichter und dichter heran, bedrängten uns, bis wir aufstanden. Eine davon schubste mich, wollte meine rote Schürze fassen. Wollte sie die auffressen? Wir flohen und waren den Gipfel schneller wieder hinunter als hinauf. Nicht ein Bild konnte Frieder von mir am Gipfelkreuz machen, nur mit den Kühen darum aus einiger Entfernung.

Erst ein Stück tiefer, hinter einem Felsen, der sogar etwas Schatten spendete, ruhten wir uns aus. Die Sonne hatte ihren Höhepunkt längst überschritten, dann ging es wieder an der Toberalm vorbei über den Wiesenweg zurück ins Tal. Schritt für Schritt bergab - nur bergab!!! Das ging über die Beine. Morgen würde ich keinen Schritt mehr laufen können, glaubte ich.
Auch Frieder meinte: „Morgen machen wir einen Ruhetag.“ Und dann sagte er: „Um den bösen Bullen müssen wir uns jetzt nicht mehr sorgen, den hatten wir bereits.“
Das hätte er nicht sagen sollen. Schon fast im Tal, stand er plötzlich vor uns: Der wirklich böse Bulle! Ein Schwergewicht, allein auf einer mit Stacheldraht eingezäunten Koppel. An einem durch seine Nase gezogenen Ring hing eine schwere Kette. Er schnaubte und scharrte mit den Hufen.
Wie angewurzelt blieb ich stehen. „Der senkt schon seine Hörner!“
Frieder aber stutzte nur kurz: „Hier also ist der böse Bulle und angekettet. Er kann nicht weg. Schau hin!“, beruhigte er mich. Dann lachte er. „Der andere war nur ein harmloses Tier, und wir … Hahaha! Das dürfen wir niemandem erzählen.“ Wieder nahm er mich an die Hand. Ich aber atmete erst auf, als ich vorbei war.
Inzwischen hatte sich eine dunkle Wolkenwand über die Berge geschoben. Es wurde finster im Tal, kalter Wind kam auf, es blitzte und donnerte. Wir froren - und die Jacken im Auto!!! Ein Wolkenbruch mit Hagelkörnern ergoss sich. Wir wurden nass bis auf die Haut.
Und wo war unser Auto? Der Wiesenweg führte uns zu einer anderen Stelle des Ortes. So nass wir waren, wir mussten erst quer durch den Ort laufen, ehe wir zum Gasthaus zurückfahren konnten.
Als wir dort ankamen und möglichst ungesehen aufs Zimmer schleichen wollten, begegneten wir der Gastwirtin.„Ja, mei! Wie schaut’s denn ihr aus? Wart’s nicht mit dem Auto unterwegs?“, fragte sie überrascht.
„Doch, doch!“, murmelten wir und huschten vorbei.

Tat das gut, am Abend in den Betten zu liegen. Jeder Knochen schmerzte. Nur nicht bewegen! Und doch war es schön gewesen. Am Ende konnte ich mir nicht verkneifen, zu fragen: „Na, an welchem Weg war nun der böse Bulle? Wer hatte recht?“
„Ist ja gut!“, brummte Frieder. „Aber ich hätte schwören können …“ Dann verrieten ruhigen Atemzüge, dass er eingeschlafen war.

Letzte Aktualisierung: 20.09.2011 - 15.43 Uhr
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