Diese Seite jetzt drucken!

Landleben | September 2011

Das Moorloch
von Karl-Otto Kaminski

„Ein Schaf ist ganz brav, ein Schäfer noch bräver.
Vor einem Hammel hat niemand Bammel; doch vor dem Bock hüt sich der Rock.“
Wie oft hörte ich diese dummen Verse, wenn Hannes sie sang. Und wenn er sie nicht sang, dann summte oder pfiff er die einfache Melodie dieses Liedes immer und immer wieder. Es war schon manchmal nervtötend, selbst für ein geduldiges Schaf.
Habe ich mich schon vorgestellt? Nein? Bedaure! Mein Name ist Mirko. Ich bin ein Hammel, also einer, vor dem eigentlich niemand einen Bammel haben muss. Hammel zu sein ist gar nicht so übel. Das heißt, eine Weile hat mich mein Zustand schon frustriert. Ein Hammel, also ein gebremster Bock, ist ja nur gut für Grill oder Pfanne, heißt es. Aber die Gefahr ist jetzt für mich vorüber. Heute friste ich meinen Lebensabend zufrieden in diesem Streichelzoo auf Gut Elfenruh. Und das kam so:
Ich bin ein intelligenter Hammel. Doch, doch, ohne Selbstbeweihräucherung. Das sagte schließlich selbst Siegfried, unser Leitbock mit den stattlich gekrümmten Hörnern (der Koch habe ihn selig), der fast alle Schafe in der Herde belämmern durfte, und den alle respektierten, sogar Willy, der graue Hütewolf. Aber weil ich ein Hammel bin und kein normaler Widder, arbeitet mein Kopf ruhiger. Ich stehe nicht dauernd unter dem Zwang meiner Hormone. Dafür kann ich mich auf ganz andere Dinge konzentrieren und mache mir über vieles meine eigenen Gedanken, auch über die seltsamen Menschen.
Hannes ist übrigens unser Schäfer. Das heißt, er war es. Nun ist er es nicht mehr. Ich traure ihm nicht nach. Nicht, dass er ein schlechter Hirte war. Er kümmerte sich um uns, sorgte für abwechslungsreiche Kost, führte uns mal in die Heide, mal zu den üppigen Wiesen am Bach, ließ uns an frischem Baumgrün fressen und trieb uns mit Willy immer wieder sicher an den gefährlichen Moorlöchern vorbei an die Tränke bei den hohen, dunklen Erlen.
Aber Hannes hatte offenbar Probleme mit seiner Natur. Sobald Hannes eine Frau sah, wurde er nervös. Besonders wenn sie jung und hübsch war, vergaß er schnell seine eigentlichen Aufgaben. Dann führte er uns weder zu besseren Weiden noch zum Wasser, hatte nur noch Augen für dieses weibliche Wesen. Er, der außer dem dämlichen Lied und den wenigen Kommandos an den Hütewolf am Tage kaum ein paar andere Laute heraus brachte, blökte plötzlich ununterbrochen. Hannes war offenbar permanent in der Brunft, unabhängig von der Jahreszeit. Wie ein Widder, wenn er närrisch wird, umkreiste er die jeweilige Person und meckerte pausenlos. Doch selten führte ein solches Verhalten zu mehr als dem Beschnuppern der Lippen. Hannes versuchte zwar oft, seine Beute zu halten und sie zu bespringen. Aber das gelang ihm nie. Solange ich bei der Herde war, konnte sich jede erfolgreich wehren und mit Geschrei entfliehen.
Nur im letzten Sommer ist ihm eine nicht entkommen, und das war Karin, die Braut von Jens.
Das ist der Besitzer des großen Bauernhofes, zu dem der kleine Streichelzoo gehört, in dem ich jetzt zu Hause bin. Karin war so zutraulich und so schwach. Hannes hatte leichtes Spiel mit ihr. Alles Schreien und Sträuben half ihr nichts, als er sie ins Heidekraut warf. Ich stand nur einen Lämmersprung neben den beiden, als er mit ihr das machte, was Siegfried in der Brunft jeden Tag mit mindestens einem unserer Weibchen tat.
Aber im Gegensatz zu den Schafen, die sich das ruhig gefallen ließen, schrie die junge Frau furchtbar, und Wasser lief ihr aus den Augen. Sie rief laut nach Jens, der sie aber natürlich nicht hören konnte. Hannes brüllte: „Stell dich doch nicht so an!“ Aber Karin wollte oder konnte sich nicht beruhigen und schrie weiter.
Da nahm Hannes seinen Hirtenstab, der an unseren Hinterhaxen manchmal so gemein wehtat, wenn er uns einfing, um unsere Klauen zu beschneiden. Den drückte er ihr unter das Kinn. Da war sie plötzlich ganz ruhig. Ich stand daneben und sah ihm zu. Was hätte ich sonst auch machen können? Doch unser Schäfer konnte meinen Blick nicht ertragen.
„Du verrätst mich nicht, du Hammel!“, schrie er und schlug mit seinem Stab nach mir. „Du kommst bald in die Pfanne.“ Ich brachte mich mit einem raschen Seitensprung vor den Schlägen in Sicherheit. Dann nahm Hannes die Karin und schleppte sie zu dem unsicheren, pappigen Moorloch bei den Krüppelerlen. Ich lief hinter ihm her, schaute zu und stellte mich dumm.
Aber Hannes traute mir offenbar nicht. Er gab Willy das Kommando: „Herde zusammen halten!“, griff mich plötzlich brutal bei den Ohren und legte mir ein Halsband um. Das hätte er nicht tun sollen. Das konnte ich noch nie leiden. Dann zerrte er mich an einem Strick hinter sich her, runter zum Hof Elfenruh, ausgerechnet zu Jens, dem Bräutigam der netten Karin. „Du willst doch demnächst heiraten“, sagte Hannes, fletschte seine unregelmäßigen Zähne und wieherte wie eines der Pferde auf der Koppel hinter dem Hof. „Hier bringe ich dir schon mal einen ordentlichen Hochzeitsschmaus.“ Damit gab er Jens das Seil in die Hand, mit dem er mich gerade hierher geführt hatte.
Der war völlig verblüfft und sah den Hirten fragend an. Aber Hannes sagte nichts mehr. Er drehte sich um und schickte sich an, den Hof wieder zu verlassen.
Da war mir plötzlich klar, dass ich etwas unternehmen musste. Einmal, um vielleicht mein Leben vor dem drohenden Grill zu retten, und zum anderen, um den Mord an Karin aufzudecken.
Also riss ich mich los. Der vermaledeite Strick rutschte Jens aus der Hand, und ich raste zurück in die Heide. Die beiden Männer folgten mir rufend und fluchend. Doch sie konnten mich nicht einholen. Schließlich habe ich ja vier Beine und sie jeder nur zwei.
Erst an dem Moorloch hinter den Krüppelerlen blieb ich ruhig stehen. Die beiden Verfolger keuchten heran.
„Was ist das?“ Jensens Stimme überschlug sich vor Entsetzen. Dabei war doch völlig klar, was da zu sehen war. Aus dem schwarzen Sumpfbrei ragte eine zarte, weiße Hand, an der ein goldener Ring glänzte. Jens erkannte den Ring und die Hand und sah Hannes an, wahnsinnig vor Wut. Der zuckte die Achseln und sagte: „Keine Ahnung.“
„Natürlich hast du eine Ahnung!“, schrie Jens. „Du bist doch der einzige Mensch hier in der Heide. Und gleich dort drüben steht deine Herde. Karin wollte oben am Waldrand Blaubeeren pflücken. Sie muss also hier vorbei gekommen sein. Was hast du mit ihr gemacht?“
„Ich? Äh, gar nichts!“, stotterte Hannes und hob die Hände vor sein Gesicht, als Jens sich ihm drohend näherte. „Das war ich nicht.“ Doch als ihn Jens derb am Kragen fasste und begann, ihn wie einen Lappen zu schütteln, winselte er flehend sein Schuldeingeständnis heraus: „Ich habe das nicht gewollt!“
Ich bin ein friedlicher Hammel und hasse Gewalt. Darum drehte ich mich um und gab vor, mich für die Blätter einer ganz jungen Erle zu interessieren, die dort ja auch wirklich sehr lecker sind. Hinter mir ging es inzwischen sehr laut zu. Die beiden Männer schrieen. Es hörte sich an, also ob sie miteinander kämpften. Und dann wurde es auf einmal sehr, sehr still.
Nachdem Jens seine Braut aus dem Sumpf gezogen hatte, nässte er lange mein Vlies mit der salzigen Flüssigkeit aus seinen Augen. „Du bleibst auf Hof Elfenruh so lange du lebst, du Hammel“, murmelte er schließlich. Er nannte mich damals noch „Hammel“. Meinen heutigen Namen, Mirko, bekam ich erst später. Ich folgte ihm willig. Es gab nun keinen Strick mehr, mit dem er mich hätte führen können.
Zu den netten Männern mit den grünen Anzügen, die noch am gleichen Tag auf seinen Hof kamen und mir den Kopf kraulten, sagte er: „Nur dieser Hannes kann meine Verlobte umgebracht haben. Niemand sonst war heute in der Gegend. Ich habe Karin tot im Moorloch dicht bei seiner Herde gefunden und sie dann herausgezogen.“ Und wieder lief ihm Wasser über sein Gesicht.
Sie nickten mit den Köpfen, die Grünen. Und einer ohne grünen Anzug, der wohl ihr Hütewolf war, weil sie ihm immer folgten und auf ihn hörten, sagte ernst und leise: „Ganz eindeutiger Fall von Sexualmord.“
Nach Hannes, dem Mörder der schönen Karin, suchen die Grünen wohl noch immer, zum Glück nicht in dem pappigen Moorloch hinter den Krüppelerlen. Dort wird auch keine Hand mehr verräterisch aus dem Morast auftauchen. Dafür ist der Findling zu schwer, den Jens dem Hannes auf den Rücken gebunden hat, mit dem Seil, mit dem der mich vorher hinter sich her gezerrt hatte. Ich weiß genau, wo der Schäfer zu finden wäre. Aber mich fragt ja zum Glück niemand.

Letzte Aktualisierung: 08.09.2011 - 18.12 Uhr
Dieser Text enthält 8542 Zeichen.


www.schreib-lust.de