Diese Seite jetzt drucken!

Landleben | September 2011

Träume
von Eva Fischer

David hat sich bestens für den Rollentausch präpariert. Ich bin ganz geblendet von seinem Outfit, kenne ihn nur mit Jeans und einem T-Shirt lässig bis schlampig bekleidet, und nun sieht er aus, als ob er „Deutschland sucht den Superstar“ schon jahrelang moderiert.
Ich stehe auf der Bühne direkt neben Jan, dem er gerade das Mikrophon hinhält.
„Herr Meurer, Sie waren ein super Lehrer. Sie haben uns in Deutsch nicht mit ollen, langweiligen Kamellen gequält, sondern haben uns mit den Problemen konfrontiert, die uns wirklich unter den Nägeln brannten. Die Klasse 10 a möchte sich ganz herzlich bei Ihnen bedanken.“
Ein Klatschen, wie es RTL nicht besser bringen könnte, wogt durch die Aula. David lächelt zuerst in die Menge, bevor er sich wieder Jan zuwendet.
„Wir werden immer gefragt, was wir nach der Schule machen. Darf ich heute Sie fragen, ob auch SIE noch Träume haben?“
David hält Jan das Mikrophon direkt unter die Nase, lächelt zuckersüß. Aber Jan rasselt wie einstudiert, vollkommen souverän seine Antwort herunter.
„Ich habe immer davon geträumt, in die USA zu reisen, denn ich bin ein Fan amerikanischer Filme und will endlich alle berühmten Schauplätze ganz ungefiltert, nicht durch eine Linse sehen“.
Jan setzt wirkungsvoll eine Kunstpause ein, bevor er fortfährt.
„Na ja, und in diesen Sommerferien kann ich mir meinen Traum endlich erfüllen.“
Das Publikum scheint mindestens so begeistert wie Jan, denn erneut setzt frenetisches Klatschen ein. Ich werde doch nicht die gleiche doofe Frage kriegen, denke ich, als David sich mir zuwendet.
„Frau Kowalewski, auch Ihnen sind wir natürlich zu Dank verpflichtet, haben Sie uns doch mit Ihren biologischen Erörterungen sicher durch die EHEC-Krise geführt. Dürfen wir auch Sie nach Ihren Träumen fragen?“
„Nö“, wäre jetzt eine mögliche Antwort. Stattdessen schaue ich in die gespannten Blicke meiner ehemaligen Schüler. Auch David grinst mich an, allerdings eher spöttisch.
Welche Träume soll ich aus der Mottenkiste hervorholen? Ich bin fünfzig und da sind Träume nicht mehr im Repertoire. Plötzlich reitet mich der „Auch-ich-bin-ein-Superstar-Teufel“.
„Ich habe schon immer davon geträumt, einen Bauerhof zu haben“,höre ich mich zu meinem eigenen Erstaunen ins Mikrophon sagen.
„Und, gibt es eine Chance, Ihren Traum zu verwirklichen?“, hakt David nach.
„Ich denke schon, denn ich habe erst kürzlich eine Erbschaft gemacht“, gebe ich trotzig zurück.
„Wie werden Sie denn Ihren Traum mit Ihrem Beruf als Lehrer in Einklang bringen? Stehen Sie dann um fünf auf, um die Kühe zu melken, bevor Sie Ihre Schüler in die Mendelschen Gesetze einweihen?“
Okay, mit irgendwelchen Rachegelüsten muss man rechnen, wenn man Schülern eine Vier auf dem Abschlusszeugnis verpasst.
„Tja, da werde ich mich dann schon zwischen Kühen und Schülern entscheiden müssen“, kontere ich lässig.
Mein Blick fällt auf Frau Büttner, die in der ersten Reihe sitzt und den Stundenplan macht. Sie starrt mich entgeistert an, weil sie nicht weiß, ob das ein Witz sein soll oder ob sie sich eine neue Biologielehrerin suchen muss.

Karin, meine Kollegin und auch Englischlehrerin, prostet mir mit einem Glas Sekt zu, das die Schüler uns großzügig ausgegeben haben.
„Auf deine Erbschaft!“, blinzelt sie mich an.
Karin hat die sechzig überschritten und selbstbewusst nach mir verkündet, dass sie alle ihre Träume bereits realisiert habe, aber dass der Blick in die Zukunft ohne Schule sich auch recht gut anfühle. Sie weiß auch, dass meine Erbschaft schon einige Jahre zurückliegt und in einem kleinen Reihenhaus am Stadtrand steckt.

Nach zwei Gläsern Sekt finde ich noch problemlos mit dem Auto zurück in mein Eigenheim. Es ist Freitag, die Sommerferien stehen vor der Tür, und ich beschließe noch eine weitere Flasche Sekt aus dem Keller zu holen. Ich beobachte, wie die Bläschen im Glas nach oben blubbern, aber irgendwie gelingt es mir nicht, mich zu entspannen und abzuschalten. Wie ein scheinbar erloschener Vulkan spuckt mein Gehirn nur noch ein Wort aus. BAUERNHOF.
Die Stille in meinen vier Wänden erinnert mich plötzlich mehr an Friedhof und verpasste Chance als an Ruhe und trautes Heim. Mein gesichertes Beamtendasein kommt mir wie ein Irrweg vor, der meiner Bequemlichkeit geschuldet ist. Verdammt, ich bin erst fünfzig! Noch über fünfzehn Jahre soll ich Typen wie David biologische Feinheiten in ihr uninteressiertes Gehirn meißeln?
Was ist aus meinen Kindheitsträumen geworden? Da brauchte ich noch Natur pur und nicht in schlaue Bücher häppchenweise abgepackte Weisheiten.
Was wäre wenn ...? Die Gedanken drehen sich im Kreis. Das mit dem Sekt war doch keine so gute Idee. Es ist zum Kotzen. An einen erfrischenden Schlaf ist heute Nacht nicht zu denken, so viel steht fest.

Am nächsten Morgen schaue ich in den Spiegel. So sieht keine glückliche Frau aus. Nach der ersten Tasse Kaffee greife ich zum Hörer.
„Hallo, ich bin’s, Irene. Erinnerst du dich?“
Eine berechtigte Frage, denn ich habe mein Gegenüber das letzte Mal zu seiner Hochzeit gesehen, und das ist jetzt auch schon über zwanzig Jahre her.
„Wie geht es Marlene?“ , frage ich deshalb.
„Sie ist weg.“
„Wie weg?“ Sie wird doch nicht gestorben sein? Das wäre ja schrecklich!
„Weg eben. Hat’s Landleben nicht gefallen.“ Mir verschlägt es die Sprache.
„Und wie geht es dir?“ ,erkundige ich mich nicht sehr einfallsreich.
„Hör zu! Irene, was willst du?“ War er immer so kurz angebunden? Aber es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um in Erinnerungen zu schwelgen.
„Ich habe bald Sommerferien und möchte gern ein Praktikum bei dir auf dem Bauernhof machen. Geht das?“
Ich sehe seine unausgesprochenen Gedanken vor mir. Was will die verrückte Städterin eigentlich? Nach einer mir endlos erscheinenden Pause, bekomme ich endlich eine Antwort.
„Wenn du meinst.“ Jaaa, ich meine!!
„Ich freue mich“, flöte ich in das Telefon, aber Günther hat bereits aufgelegt.

Der Bauernhof ist der letzte in der Reihe des kleinen Eifeldorfes. Die Mauern sind wie in Granit gehauen, als wären sie schon eine Ewigkeit alt und könnten mühelos noch einmal das selbe schaffen. Ein Schäferhund bellt mich wütend an. Er ist keine Eindringlinge gewohnt. Ich schaue ihn unerschrocken an und lobe ihn wegen seiner Wachsamkeit. Endlich öffnet sich eine Tür. Günther kommt mir im blauen Drillich entgegen. Mit einem schneidenden Ton bringt er den Hund zum Schweigen. Er heißt Rex wie zu meiner Kindheit und sieht auch genauso aus, auch wenn einige Hundegenerationen dazwischen liegen. Günther dagegen hat sich verändert. Der schlaksige Junge von einst ist um den Bauch gepolstert und seine ehemals schalkhaften Augen sehen müde aus. Spontan möchte ich diese knorrige Eiche umarmen, aber ich spüre, wie er sich wie ein Brett versteift, und so lasse ich los. Ich folge ihm ins Haus, wo alles proper blinkt. Der Tisch ist für drei Personen gedeckt. Ein duftender Apfelkuchen prangt auf der weißen Tischdecke. Aus der Küche kommt eine adrett gekleidete, schmale Frau, die ihr graues Haar kunstvoll zu einem Dutt frisiert hat. „Irene!“ „Edeltraud!“ Wir fallen uns in die Arme. Endlich kann ich in die Erinnerungen eintauchen, als ich noch meine Sommerferien auf diesem Bauernhof verbracht habe, als ich bei Günther auf dem Traktor saß, als wir uns im Heu in der Scheune versteckten, als ich zusah, wie Ferkel geboren und Hühnern der Hals umgedreht wurde, als wir Kirschen pflückten und mit den Kernen um die Wette spuckten, als wir nachts in die Hundehütte krochen und ich mir Flöhe holte, als wir uns ewige Treue schworen.
Mit dreizehn war alles vorbei. Das Paradies von einst hatte seine Lichter ausgeknipst.
Doch jetzt bin ich wieder hier. Rex legt schon vertrauensvoll seine Schnauze in meinen Schoß. Wem die alte Bäuerin und ihr Sohn trauen, der verdient auch sein Vertrauen.

Die Arbeit beginnt früh. Günther nimmt mich mit in den Stall zum Melken. Er erklärt mir die Technik, ansonsten bleibt er wortkarg. Die Idee, mir einen Bauernhof zu kaufen, quittiert er mit einem Kopfschütteln. Er ist sicher, dass ich nach vier Wochen harter Arbeit meine Meinung ändere. Ich schaue zu, wie der Veterinär bei der Geburt eines Kälbchen hilft, das wenige Zeit später der Metzger abholen wird. Ich helfe beim Saubermachen der Ställe, beim Gemüseernten, beim Unkrautjäten. Edeltraud ist mein einziger Gesprächspartner.

Ein Bauer arbeite für einen Hungerlohn. Was brächte denn schon die Milch? Je nach Jahreszeit könne man sich etwas Taschengeld mit dem Verkauf von Obst und Gemüse dazu verdienen. Nein, ich solle um Himmelswillen nicht meinen gut bezahlten Job aufgeben.
Ein Trauerspiel sei es gewesen, dass Marlene kinderlos geblieben sei. Das habe die Ehe in den Untergang getrieben und schließlich sei Marlene ganz gegangen, in die Stadt, wo sie ihrem erlernten Beruf als Frisöse wieder nachgehe.
Am liebsten würde Edeltraud den Bauernhof verkaufen, aber Günther halte verbissen daran fest.

Das Ende der Sommerferien naht, und ich weiß jetzt, dass die Verwirklichung meiner Träume mit Muskelkater und körperlicher Arbeit verbunden ist. GPS-Signal verloren, sagt mir mein inneres Navi. Zu blöd! Ich liebe dieses Stück Land, die Menschen und die Tiere hier. Aber auch der Schulfrust ist aus meinen Poren verdunstet. Kinder oder Kühe, oder???

Zum Abschied legt mir Günther das getigerte Kätzchen in die Hände, dessen Tötung ich unbedingt verhindern wollte.
„Wirst du wiederkommen?“, fragen seine Augen. Ich umarme ihn und dieses Mal lässt er es sich gefallen.

Biologiestunde in der fünften Klasse. Liebevoll betrachte ich, mit welchem Eifer die Kinder bei der Sache sind. Immer neue Fragen stellen sie mir. Das Thema Haustiere erfreut sich größter Beliebtheit. Als ich mein Kätzchen aus dem Korb hole, sind sie nicht mehr zu halten. Jeder will das Tier einmal streicheln. Mephisto lässt es sich furchtlos gefallen, gähnt und fährt schon mal seine Krallen aus, wenn es ihm zu bunt wird.
„Kinder, ich mache euch einen Vorschlag. Habt ihr Lust, einen Ausflug zu einem Bauernhof zu machen?“
Frenetischer Jubel ist die Antwort, so dass Mephisto sich auf den Schrank flüchtet.

Letzte Aktualisierung: 10.09.2011 - 20.27 Uhr
Dieser Text enthält 10250 Zeichen.


www.schreib-lust.de