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Landleben | September 2011

Schöner leben in Bad Gorlburg
von Nicole Müller

14. April 2111
Während die letzten Kartons von der Umzugsfirma in die Villa gewuchtet werden, schaut Jalauna sich stolz in ihrem neuen Zuhause um. Es ist alles fremd in der Gegend, doch sie ist sich sicher, dass sie sich schnell eingewöhnen wird.
Herkos drückt sie an sich. „Ich glaube, wir haben eine gute Wahl getroffen.“
Jalauna nimmt seine Hand und legt sie sich auf ihren Bauch. „Merkst du das, Darling? Meine Glückshormone kribbeln. Es ist unglaublich! Erst bekomme ich den besten Mann der Welt, dann das schönste Haus in einer der schönsten Gegenden! Bad Gorlburg, Leben im Grünen. Ich bin das Stadtleben so satt.“
Sie küsst ihn und windet sich aus seinen Armen.
„Was hast du vor?“ Herkos versucht sie zurückziehen.
„Ich muss meine Mum anrufen. Ich will ihr die News mitteilen.“
„Teli, verbinde mich bitte mit meiner Mutter.“
Ein frauenähnliches Hologramm erscheint mitten im Wohnzimmer. „Die Verbindung wird hergestellt, Miss.“
In wenigen Sekunden befindet sich Jalaunas Mutter durch die Laserbildübertragung an Telis Stelle und schaut besorgt „Hy Jalu! Ist alles in Ordnung? Du siehst aufgeregt aus.“
„Mum, sobald hier alles fertig ist, musst du unbedingt hierherkommen. Ich habe gestern erfahren, dass unser Greengarden schon diesen Sommer betretbar ist. Hinter der Terrasse wächst ein Cherrybaum. Der soll dieses Jahr handgroße, süße Kirschen tragen. Und die ökologisch angebauten Gentomatos wachsen auch schon. Bald können wir einiges aus unserer eigenen natürlichen Züchtung essen. Wir haben spätestens ab nächsten Sommer Giantgurken, Honigmöhren und Powerfullerdbeeren.“
„Es freut mich für dich, dass dein Traum in Erfüllung geht. Ich bin gespannt, ob es stimmt, dass diese Früchte anders schmecken, als die gekauften.“
Jalauna lächelt. „Zumindest werden sie gesünder sein. Sie sind ja nicht haltbar gemacht aus dem Ausland. Das ist aber noch nicht alles. Unser Nachbar hat uns heute berichtet, dass hinter dem Kurpark das Relaxgelände liegt. Das ist nicht weit von uns. Es befindet sich auf einem Wiesenberg. Und nachts soll das Gras wegen der biochemischen Reaktion grün leuchten. Das wird romantisch.“
„Ich komme, wenn ihr euch eingelebt habt, Jalu. Das habe ich dir doch versprochen.“
„Mum, du musst aus der Stadt raus. Die ganzen Hochhäuser, der starke Verkehr, der ganze Feinstaub … Es ist so ungesund dort. Nicht ohne Grund wächst dort keine Pflanze.“
„Erinnerst du dich, als du die Grünlilie von Ur-Oma mit zu uns genommen hattest? Du warst so traurig, als sie abstarb.“
„Ja, Mum, deswegen bin ich jetzt hier. Was für Pflanzen nicht gut ist, kann für uns auch nicht gut sein. Zieh doch bitte bei uns ein.“

23. Mai 2120
Jalauna erwacht im Zimmer des New-Baby-Hauses.
„Hey, Darling.“ Herkos Augen strahlen. „Wir haben das perfekteste und schönste Kind auf Erden!“
Langsam und unsicher setzt sie sich auf und versucht, soviel wie möglich von dem Neuankömmling im durchsichtigen Wärmebett zu sehen. Ein wenig enttäuscht lehnt sie sich wieder zurück. Die Wunde an ihrem Bauch schmerzt, als würde der Laserschnitt aufreißen.
Die Birthschwester schaut mitleidig zu ihr herüber. „Es tut mir leid. Dadurch, dass du schon im fünften Monat entbinden musstest, braucht die Kleine noch Wärme, sonst würde ich sie dir geben. Sie wiegt nur 3500 Gramm und ist gerade süße zweiundfünfzig Zentimeter groß. Deine Wunde ist frisch. Warte noch eine halbe Stunde, dann können wir die Solardecke anmachen und du kannst deine Tochter für eine Weile zu dir nehmen.“
Jalauna schaut zur Seite. Dort liegt ihre Marsis. So klein, zart und ganz lebendig. Nach acht Fehlgeburten hat sie nicht mehr geglaubt, dass sie diesen Moment je erleben darf. Dabei weiß sie, wie albern diese Gedanken sind. Zwölf Fehlgeburten sind völlig natürlich. Es ist für keine Frau leicht, sich in Geduld zu üben. Sie hat den Eindruck, ihr fällt es besonders schwer.
„Herkos, hast du gesehen? Ihr Flaum hat die gleiche Haarfarbe wie meiner.“ Sie streichelt sich freudig über das kurze Haar. „Sind beide Beine dran? Wie viele Zehen hat sie? Und wie viele Finger?“
Herkos lächelt stolz. „An beiden Füßen sind es acht Zehen. Das linke Bein ist kürzer als das rechte. Dafür ist der rechte Arm länger als der linke. Und an der linken Hand sind es sieben Finger, an der anderen acht.“
Freudig streckt sie Herkos die Hand entgegen. „Na, dann hat sie wohl von uns beiden etwas. Einfach einzigartig.“

Etwas später kommt die Stillschwester. „Herzlichen Glückwunsch!“ Sie reicht Jalauna die Hand und tastet ihre Brust ab.
„Möchtest du Marsis stillen?“
Die junge Mutter lächelt. „Das geht nicht. Ich hatte Brustkrebs. Es ist nur noch künstliches Gewebe.“
„Es sieht sehr gelungen aus. Meine nächste OP ist kommende Woche.“ Sie wendet sich dem Milkmaten zu. „Hast du dir Gedanken gemacht, welche Milch du füttern möchtest?“
Jalauna hat sich vor der Geburt intensiv über alle Säuglingsnahrungen informiert. „Ich denke, die muttermilchähnliche Jodeba ist das Naturnächste, oder?“
„Eine gute Wahl!“
Mit Vorsicht nimmt Jalauna das zerbrechlich wirkende Wesen in ihre Armen. Unglaublich, dass dieses Wunder in ihr gewachsen ist. Sie betrachtet das runde Näschen, die kleinen zarten Hände und streichelt über die weiche Haut. Doch dann stutzt sie.
„Warum ist ihre Haut so weiß? Sie hat keine Purpura. Ist sie gesund?“
„Mach dir keine Sorgen. Sie wird die gleichen roten Flecken bekommen, wie wir alle. Sie kam wirklich früh zur Welt.“

31. November 2120

Jalauna setzt Marsis in der Playstreet auf die solarbetriebene Babyschaukel. Die Standventilatoren sorgen bei der Hitze für ein angenehmes Klima.
Plötzlich erschrickt Jalauna. „Herkos, aus Marsis Nase läuft eine klare Flüssigkeit!“
Sie eilen zum FlyKW. Auf dem Weg zur Klinik missachtet Herkos die Geschwindigkeitsgrenzen, während Jalauna per Handy eine Angestellte der Klinik über ihr Eintreffen informiert.
In der Notaufnahme angekommen rennt ein Arzt auf sie zu.

„Das habe ich noch nie erlebt. Ihr Kind hat einen Schnupfen.“ Der Arzt kratzt seinen kahlen Schädel. „Ich habe in alten Büchern darüber gelesen. Es tut mir leid. Ich habe keine Medikamente dagegen. Mit Schnupfen gab es seit über hundert Jahren keinen Patienten mehr. Wir halten es besser täglich unter Beobachtung.“
Jalauna wischt sich die Tränen von ihren Wangen. „Wird sie sterben?“
„Nein.“ Er untersucht weiter. „Ich habe noch nie von einem Todesfall gelesen. Ich vermute, die Schleimhäute sind noch nicht so weit zurückentwickelt wie bei uns.“
„Ich versteh das nicht.“ Jalauna blickt entsetzt. „Sie bekommt ausschließlich Nahrung aus unserem eigenen Anbau. Wie kann es zu so einem Gendefekt kommen? Ist es schlimm?“
„Das kann ich nicht sagen. Wir müssen abwarten und sehen, ob sich dadurch Komplikationen ergeben. Macht für morgen einen Termin.“
Die junge Familie wendet sich der Tür zu.
„Moment mal“, ruft der Arzt. „Da ist eine winzige Beule hinter dem Ohr der Kleinen. Ich schätze, es ist ein Tumor. Setzt euch. Ich entferne ihn eben und gebe euch Antibiotikum mit.“
Jalauna und Herkos lächeln sich an. „Wenigstens ihr Immunsystem scheint zu funktionieren“, verkünden sie gleichzeitig.
Der Arzt zwinkert ihnen zu. „Gebt ihr das Antibiotikum zwei Wochen und es ist überstanden.“
„Das Übliche.“ Jalauna schmunzelt. „Das ist ein beruhigendes Gefühl.“

Rückblick: 01.01.2061
Im Stadtarchiv von Bad Gorleben sitzen die Beamten und Angestellten schwitzend vor dem glühenden Ofen im zweiten Untergeschoss. Der Praktikant Robert schaut auf das Foto des ersten Atommülllagers und schüttelt den Kopf.
„Herr Markal, ich verstehe nicht, warum alle diese Bilder verbrannt werden müssen. Sie zeigen die Geschichte der Stadt. Wie können solche Erinnerungen vernichtet werden?“
„Genau darum geht es, Robert! Niemand soll sich erinnern können! Wir vernichten alle Beweise. Die Menschheit hält zu sehr an der Vergangenheit fest. In hundert Jahren wird es kaum noch einen Menschen mit gleichlangen Gliedmaßen, vier Finger und einen Daumen pro Hand geben. Und je weniger sie sich mit Vergangenen auseinandersetzen, desto eher werden sie die neuen Erscheinungsformen akzeptieren und ihr Leben einfach genießen.“
„Im Geschichtsunterricht wurde uns gesagt, dass der Atommüll auf dem Mond transportiert wird. Wie kann das gesundheitliche Folgen haben?“
Lautes Gelächter erfüllt die Halle.
„Gut, dass es bald keinen Geschichtsunterricht mehr geben wird.“ Herr Markal wischt sich grölend die Schweißperlen von der Stirn. „Jetzt stell dir mal vor, wir hätten alles zum Mond gebracht! Was wäre wohl aus ihm geworden? Ohne Mond, das hast du sicher auch gelernt, könnte die Erde gar nicht existieren.“
„Und wo ist der ganze Müll jetzt?“
„Mensch, Junge! Er wird überall in allen Städten tief in die Erde befördert.“
„Aber das würden doch alle mitbekommen!“
„Nein, es ist verboten, darüber zu berichten. Nach Plan der Regierung schaufelt die Organisation Biomüll überall.“
Robert starrt mit großen Augen und offenem Mund.
„Atme, Junge! Es gibt Schlimmeres. Das Leben geht weiter und die Menschen haben sich auch ohne künstliche Radioaktivität in tausenden von Jahren verändert und umgewöhnt. Die Medizin wird die Folgen der Strahlungen schon bald ausgleichen können. Wir tragen hiermit zur Beruhigung aller bei.“
Schweigend holen ein Dutzend Männer Akte für Akte aus dem Regal und werfen diese ins Feuer.

Nach erledigter Arbeit trifft die grüne Armee ein. Sie hat die Aufgabe, alle Zeugen zu vernichten. - Sowie es in jeder Stadt des Landes von der Regierung angeordnet wurde. Von nun an wird niemand mehr über die Folgen von radioaktivem Abfall reden, bzw. aufgeklärt. Sollten möglicherweise Geheimorganisationen zur unerlaubten Aufklärung beitragen wollen, werden diese und deren Angehörige umgehend beseitigt.
Die Regierung wünscht in jeglicher Hinsicht ein sorgenfreies Leben. Ihr Motto: Die Vergangenheit lässt sich nicht rückgängig machen, dennoch lässt sich die Zukunft angenehm gestalten.



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Letzte Aktualisierung: 26.09.2011 - 22.22 Uhr
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