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Landleben | September 2011

Edgar
von Hartmuth Malorny

Edgar war ein Igel, ein Braunbrustigel. Als er von seiner Mutter angehalten wurde ein eigenes Revier zu suchen, kroch er durch die verschiedenen Gärten der Siedlung, inspizierte die Gegend und fand schließlich heraus, dass die besten Plätze bereits bewohnt waren. Außerdem waren die meisten Gärten schlecht angelegt, also gestutzt und gepflegt, und diese dauernden Nachbarschaftsstreitigkeiten gingen ihm gegen die Stacheln. Also zog er weiter, überquerte gar eine Straße, schaffte es mühevoll den Bordstein hoch und wanderte zur nächsten Siedlung. Dann, am anderen Ende, stand er plötzlich in einem Garten voller Wildblumen, wo das Gras wucherte, in der Mitte ein großer Pflaumenbaum, rechts und links 4 Meter hoher und 2 Meter breiter Kirschlorbeer der ihm vorkam wie eine Allee, unter der man bei Regen flanieren konnte ohne nass zu werden.
Er räusperte sich mehrmals. Keine Antwort. Der Garten lag wie ein gedeckter Tisch vor ihm. Wer hier wohl wohnt, dachte er, zumindest keine Artgenossen, die hätten mich längst begrüßt oder verjagt. Edgar lief mehrmals vor Freude im Kreis, ein aufmüpfiger Regenwurm steckte seinen Kopf aus der Erde, um nachzuschauen wer hier Krach machte, und Edgar nahm ihn gleich zum Frühstück.
Es war Spätsommer, verschiedene Käferarten flogen und kreuchten gedankenlos herum, und selbst die Ohrwürmer gingen nonchalant ihrer Wege. Der Pflaumenbaum würde eine Menge Blätter verlieren, und unter diesen gigantischen beiden Reihen Kirschlorbeer könnte man ein herrliches Winternest bauen. Nächstes Frühjahr besorge ich mir eine Frau, dachte Edgar, aber eine mit schönen Stacheln und einer kecken spitzen Nase. Er vertilgte ein paar Käfer und ging dran ein paar Laubreste zusammenzuschieben, packte ringsum etwas von dem lockeren Humusboden und verkroch sich. Aber er schlief unruhig und wachte mehrmals auf, Mutters Abschiedsworte klangen nach: „Junge, du brauchst eine anständige Wohnung für den Winter.”

Gewöhnlich geht ein Igel zum zweiten Mal von Mitternacht bis 3 Uhr raus. Ein Igel schläft also ziemlich viel, und rechnet man die fünf- bis sechsmonatige Winterpause dazu, kann sich keiner der Stacheltiere über mangelnden Schlaf beklagen.
Edgar gewöhnte sich rasch ein: Sein Frühstück nahm er um 19 Uhr, das Mittagessen gegen 2 Uhr. Manchmal störte ihn die Katze aus dem Nachbargarten, sie beobachtete ihn vorsichtig, doch Edgar tat was er gelernt hatte, er rollte sich einfach zusammen und spielte toter Igel. Mit der Zeit schauten die älteren Nachbarigel vorbei, sie grüßten freundlich und man tauschte sich darüber aus, ob ein Fuchs in der Nähe sei, oder ein Uhu oder eine Eule gesichtet wurde. Die Igeldamen blieben distanziert, erstens hatte sie gerade ihre Kinder großgezogen und keine Lust auf eine Liebelei zwischendurch, zweitens war ihnen Edgar zu jung.
Als sich der Sommer dem Ende neigte, schlenderte Edgar durch das Gras und stopfte eine Menge Delikatessen in sich rein: Käfer, Larven, Ohr- und Regenwürmer, Tausendfüßler mit 999 Beinen, und zum Dessert Obst und Nüsse. Der Bau der Winterwohnung war eine schweißtreibende, sowie eine lästige Arbeit, weil er über 200 Gramm zugenommen hatte. Edgar kam nicht richtig voran.
In jener Nacht ging die Temperatur ziemlich runter und er verkühlte sich. Am nächsten Morgen hatte er einen ausgewachsenen Keuchhusten. Vermaledeite Sache. Man hörte ihn über drei Gärten hinweg. Wenn das mal keinen Fuchs anlockt, dachte er, ich brauch noch 2-3 Wochen. Und weil das sein erster Winterschlaf sein würde, wusste er nicht, ob er mit diesem Husten überhaupt würde schlafen können. Zwar hatte ihm seine Mutter erklärt, dass ein Braunbrustigel seinen Stoffwechsel radikal runterfährt (Was heißt radikal, Mutter? Frag nicht, du Dummchen, ich weiß es auch nicht.) und die Körpertemperatur dadurch bis auf wenige Grade absinkt, wie es mit den Heizungen in den Häusern der Menschen geschieht, wenn sie in Urlaub fahren, doch er hatte gefragt: „Werde ich nicht frieren?”
„Nein, du schläfst ja.” Trotzdem sorgte ihn der bellende Keuchhusten.
Die nächsten Abende schuftete Edgar stundenlang am Winternest, er verbreiterte eine kürzlich entdeckte Erdröhre und schleppte unentwegt Laub an, den der Pflaumenbaum täglich von sich schüttelte. Aber der Husten blieb. Öfter kamen andere junge Igel gucken, täuschten ein Schwätzchen vor und hofften, Edgar würde am Keuchhusten sterben, dann könnten sie in das fast gemachte Nest ziehen.

Es war Vollmond. Die Wiese leuchtete so satt und hell wie eine frisch geschlüpfte Schmetterlingslarve. Es raschelte im hohen Gras. Edgar hob seine Nase in die Luft. Nein, so roch keiner der Nachbarn. War es der ihm unbekannte Geruch einer jungen Igelfrau? Neugierig ging er näher. Das, was er im Mondlicht erkannte, hatte die Form eines Igels, aber als sich die Form bewegte, sah er einen auffallend weißen Bauch.
„Wer bist du?”, fragte er den Fremdling, und musste gleich darauf stark husten.
„Du solltest deinen Husten kurieren, sonst wird`s noch eine Lungenentzündung,” sagte eine dunkle Stimme.
„Warum ist dein Bauch so weiß?”, fragte Edgar.
„Weil ich ein Weißbrustigel bin. Hab mich verlaufen. Und jetzt im Spätherbst noch ein Nest anfangen? Hm, dafür reicht die Zeit nicht mehr.”
„Kommst du aus der Siedlung gegenüber der großen Straße?”
„Nein, von viel weiter. Ich bin über ganz große Straßen gegangen, die waren so breit wie fünf dieser Gärten, da rannten nicht nur ein oder zwei viereckige Tiere jede Stunde vorbei, sondern eins nach dem anderen, sag ich dir. Da hilft kein toter Igel spielen. Du weißt ja, die viereckigen Tiere haben Augen, die zehnmal stärker leuchten als der Mond.”
„Ehrlich gesagt”, antwortete Edgar, „kenn ich die viereckigen Tiere mit den hellen Augen nicht, bin ja nur aus der Siedlung von drüben nach hier gekommen. Und das war ganz einfach. Nur die kleine Mauer hat mir Schwierigkeiten bereitet. Ist es denn wirklich so schlimm?”
„Viel schlimmer. Wie gesagt, wenn du mal über eine große Straße musst, hilft nur laufen, und zwar schnell. Die meisten sind dumm, rollen sich einfach zusammen, und dann sind sie so platt wie ein Blatt,” sagte der Weißbrustigel.
„Und, was willst du nun machen?”
„Zuerst kümmern wir uns um deinen Husten. Sehe hier eine Menge Kräuter. Oh, Ohrwürmer en masse, wir reden gleich weiter.”
Er verschlang ein paar Ohrwürmer, zog gekonnt einen Regenwurm aus der Erde und rülpste.
„Hier kann ich mir bequem 150 Gramm anfuttern, das müsste für den Winter reichen. Zeig mir mal dein Nest.”
Edgar erschrak und hustete, wollte ihm der Fremde vielleicht seinen herrlichen Winterbau stehlen? Waren Mühe, Arbeit und Schweiß umsonst? Darf man das überhaupt, jemandem das Erschaffene mir nichts dir nichts wegnehmen?
„Toll”, sagte der fremde Igel, als er den riesigen Haufen Laub sah, und dann: „Wunderbar, du hast sogar ein Erdloch. Da passen wir glatt zu zweit rein. Müssen nur ein bisschen nachbessern.”
„Meine Mutter meinte ...”, aber da wurde Edgar erneut vom Husten gepackt.
„Nein”, sagte der Weißbrustigel, „wenn du mir den ganzen Winter über bellst wie ein Hund, krieg ich kein Auge zu. Komm mal mit.”
Sie gingen zurück zur Wiese.
„Hier, schau, das ist Bilsenkraut. Stark giftig. Aber in einer vernünftigen Dosis genau das Richtige für deinen Husten. Iss drei kleine Blätter, kau gründlich und leg dich schlafen. Du wirst zwar gehörig schwitzen, doch morgen fühlst du dich wie ein ganz neuer Igel. Ich werd mir noch ein paar Würmer reinziehen. Lecker.”
Nachdem Edgar drei kleine Blätter Bilsenkraut gegessen hatte, wurde ihm unheimlich warm. Vielleicht will der mich vergiften, dachte er, dann überkam ihn eine schwere Müdigkeit und langer Schlaf voller seltsamer Träume: wilde Füchse schlichen umher, eine alte Schleiereule saß im Pflaumenbaum, regungslos, doch ihr Kopf drehte sich derart nach allen Seiten, dass sie selbst hinten sehen konnte was passierte, ohne den Körper zu bewegen. Die viereckigen schnellen Tiere mit den hellen Augen tauchten auf, machten einen Höllenlärm und verschwanden wieder. Gleich darauf kam ein großer Hund mit zottigem Fell und riesigen Zähnen, der jedes Winternest zerbuddelte und schlimmer bellte, als ein Igel husten kann. Etwas Weißes fiel vom Himmel. Es bedeckte das Gras und nicht ein Wurm steckte den Kopf heraus. Das Weiße war furchtbar kalt und schmerzte an den Füßen, wenn man länger drauf stand.

Um 17 Uhr weckte ihn eine Stimme: „Hey, du Braunbrustigel, aufstehen, Frühstück.”
Edgar fühlte sich tatsächlich wie neugeboren, das ständige Kratzen im Hals war verschwunden. Das Laub, mit dem er sich bedeckt hatte, war durchgeschwitzt. Der Fremde half ihm die Blätter aus dem Loch zu scharren, sie beförderten sie zur Wiese, wo sie die Abendsonne trocknen sollte.
„Entschuldige, ich hab mich gestern gar nicht vorgestellt”, sagte der Weißbrustigel, „ich heiße Sokrates.”
„Komischer Name für einen Igel.”
„Und wie heißt du?”
„Edgar.”
„Aha. Ich frag mich, warum Igel überhaupt Namen haben. Egal,“ sagte Sokrates, „nach dem Frühstück vergrößern wir unser Quartier. Außerdem brauchst du keine Angst zu haben, ich schnarche nicht.”
Mitte Oktober wurden die Nächte kälter. Raureif legte sich über die Wiese. Auch gab sie kaum noch was zu Essen her. Es dauerte immer länger, bis der angefrorene Boden weich wurde.
„Jetzt wird es Zeit,” sagte Sokrates eines Abends.
Sie schaufelten eine Extraportion Laub in den Winterbau, krochen rein und machten es sich gemütlich.
„Gute Nacht, Sokrates,” sagte der Braunbrustigel.
„Gute Nacht, Edgar, bis zum nächsten Jahr. Schlaf gut,” antwortete der Weißbrustigel.

Letzte Aktualisierung: 22.09.2011 - 18.41 Uhr
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