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Vorgegebenes Textfragment | Oktober 2011
Der Regenbogen-Code
von Katharina Conrad

Immer wieder verblüffend, fand Daniel, wie sehr man sich in den Menschen täuschen konnte. Und wie schnell die Agenten zur Stelle waren.
Naiv von ihm, das Funkeln in den Augen der wohlproportionierten jungen Frau am Nebentisch als Interesse auszulegen. Interesse, ja – aber spätestens, als ihr Blick an seinem Handgelenk hängengeblieben war, hätte er merken müssen, dass sein fehlendes Code-Ident sie weitaus mehr interessierte als seine schönen blauen Augen.
Sie war nur kurz Richtung Toilette verschwunden, wenig später mit unschuldigem Augenaufschlag an ihren Platz zurückgekehrt - und schon erkannte er durch die Scheiben des Restaurants die schwarze Limousine.
Seufzend schob er sein Steak von sich und warf die Serviette daneben. Wie selbstverständlich schritt er in die Küche, bahnte sich einen Weg durch schimpfende Köche und den Duft von bratendem Fleisch bis zum Lieferantenausgang und legte sich dabei eine Fluchtroute zurecht.
„Stehenbleiben!“, schob sich eine Stimme durch den letzten Spalt der Tür und rief ihm eiskalt seine Flucht in Erinnerung.
Dieselbe Agentin, der er damals knapp entkommen war.
Henry nicht.
Die Sohlen seiner Laufschuhe quietschten, als Daniel losspurtete, angepeitscht vom Gedanken an seinen Onkel, der gemeinsam mit ihm im Untergrund gegen das Ministerium für Datensicherheit gekämpft hatte. Gegen Agenten, die vor nichts zurückschreckten, um die Wahrheit geheim und den Widerstand gegen die staatliche Überwachung unter Kontrolle zu halten.
Henry hatte ihm einmal gestanden, dass er lange gezögert hatte, ihn einzuweihen, weil er seinen Lieblingsneffen diesem Risiko nicht aussetzen wollte.
Dann hatten Miranda und ihresgleichen den Druck verschärft und die Reihen um Henry und seine Netzwerk-Saboteure so sehr gelichtet, dass er keinen anderen Weg mehr gesehen hatte.
Henry, der jetzt nur noch vor sich hin sabberte und nichts mehr wusste außer seinem Namen, und auch den nur in seltenen lichten Momenten.
Verbissen schlug Daniel Haken, bog in eine Seitengasse ein und gleich wieder in die nächste.
„Deinen Namen können sie dir nicht nehmen“, hallten Henrys Worte durch seinen Kopf. „Der ist zu tief eingebrannt. Aber alles andere stehlen sie dir ...“
Daniel sah nur die Umrisse der Straßenzüge durch das salzige Wasser des Zorns in seinen Augen.
Fast blind rannte in einen Eisenbahntunnel. Das Risiko, von einem Zug zerfetzt zu werden, wog für ihn weit weniger schwer als die Gefahr, Miranda und dem Ministerium in die Hände zu fallen. Hinter dem Tunnel sprang er die Böschung hinunter und kauerte sich tief in den Schatten des Bahndammes.
Obwohl ihm niemand aus dem Tunnel folgte, rührte er sich lange nicht von der Stelle.
Trüge er ein Code-Ident, könnten sie ihn einfach anpeilen.
Noch ein sogenannter Vorteil der kleinen Datenspeicher.
Daniel lachte freudlos. Er würde alles geben, um das zu erreichen, wofür Henry gekämpft hatte:
Umkehr zu Transparenz und selbstbestimmter Datenverwaltung. Dafür lag er gerne ab und zu hinter Bahndämmen und spielte russisches Roulette mit den Güterzügen der Deutschen Bahn.
Die spitzen Steine bohrten sich durch seine Kleidung und beruhigten seinen Puls, lenkten seine Aufmerksamkeit auf etwas Reelles, weg von der vorgegaukelten virtuellen Datensicherheit, die in Wirklichkeit nichts Anderes war als die absolute Kontrolle des Staats über seine Bürger.
Seine Weigerung, eine Code-Ident zu tragen, machte Daniel zum Outlaw.
Dabei hatte er kein Problem damit, sich die siebenunddreißigstelligen Perso-Ident-Nummern zu merken, genauso wenig wie die ähnlich komplexen Verschlüsselungen für Führerschein und Kreditkarten.
Anders als siebenundneunzig Prozent der Bevölkerung versank er ohne das Gerät nicht im Sumpf aus PIN-Codes für Häuser, Pkws, Schulen, Konten und Versicherungen.
Die Sonne stieg über den Bahndamm und Daniel begann zu schwitzen. Er fächelte sich Luft zu und sinnierte über die Laune der Natur, die ausgerechnet ihn in den Fokus des Ministeriums für Datensicherheit und seiner Agenten gerückt hatte.
Es lag an der Synästhesie. Sein Gehirn verfügte über weitaus mehr Verknüpfungen als die meisten anderen; es speicherte Informationen gekoppelt an Sinneseindrücke. Jede Kombination aus Buchstaben und Zahlen ergab ein spezifisches Farbmuster. Leute wie Miranda waren scharf auf ihn, weil er das System sabotierte und die staatlichen Wissenschaftler, weil er ein hochinteressantes Forschungsobjekt abgab.
Als Henry den Agenten in die Hände gefallen war, hatte er sich geweigert, das Versuchskaninchen zu spielen. Die Strafe: Absoluter Verlust aller geistigen Fähigkeiten, verursacht durch die niederträchtigste Erfindung des Ministeriums: das Memory-Split-Serum. Daniel erinnerte sich genau, wie Henry ihm einmal seine Wirkung beschrieben hatte.
„Du hast genau zwei Minuten, bis du ohnmächtig wirst, aber die nützen dir nichts. Wenn du es im Blut hast, ist es zu spät. Format C, unwiderruflich.“
Erst nachdem die Agenten Henry genau das angetan hatten, war es Biochemikern im Untergrund gelungen, ein Anti-Split-Serum zu finden, aber Henry konnte auch das nicht mehr helfen. Es neutralisierte Memory-Split in den zwei Minuten nach seiner Verabreichung, danach waren die Synapsen zerstört.
Daniel massierte sich die Schläfen. Er hatte lange genug gewartet.
Auf Umwegen pirschte er sich an sein Zuhause heran, zog enger werdende Kreise und hielt Ausschau nach der schwarzen Limousine.
Endlich gab er den achtzehnstelligen Code ein, öffnete seine Tür und drückte auf den Schalter für das Flurlicht.
Es sprang an, und er fand sich Auge in Auge mit Miranda. Sie musterte ihn selbstzufrieden aus ihren schrägstehenden Augen, die sich im plötzlichen Neonlicht zu schmalen Schlitzen verengt hatten.
„Hallo, Daniel. Willkommen zu Hause“, hörte er sie sagen, spürte einen Luftzug hinter sich und einen derben, stumpfen Schlag gegen die Schläfe, bevor die Welt um ihn herum in bedeutungslosem Schwarz versank.

Als er zu sich kam, saß er auf seinem Küchenstuhl, die Hände hinter dem Rücken gefesselt.
Miranda schlich um ihn herum wie eine Katze, und außerhalb des Lichtkegels erahnte er mindestens vier weitere Agenten.
Düstere Aussichten.
„Endlich sehen wir uns mal wieder“, schnurrte Miranda und streifte seine Wange mit ihrer Hand.
„Hätte auch darauf verzichten können“, murmelte Daniel.
„Jetzt seien Sie doch nicht so. Wir haben uns doch immer gut verstanden, nicht wahr?“
„Wir kennen uns überhaupt nicht. Zumindest kann ich mich nicht an Sie erinnern.“
„Na, Daniel, das ist eine Lüge, wie wir beide wissen. Ihr Erinnerungsvermögen ist schließlich ein Phänomen.“
Wieder berührte sie ihn, und ihm war, als kratze sie absichtlich mit den Fingernägeln über seine Haut.
„Es wäre uns Einiges wert, dieses Phänomen genauer untersuchen zu können, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wie sehr hängen Sie denn zum Beispiel, sagen wir, an Ihren Kindheitserinnerungen? Ihre Eltern sind tot, nicht wahr? Wäre doch schade, wenn sich niemand mehr an sie erinnern würde.“
„Sie können sich Ihre verdammten Untersuchungen in den Arsch schieben, Miranda.“
„Wie vulgär. Ein kriminelles Stück Dreck, genau wie der andere neulich … Ich hörte, er macht jetzt Gebrauch von seiner Pflegeversicherung?“
Daniel zielte und spuckte ihr ins Gesicht.
Wieder verengten sich ihre Augen zu schmalen Streifen, sie fauchte und deutete auf einen silbernen Koffer, den einer ihrer Kollegen auf den Küchentisch legte und öffnete.
Daniel wusste sofort, was darin war.
"Tja", sagte Miranda, während sie die Spritze aufzog, "dann werden wir wohl nicht mehr viel von
Ihnen haben. Schade, ich hatte mich so darauf gefreut, Ihre vielen Talente kennen zu lernen."
Daniel wehrte sich, so gut er konnte, aber es waren zu viele, und seine Hände waren gefesselt. Einer versuchte, ihm den Mund zuzuhalten, vielleicht, um ihn am Spucken zu hindern, und Daniel gelang ein tiefer, saftiger Biss in seinen Handballen.
Sekundenbruchteile später rammte Miranda die Spritze in seinen Oberarm, und fast sofort wurde ihm schwindelig und speiübel.
„Kommt, Leute. Der hat´s hinter sich.“ Die Genugtuung in ihrer Stimme brachte Daniels Mageninhalt in Bewegung.
„Alles, was der noch braucht, ist ein Sabbertuch und eine Krankenschwester. Wir verschwinden.“
Durch einen Schleier nahm er wahr, dass sie den Koffer mitnahmen und die Fesseln an seinen Händen lösten. Der Knall, mit dem die Tür ins Schloss fiel, schmerzte in seinem Kopf, aber er half ihm, nicht ohnmächtig zu werden.
Er musste sich konzentrieren.
Henrys Stimme hallte wie ein fernes Echo durch irgendein Stockwerk seines Bewusstseins.
„Den Namen … können sie … dir … nicht nehmen ...“
Wie war nochmal sein Name? Henry? Nein … Irgendwas mit D …
Daniel!
DANIEL
Nur die Vokale. Die stärksten Farben hatten die Vokale. A-I-E …
Er rang mit der Bewusstlosigkeit, die ihn in wieder in die farblose Tiefe ziehen wollte.
A-I-E … Rot – Gelb – Hellblau ...Rot5gelb2hellblau3 ...5-2-3...
Seine Fingerspitzen tasteten über die Ösen seiner Schnürsenkel.
So fest er konnte, presste er zuerst die fünfte von oben. Dann glitten seine Finger drei Ösen zurück. Pressen. Und eine wieder runter … Pressen.
Er spürte, wie sich die Kanüle in seine Ferse bohrte. Der Schmerz, mit dem sie sich entleerte und eine kleine Blase einer illegal entwickelten Chemikalie hinterließ, begleitete ihn über den Abgrund hinein in tiefe, bodenlose Wahrnehmungslosigkeit.

©K.Conrad2011 Vers.3

Letzte Aktualisierung: 09.10.2011 - 18.57 Uhr
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