Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Vorgegebenes Textfragment | Oktober 2011
Uns kölsche Knöchelcher
von Andrea Heinen

Der Kanalmeister war außer sich vor Wut.
„Mein Gott, Miranda, was tun Sie denn da?!“
Nein, der Kanalmeister war nicht nur außer sich vor Wut, sondern zutiefst entsetzt und angewidert zugleich. Aus Mirandas starrem Blick glühte ein Funke unverrückbaren Irrsinns, dabei wirkte ihre Sprache, ihr Gestus, alles andere als wahnsinnig, eher kühl, sehr kühl. So kalt, dass selbst dem von Natur aus unterkühlten Kanalmeister das Blut in den Adern gefror.
Letztlich ist der Komparativ hier fehl am Platz, denn der Papst persönlich, gerade auf Deutschland-Tournee, hatte sich angemeldet. Zur Inspektion. Und ganz sicher würde er auch den Dreikönigsschrein inspizieren wollen, vielleicht sogar die Öffnung des Deckels fordern … nicht auszudenken, dieser Skandal … als gäbe es nichts Wichtigeres, das es zu vertuschen gilt … womöglich würde der Heilige Vater gerade in Köln … ein Exempel … nein! Unvorstellbar … diese dämliche, grenzbegabte und mit kroatischem Migrationshintergrund gestrafte Köchin namens Miranda würde ihm, dem Erzbischof von Köln, nicht den größten Coup seiner klerikalen Karriere mit dieser Wahnsinnstat versauen.
„Miranda! Legen Sie die Spritze nieder! Das ist ein Befehl des Herrn! Sofort!““ – Wie gesagt, der Kanalmeister war wütend und entsetzt zugleich.
Vielleicht auch schockiert, als er in dem Gesicht der wohl schon einige Tage im Rhein getriebenen Wasserleiche seine Kammerzofe Melinda wiedererkannte. Dieses wunderbare, talentierte Mädchen mit serbischem Migrationshintergrund, mein Gott … so viele Flausen im Kopf und dabei doch so wissbegierig. Gut, ihre mangelhaften Sprachkenntnisse, vielleicht war auch das eine oder andere ihm flüchtig zugeworfene „Arschloch“ ihrem sozialen Umfeld und in Unkenntnis wahrer, von christlicher Nächstenliebe geprägten Sprache geschuldet. Sei’s drum, er hatte erzieherische Maßnahmen ergriffen, drei Euro fünfzig statt vorher vier Euro fünfzig. Sollte die kleine Schlampe ruhig mal spüren, dass ihre Doppel-D-Talente …
Aber nein. Während der Kanalmeister grübelte, wie er seinen nicht zu Ende geführten Gedanken mit Selbstkasteiung zu strafen hätte, rissen ihn Mirandas Worte in die Realität zurück: „Tja“, sagte Miranda, während sie die Spritze aufzog, „dann werden wir wohl nicht mehr viel von Ihnen haben. Schade, ich hatte mich so darauf gefreut, Ihre vielen Talente kennen zu lernen.“ – „Das ist Botox, Euer Hochwürden“, grinste sie den Kanalmeister mit unverändertem, vor Irrsinn stierendem Blick an, „Botox strafft selbst tote Haut, hebt das Fleisch, das ich jetzt viel besser …“
Noch ehe dem Kanalmeister weitere Gedanken der Selbstkasteiung abgefordert wurden, hatte die Köchin mit ein paar geübten Schnitten das komplette Becken ihrer verhassten Nebenbuhlerin freigelegt und ausgelöst. „Der Papst wird gewiss nicht auf das Alter schauen, ich glaube …“
* * *

Nicht, dass Sie jetzt denken, Botox wäre in Köln erfunden worden, das haben wir doch gar nicht nötig. Wir haben den Dom, die Kirche, den Schrein … es muss dem Umland mal wieder in Erinnerung gerufen werden: Seit dem Mittelalter sind wir stolze Hüter der Gebeine der Heiligen drei Könige.
Ich hab‘ jetzt keine Ahnung, warum die ausgerechnet erst im Mittelalter gestorben sein sollen, aber so ist es nun mal, das Heilige wird nicht umsonst als Mysterium beschrieben.
Jetzt hätte ich fast vergessen, dass „Kanalmeister“ eine liebevolle, sehr rheinische, Umschreibung unseres Kardinal Meisner ist. „Unseres“ ist indes maßlos übertrieben. Als wenn die Preußen uns Rheinländer nicht schon in früheren Zeiten zur Genüge geknechtet hätten! Warum springen denn heute noch die meisten Kölner Selbstmörder ausgerechnet von der Hohenzollernbrücke in den Rhein? Das muss doch einen Grund haben …
… Ich war gerade ein bisschen vom Thema abgekommen, jedenfalls gelangten die Gebeine der Heiligen drei Könige zufälligerweise im Mittelalter nach Köln, wo, gar nicht zufällig, dank eines gewissen Reinald van Dassel gerade die Hexenverbrennung ihre Blütezeit nördlich der Alpen erlebte. Daran erinnern wir Kölner uns gar nicht gerne, schließlich haben wir heute die Toleranz. Wir haben die Schwulen und Lesben, mein Gott, ja, den Ersten FC (Leiden gehört zur Kölner Seele), wir haben den Dom, der auch nie fertig wird, den herrlichen Vater Rhein, der eigentlich in Köln entspringt und auch dort endet, warum sollte es sonst „Kölle am Rhing“ heißen?! Wir haben den selbst im Stillstand noch pulsierenden Verkehr auf den Ringen, und – wo wir gerade beim Auflisten kölscher Eintragungen im Guiness-Buch der Rekorde sind – wir haben die Heiligen drei Könige. – Uns kölsche Knöchelcher!
Okay, sieben Schulterblätter, dafür nur fünf Oberschenkelhalsknochen, drei nebst Sternum vollständig erhaltene Rippengewölbe (das ist korrekt!), doch mindestens 17 Wirbelsäulen, neun Schienbeine und dazu 21 Mal Speiche und Elle, ihr wisst schon: die Knöchelchen vom Arm. Aber nur zwei Becken, sprich: vier Hüftknochen, zwei am Steiß, zwei separat und ohne Steiß … das geht jetzt gar nicht und würde sicherlich auch dem Papst auffallen, wenn er, vor dem Reliquiar kniend, ein Gebet für die Hungernden in Ostafrika …
* * *
Schwer getroffen und zur Selbstkasteiung jeglichen Grades willens, sank der Kanalmeister auf die Knie, während sich Miranda mit dem Handrücken die letzten Blutstropfen aus dem Gesicht wischte und … als sei es das Selbstverständlichste dieser verrohten Welt, mit einem groben Schabeisen und zuletzt einem Klößje (so nennen wir Schäflein im Erzbistum Köln die kleinen Küchenmesser) das frisch ausgelöste Gebein der in den Fluten des Rheins Verblichenen sorgfältig und mit zunehmend fanatisch wirkender Akribie putzte. Dass sie dabei unartikulierte, ja, bedrohlich wirkende Zisch- und Rachenlaute zwischen ihren Lippen hervorpresste, entging dem Kanalmeister in temporärer Ermangelung eines geeigneten Geißel-Instrumentes nicht. Wie oft hatte er ihr schon gesagt, dass er in seiner Gegenwart außer dem Lateinischen keinerlei Fremdsprachen dulde, weder kroatisch noch serbisch … und erst recht nicht diese vulgäre Kölner Mundart, diese primitive sprachliche Ausgeburt des Zügellosen, Gottlosen, Renitenten … Und überhaupt: Was hatte er als kleiner Diener der Heiligen Römisch-Katholischen Kirche mit den interkulturellen Animositäten seines Gesindes zu tun?!
Doch Mirandas Flüche wirkten auf ihn, den geschlagenen, keiner Sprache mehr Mächtigen, um ein Vielfaches bedrohlicher als dieses nihilistische kölsche „Et hät‘ noch immer jot jejange ….“
Mein Gott, nichts war jot! … Der Papst war auf dem Anmarsch … der Heilige Vater … vielleicht hätte der ihn diesmal sogar nach Rom … wenn nicht … nicht auszudenken … der goldene Schrein der Heiligen drei Könige … darin das Becken einer Frau … das einzige Reliquiar, das, bis auf zwei Rückgrate … diese verfluchte Köchin, die mit ihrem Drei-Punkte-Wurf alle anderen Gebeine pulverisiert …. vielleicht würde der Heilige Vater auch nichts merken … und … wenn doch? … War der Papst Brillenträger? … Seines Wissens nicht … mein Gott, er würde …
„Neieeeeeeiiiiiiiiiiiiin!!!!“
Kleine Randnotiz: Objektiv gesehen war es genau dieser unermesslich laute, von Verzweiflung getriebene Aufschrei unseres Kanalmeisters, dessen kompromissloses „Neieeeeeeiiiiiiiiiiiiin!!!!“ das Entscheidende gewesen ist … ja, was soll ich sagen, das uns zur Abkehr von der Atomenergie bewegt hat!
Kein Flachs: selbst in der Vulkaneifel hüpften die erregten Messfühler der Seismografen aus ihrem Gehäuse. So laut hatte der Kardinal, unser Kölner Kardinal, die Abkehr vom Weltlichen in eben jene, die Welt, hinausgerufen.
Unser Kardinal, der angesichts moralischer Verwahrlosung sogar Erdbeben auszulösen imstande war. Vielleicht würde ihn der Heilige Vater ja doch noch berufen, ihn, seinen treuesten Gefolgsmann, ihn, den unerschrockenen Kämpfer wider das unmenschliche, triebhafte Verlangen …
***
„Juchhuh, er lebt noch“, frohlockte Miranda, die kroatische Köchin.
„Gottseidank, mein geliebtester Herr und Kanalmeister“, fügte Melinda, die serbische Kammerzofe, sanft hinzu.
„Et kütt, wie et kütt“, stellte Schwaderlapp, der, eine heimliche Distanz zu Melinda kultivierende, einheimische Nuntius Seiner Exzellenz, trocken fest.

„U… un … und, und“, stammelte der Kanalmeister, der noch nicht so ganz in der Lage war, seine von unruhigem Schlaf und heftigen Alpträumen verklebten Augen zu öffnen, „un… und, ist der Heilige Vater schon da?“
„Der kütt nit“, erwiderte Schwaderlapp lapidar, um dann gleich wieder in dieses vulgäre, überhebliche, ja …Kölsche … zu fallen: „Er haben Euer Exzellenz doch bereits bei seiner letzten Visitation zu verstehen gegeben, dass er unser Erzbistum künftig weiträumig …“
„Halts Maul!“, fiel ihm der Kanalmeister ins Wort. Er war nun vollends wach und bemerkte erst beim von der Bandscheibe leicht behinderten Aufrichten, dass sein Hemd vor Schweiß nur so triefte.
„Er braucht etwas zur Beruhigung, mein armer Mann“, zwitscherte die serbische Kammerzofe der kroatischen Köchin, ihrer besten Freundin, zu.
„Tja, etwas zur Beruhigung“, grinste Miranda, während sie die Spritze aufzog …

© andreashava 2011

Letzte Aktualisierung: 12.10.2011 - 16.03 Uhr
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