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Vorgegebenes Textfragment | Oktober 2011

Vorstellungsgespräch
von Susanne Ruitenberg

Cord warf verstohlen einen Blick auf seinen Nebenmann, Paul irgendwas. Der zupfte nervös an seiner Krawatte, wenn er nicht gerade die Unterlagen auf seinem Schoß glättete. Sie waren nur noch zu dritt. Links von Cord saß der joviale ‚kannst scho’ Hubi z’mi sogn’ Mayrhofer aus München. Im Gegensatz zu Paul war Hubi ein Bild der Gelassenheit, er schien sogar zu dösen.
Cord unterdrückte den Impuls, seine eigenen Bewerbungsunterlagen zum einhundertfünfundsiebzigtausendsten Mal auf Vollständigkeit zu überprüfen. Schließlich hatte er den ganzen Kram schon per Mail eingereicht. Beim Vorstellungsgespräch sollten lediglich die Originale vorgezeigt werden. „Heute kann man so viel manipulieren“, hatte Dr. Miranda Sattan-Stocher, die Personalchefin, am Telefon gesagt.
Zu Beginn des Tages waren sie noch über fünfzig gewesen. Er hatte gleich umkehren wollen, als er die vielen gut aussehenden, elegant gekleideten Bankertypen gesehen hatte. Welche Chance hätte er mit seinem einen Meter siebzig und der Hasenscharte? Er wurde sowieso immer übergangen. Doch er brauchte diesen Job unbedingt.
Und nun waren sie alle weg, die smarten Typen. Unvorstellbar, dass sie alle beim schriftlichen Eignungstest versagt haben sollten. Er fragte sich ohnehin, was die Fragen mit der ausgeschriebenen Stelle zu tun hatten. Laut Stellenanzeige war die Firma, die sich „End-sorgt Inc.“ nannte, auf der Suche nach einem tatkräftigen Assistenten (m) für die Geschäftsführerin, und wie das mit dem Gleichstellungsparagraphen vereinbar war, nur nach „m“ zu suchen, rätselte er, seit er die Anzeige entdeckt hatte. In welcher Branche die Firma tätig war, ging auch nicht daraus hervor.
Und der Test war eigenartig gewesen, hatte drei Stunden gedauert. Laut Uhr zumindest. Eigentlich konnte er sich kaum noch daran erinnern. Ein paar allgemeine Fragen zu Werdegang, Bildung, familiärer Situation. Der Rest verschwand in einem grauen Nebel. Er hatte ein vages Bild vor Augen, wie sie alle an ihren Einzeltischen gesessen und geschrieben und angekreuzt hatten – nur was? Das einzige, an das er sich genau erinnerte, war der süßliche Geruch im Raum und das Gefühl, wie aus einer Trance zu erwachen, als sie danach eine Pause machen durften.
Jetzt saßen sie hier nur noch zu dritt, die anderen waren offenbar weggeschickt worden. Vielleicht warteten sie auch nur in anderen Fluren.
Die Tür vor ihnen wurde geöffnet und eine junge Frau steckte den Kopf heraus. „Herr Winter? Kommen Sie bitte mit?“
Paul nicht-mehr-irgendwas-sondern-Winter sprang auf, ließ seine Unterlagen fallen, errötete wie ein junges Mädchen beim ersten Kuss und hob sie wieder auf, bevor er der Frau in den Raum folgte. Durch den Krach war Hubi wachgeworden.
„Wassis? Is scho’ ...“
„Unser dritter Mann wurde soeben nach drinnen gebeten.“
„Guad. Dann isses hoffentlich bald vorbei. Sag, kannst di an den damischen Test noch herinnern? Moi Schädl is wie leergefegt.“
Cord schüttelte den Kopf. „Nein, komischerweise nicht. Als hätte ich den in Trance ausgefüllt.“
„Wenn mer endlich fertig san, geh ich in die nächst’ Kneip’n. I hob aan Durst, sog’ i di.“ Hubi streckte sich. Cord hörte deutlich seine Knochen knacken. Er sah auf die Uhr.
Eine Viertelstunde später wurde Hubi hereingebeten. Na also, wenn die Gespräche so kurz waren, hätte er es bald geschafft. Cord öffnete seinen Ordner und blätterte ihn durch, ohne auf die Dokumente zu achten.
Knapp zwanzig Minuten später war er endlich an der Reihe. Die junge Dame, die ihn hereinbat, führte ihn durch einen kurzen Gang und klopfte an eine Tür ohne Namensschild. „Herein“, erklang eine Stimme von innen.
Rauchig. Sexy. Das Mädel öffnete die Tür. „Bitte sehr“. Sie ließ ihn vorbeigehen, ohne mit einzutreten.
Cord sah sich verstohlen um. Graugetäfelte Wände, grauer Teppich, gediegen. Hinter einem riesigen Schreibtisch aus schwarzem Holz erhob sich eine Frau unbestimmten Alters. Sehr elegant, in einem schwarzen Kostüm, sorgfältig geschminkt, das schwarze Haar hochgesteckt. „Guten Tag Herr Baltus. Nehmen sie Platz.“ Ihr Händedruck war fest. „Kann ich Ihnen Kaffee oder Wasser anbieten?“
„Gerne ein Wasser.“
Sie schenkte ein.
„Danke, Frau Dr. Sattan-Stocher.“
„Nennen Sie mich Miranda, das ist kürzer, werter Cord. Ich darf Sie doch so nennen?“
Er nickte.
„Kommen wir zu Ihrem Test. Sie haben mit Abstand das beste Ergebnis erzielt.“ Sie hielt einen Moment inne, wie um ihre Worte wirken zu lassen. Sollte er etwas sagen? Was erwartete sie? Er begnügte sich mit einem Nicken.
Sie fuhr fort: „Die anderen beiden Herren, die mit Ihnen gewartet haben, waren auch nicht schlecht. Leider haben sie bei den abschließenden Fragen versagt. So sind Sie jetzt meine letzte Chance.“ Sie sah ihn vielsagend an.
Cord spürte ein Kribbeln. Sollte er wirklich das Glück haben, gewählt zu werden? All diesen clever aussehenden Kerlen vorgezogen zu werden? Ausgerechnet er? Dann wäre er ja nur sechs Monate arbeitslos gewesen!
Miranda blätterte in einem Stapel Ausdrucke. „Ich werde Ihnen jetzt abschließend ein paar Fragen stellen. Sie sollen, ohne viel nachzudenken, mit „ja“ oder „nein“ antworten.“
„In Ordnung.“
„Sind Sie ehrgeizig?“
„Ja.“
„Wollen Sie es im Leben zu etwas bringen?“
„Ja.“
„Sind Sie schon einmal vor einer Aufgabe zurückgeschreckt?“
„Nein.“

In diesem Stil ging es eine Zeitlang weiter. Cord bemühte sich, ganz spontan zu antworten. Nicht, dass Miranda ihm ein Zögern falsch deutete.
Plötzlich verschärfte sie den Ton.
„Wollen Sie den Job unbedingt?“
„Ja.“
„Sind Sie bereit, auch Opfer zu bringen dafür?“
„Ja.“
„Sind Sie bereit, mir bedingungslos zu gehorchen?“
Vorsicht, Fangfrage, dachte er. „Ja.“ Sie würde ja wohl kaum etwas Unmoralisches von ihm verlangen, oder?
Sie erhob sich und öffnete eine Tür an der rückwärtigen Wand, die er bisher nicht einmal wahrgenommen hatte. „Bisher bin ich sehr angetan von Ihren Antworten. Kommen Sie mit.“
Hinter ihr betrat er den kleinen Raum neben dem Büro und erstarrte. Drei Menschen saßen dort, gefesselt und geknebelt. Eine sehr alte Frau, die sich kaum aufrecht halten konnte, ein heruntergekommener Junkie, und ein Kind, das weder Arme noch Beine hatte, aber offenbar auch keinen Verstand, sabbernd und mit verdrehten Augen hing es auf dem Stuhl.
„Das ist der letzte Test. Sie sehen drei Gestalten, die ihren Mitmenschen nur Kummer, Ärger und einen Haufen Arbeit machen. Die Alte ist dement und beißt permanent die Pflegekräfte. Der Junkie hat schon fünf Rehas hinter sich, fängt immer wieder an, sich zuzudröhnen und finanziert seine Sucht durch Überfälle. Und das Kind – nun, Sie sehen ja, ein absoluter Fehlversuch.“ Sie sah ihn mit forschendem Blick an. Was erwartete sie von ihm? Er bemühte sich, einen fragenden Ausdruck aufzusetzen.
„Sie werden sich sicher gefragt haben, was unser Firmenname bedeutet?“
Welch ein Themenwechsel. „In der Tat, das habe ich.“
„Wie erkläre ich es am besten?“ Sie schien nachzudenken. „Wir entsorgen, was entsorgt werden muss. Und befreien dadurch die Menschen von Kummer, Sorgen und Plackerei; ersparen der Gesellschaft sinnlose Ausgaben und dämmen zudem Verbrechen ein.“ Mit zwei Schritten ging sie zur Wand, hängte einen Kunstdruck von Miró ab, öffnete eine Art Schranktür und fischte einen Gegenstand heraus, den sie ihm reichte. „Nehmen Sie das.“
Mechanisch griff er zu und starrte ungläubig auf den Revolver, den er in der Hand hielt. Was zum Teufel?
Miranda deutete auf die drei Menschen. „Erschießen Sie sie.“
„Waas?“
„Erschießen Sie sie!“ Schärfer. „Das ist Ihre Aufgabe.“
„Aber ... aber ...“
„Na los! Wollen Sie den Job oder nicht?“
„Ich dachte ...“ Seine Stimme krächzte.
„Sie dachten? Denken wird hier nicht verlangt. Nur Gehorchen. Bedingungslos. Jetzt erschießen Sie sie endlich, damit wir Ihr Gehalt verhandeln können.“
Er ließ die Waffe fallen. „Das geht zu weit. Ich verzichte.“
„Wie Sie wollen.“
Er ging zur Tür, drückte die Klinke hinunter und zog. Nichts. Also ging sie nach außen auf. Doch die Tür ließ sich auch nicht aufschieben. Nachdem er eine Weile gerüttelt hatte, wandte er sich wieder Miranda zu und erstarrte als er sah, was Sie ihn der Hand hielt. Das musste die riesigste Spritze sein, die er je gesehen hatte. „Machen Sie die Tür auf!“
„Kommen Sie Ihrer Aufgabe nach. Jetzt sofort!“
„Sie sind wohl verrückt? Das tue ich nicht!“
„Tja“, sagte Miranda, während sie die Spritze aufzog, „dann werden wir wohl nicht mehr viel von Ihnen haben. Schade, ich hatte mich so darauf gefreut, Ihre vielen Talente kennen zu lernen.“
Erst als der Schmerz sich von der Einstichstelle wie ein Buschfeuer in seinem Körper ausbreitete, fragte er sich, warum er den Revolver nicht auf Mira...



©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 27.10.2011 - 14.57 Uhr
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