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Vorgegebenes Textfragment | Oktober 2011

Oh Fortuna ...
von Bernd Kleber

Das Schicksal weiß genau, was es tut und es ist allem einen Schritt voraus. Wenn wir uns heute fragen, wieso platzte mir die Hosennaht, sind wir morgen glücklich, dass sie uns in die Arme der zärtlichen Schneiderin an der nächsten Ecke führte. Nur ungeschickt, wenn daheim eine „Sabine“ wartet ...

Sabine schrie und warf eine Vase in hohem Bogen durch den Raum. Die sollte Martins Kopf treffen, flog an dem Geduckten vorbei, erblickte nach dem geöffneten Fenster die Weiten eines königsblauen Himmels und fühlte sich frei im Fluge auf die Bornholmer. Einen Augenblick segelte sie, sich wie Mutter Erde um die eigene Achse drehend. Dann verharrte sie kurz, um von genau dieser Erde angezogen, sich steil abwärts zu bewegen. Vor den Füßen einer älteren Dame, die hell aufschrie, zerbarst sie in unzählige Scherben. Ein Pudel mit rosa Halsband riss sich los und verschwand im Dschungel der Großstadt.
Hoch über der Vase, in der dritten Etage, aus der sie hergekommen war, schlug eine Wohnungstür krachend in die Angeln. Und Sabine zerrte ihren Koffer durch das Treppenhaus, auf Nimmerwiedersehen, wie sie Martin versichert hatte.
An diesem Tag, erinnerte sich Martin später, hatte alles angefangen.
Er hatte sich auf seine Couch niedergelassen, den Kopf sinnierend in seine Hände gestützt. Wie würde er in Zukunft ohne seinen „Drachen“ auskommen?
Sabine hatte sich schnurstracks zum Flughafen bewegt, ein Ticket gekauft, um ihren Onkel in Santiago de Chile zu besuchen, der dort seit der DDR-Wende lebte, als er Familie Honecker auf der Flucht begleitet hatte. Noch auf der Gangway war Sabine wütend. Der Einstieg gestaltete sich langwierig. Es verstanden wieder einige Wenige nicht, dass ein Hartschalenkoffer von gewisser Größe weder als Handgepäck geeignet war noch in die Taschenablage über den Sitzen passen würde. Fahrig fingerte sie in ihrem Portemonnaie, ihre Platzkarte zu verstauen, als sie des Fotos von Martin gewahr wurde, es aus der Klarsichthülle zerrte und in die Luft warf.
Der Wind erbarmte sich des Bildnisses, erfasste es, trug es zärtlich streichelnd hier- und dorthin, schaukelte es, um es wieder anzuheben, tanzen zu lassen und endlich an eines der taunassen Bullaugen des Fliegers zu kleben. Die Silberbromidschicht des Bildes wurde weich und saugte sich an der Kunststoffscheibe fest.
Auf diesen Platz der Fliegerinnenseite setzte sich Sabine, sah aus dem Fenster in das Antlitz Martins und schrie kurz auf. Unheimlich grinste Martin sie vom Ostseestrand winkend an. Sabine zog den grauen Blendschutz herunter und lehnte sich an das merkwürdig riechende Mikrofaserkissen, das auf ihrem Sitz für sie bereitgelegen hatte. Als sie die Maschine starten hörte und die Beschleunigung sie fester in ihren Sitz quetschte, schlief sie ein.

Martin hatte Stunden später seine Jeanshose übergestreift, den Schlüssel vom Regal genommen und sich zum Ausgang bewegt, als ihn eine merkwürdige Unruhe erfasste. Er hatte das Gefühl, getrieben zu werden.
Er betrat die Straße, wo ein Staffordshire-Terrier saß, als hätte er auf ihn gewartet, und hechelnd grinste. Das Tier erhob sich jaulend und freudig mit dem schwanzlosen Hinterteil wackelnd.
Dann folgte ihm der Hund über das Mosaikpflaster der Bornholmer. Nicht, dass Martin Angst vor Hunden gehabt hätte, aber so ein großer, von einer Rasse, die in den Medien als Kampfhundrasse berüchtigt war, direkt hinter ihm, war beklemmend. Blieb Martin stehen, rührte sich der Koloss auch nicht. Sah Martin dem Hund in die Augen, legte der sich ab und winselte. Martin hatte Schweiß auf der Stirn. An einem Drogeriemarkt vorbeilaufend, erschrak er wegen eines angeleinten Pinschers, der ihn anbellte. Das Tier zerrte an seiner Leine, als wolle es sich erhängen. Als Martin eilig weiterlief, verfiel das kleine Hündchen in herzzerreißendes Winseln. Ihm fiel nach weiteren vier Straßenzügen bei einem unauffälligen Sichumblicken auf, dass er zwischenzeitlich drei Hunde im Schlepptau hatte. Stoßartig kichernd und gleichzeitig rot werdend, erinnerte er sich an Erzählungen seines Großvaters, wie närrische Rüden läufige Hündinnen verfolgten.
Das konnte nicht sein. Hatte sich Sabine auf seine Jeanshose gesetzt und eine für Hunde wohlriechende Marke hinterlassen?
Er eilte in ein Schokoladengeschäft. Kaum hatte er die Tür geschlossen, drückte er seine Nase an der Glasscheibe der Tür platt und zählte die Hunde. Die Verkäuferin fragte gedehnt: „Kann - ich - Ihnen - helfen?“
Martin zählte bis Sieben und keinesfalls nur Rüden, soweit er das erkennen konnte. Der Staffordshire, ein Dackel, ein Pudel, diese Art Lassie-Hund, einer von der Sorte, der mit Schweinchen Babe so berühmt wurde und zwei Mischlinge ... sehr niedlich, wie er fand. In der zweiten Spur der parkenden Autos hielt ein dunkler Transporter.
Hilfe suchend sah er sich zu der Verkäuferin um.
„Ja, Sie können mir helfen. Gibt es einen Hinterausgang?“
„Wieso?“
„Na sehen Sie doch selbst, ich werde verfolgt.“
„Sind das nicht Ihre?“ Die Dame war nun ebenfalls an die Tür getreten und sah hinaus. Sie wollte mit den Worten „Wie süß“ die Tür öffnen, da hielt Martin diese energisch zu.
„Nein, das sind nicht meine, die verfolgen mich.“
„Quatsch! So was gibt es doch gar nicht“, kicherte die Verkäuferin.
Martin sah sie mit einem Blick an, als hätte sie das Frühstücksei 20 Minuten gekocht und gerade für lecker befunden.
„Oh, ja, es gibt einen Ausgang in den Hausflur, hinten, da könnten Sie über die Höfe zur nächsten Straße gelangen.“
„Bitte, lassen Sie mich dort raus, ja?“
Die Verkäuferin lächelte mild, „Ach, Sie brauchen doch aber vor diesen Rackern keine Angst zu haben. Aber meinetwegen.“
Beide gingen nach hinten und Martin schlüpfte in den Flur, eilte über Hinterhöfe, die bei der Gestaltung von Zäunen und Mauern befreit worden waren. Er kam in einen Hausflur, der auf einen Gehweg führte.
Als er die schwere Eisenklinke niederdrückte, glaubte er ein Winseln zu hören. Er drehte sich um, doch da war nichts, öffnete den Torweg und stand vor einem Rudel Hunde. Seine „alten“ Bekannten plus einige Neue. Seine Arme hingen schlaff an seinem Körper, sein Herz raste. Eine große Deutsch-Drahthaar-Hündin leckte seine Hand. Vorbeigehende Passanten schüttelten den Kopf.
„Na wunderbar, hoffentlich machen Sie den Dreck Ihrer Tölen auch weg, man tritt hier nur noch in Scheiße!“, meckerte eine Alte.
Der Transporter mit getönten Scheiben fuhr im Schritttempo durch die Straße.
Martin wandte sich zum Gehen, da biss eine braun-graue Hündin in seinen Hemdsärmel und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung. Unüberhörbar knurrte sie dabei.
Martin sah sich um, die Hunde wollten scheinbar alle, dass er nach Norden ging. Er schüttelte den Kopf, „Das glaubt mir später keiner.“ Sie liefen Richtung S-Bahn. Als er auf dem Bahnhof in die Bahn sprang, drängelten sich auch seine Begleiter hinein. Ein Kind lachte und streichelte drei Hunde gleichzeitig.
In der Mitte des Wagens stand ein kleiner gebeugter Mann. Ein Greis, der mit zitternder Stimme wunderschöne Gedichte vortrug und anschließend durch die Sitzreihen wankte, die mit wuselnden Hunden verstopft waren. In der Hand hielt er seinen offenen Hut.
„Tun Sie sich was Gutes, spenden Sie mir“, sagte er. Vor einer jungen Frau blieb er stehen. „Tu was Gutes, heirate mich, Ananke, ich liebe dich.“ Die junge Frau streichelte dem Alten das Gesicht und flüsterte in sein Ohr.
Die Fahrgäste lachten und gaben ihm viele Centstücke, im Hut klapperte es.
Im Wedding stieg Martin mit seinen Hunden aus. Sie kamen bei dem dortigen großen Pharmakonzern an. Die Tiere scharrten auf dem Pflaster vor einem Seitengebäude. Martin spähte durch die Fenster im Souterrain. Noch mehr Vierbeiner!
Einer Eingebung folgend, bedeutete er seinem Rudel, es möge dort stehen bleiben und ging um das Gebäude herum zum Haupteingang. Niemand kümmerte sich um ihn, als er mit dem Fahrstuhl in den Keller fuhr. Im kalt beleuchteten Flur lief er von Tür zu Tür, bis er dort angelangt war, wo er von außen die eingesperrten Hunde gesehen hatte. Als er den Raum betrat, erhielt er einen kräftigen Hieb auf den Schädel.

Als er wach wurde, stand ihm eine Blonde mit fleischlosen Lippen gegenüber. Er selbst lag gefesselt auf einer Liege.
„Hallo, wir beobachten Sie schon den ganzen Tag, wussten wir doch, Sie würden kommen.“
Auf ihrem Namensschild konnte Martin „Miranda“ lesen, der Familienname von einer Stofffalte des Kittels bedeckt.
"Tja", sagte Miranda, während sie die Spritze aufzog, "dann werden wir wohl nicht mehr viel von Ihnen haben. Schade, ich hatte mich so darauf gefreut, Ihre vielen Talente kennen zu lernen."
Martin stöhnte, schmeckte den widerlichen Knebel im Mund.
Da sprang eine große Dogge ins Kreuz der Blondine. An seinen Handfesseln knabberte ein Pudel mit rosa Halsband feucht und zärtlich. Die sanften Augen des Pudels beruhigten Martin auf rätselhafte Weise. Alles passierte in wenigen Augenblicken. Die Hunde von der Straße waren zu Hilfe geeilt. Er hatte den Eindruck, sie sprechen zu hören, sie gaben jedoch keinen Laut von sich. Aber Stimmen in seinem Kopf riefen etwas.
„Befrei` die Versuchstiere, da sind sogar Welpen dabei, schnell, ehe weitere Wärter kommen“, hörte er ganz deutlich. Martin schüttelte seinen Kopf und schlug sich mehrfach mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Er eilte zu den Käfigen, ein stürmisches Bellen und Durcheinanderreden machte ihn nervös. Er schrie: „Ruhe!“, oder bellte er gerade?


Das Foto hatte sich endlich von der Scheibe gelöst und war fortgeflogen. Sabine hatte wieder freie Aussicht, als sie den südamerikanischen Kontinent und das gewaltige Grün überflogen.
Die Fotografie flatterte hinab, direkt in die Arme von Tamaenta, dem weisen Mann eines unbekannten Stammes mitten im Amazonas. Dieser Volksstamm war seit Generationen damit beschäftigt, Götzen zu schaffen. Seit Erdengedenken wurden in Ritualen mit Beschwörungsgesängen Götter erzeugt.
Das Foto, das sie heute gesandt bekommen hatten, bildete den Mittelpunkt für die Schöpfung des Gottes der Wolfstiere.

Letzte Aktualisierung: 12.10.2011 - 21.28 Uhr
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