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Vorgegebenes Textfragment | Oktober 2011

Spritziges Vergnügen
von Robert Poleschny

Der Nissan Micra hielt vor der Einfahrt des Hauses. Im Auto saßen Wilfried und Dagmar, die hektisch aufeinander einredeten und um die Wette gestikulierten. Dann hielten sie inne, schauten sich an und nahmen sich, offensichtlich vergnügt, in die Arme.
Stefan beobachtete das Geschehen vom Küchenfenster aus und wischte sich die Hände an der Schürze ab, auf der eine antike männliche Skulptur abgebildet war.
„Die beiden werden sich nie ändern“, sagte er lachend zu sich selbst, während er den Kopf schüttelte und die Schleife der Schürze löste. Dann ging er hinaus, um seine Schwiegereltern zu begrüßen.
Harald stand vor der Schwelle der Eingangstür und winkte seinen Eltern zu. Er hatte sich so sehr auf ihren Besuch gefreut, der die vergangenen Male aus verschiedenen Gründen ausfallen musste. Eine OP seines Vaters vor drei Jahren, der Tod von Mopsdame Lilli vor zwei und komplettes Schneechaos letztes Weihnachten.
Nun hatten sie vor, ganze vierzehn Tage zu bleiben. Stefan und Harald hatten sich für diese Zeit Urlaub genommen, um gemeinsame Abende mit gutem Essen und Wein, mit langen Spaziergängen oder einfach nur mit intensiven Gesprächen zu verbringen. Harald ging im Kopf noch einmal alles durch. Das Holz für den Kamin war gehackt und lag gestapelt daneben, die Gästebetten waren frisch bezogen, um den Braten kümmerte sich Stefan. Alles war perfekt.
„Da seid ihr ja endlich“, rief Harald ihnen schon von Weitem zu.
„Ach, hör mir bloß auf. Du kennst doch deinen Vater, stur wie ein Bock.“
Dabei boxte Dagmar ihren Mann sanft auf den Oberarm, während er sich übertrieben wegduckte, mit den Händen über den Kopf.
„Wo ist denn Stefan? Mal wieder in der Küche, um das Startmenü für das große Fressen einzuläuten? Das letzte Mal, als ihr bei uns wart, musste ich mir alle Fernsehgymnastiksendungen antun, inklusive der Wiederholungen. Und hat es was gebracht?“, dabei drehte sie sich um ihre eigene Achse und sah an sich hinunter. Schließlich lief sie lächelnd und mit ausgebreiteten Armen auf ihren Sohn zu.
Hinter Harald öffnete sich die Tür. Stefan trat heraus, stellte sich neben ihn und legte eine Hand auf dessen Hintern. Mit gespielter Zickigkeit und der freien Hand in der Hüfte sagte er:
„Redet ihr über mich?“
„Nur Gutes, mein Lieblingsschwiegersohn. Nur Gutes.“
Wilfried stand noch am Auto und rief:
„Ist ja toll, wenn ihr drei euch amüsiert. Aber wäre einer der starken Herren vielleicht so gütig, einem alten Mann mit dem Gepäck zu helfen?“
Stefan gab Dagmar noch schnell drei Küsschen nach französischer Art und ließ sie mit Harald allein, während er noch hinzufügte:
„Na, da bin ich ja wohl der Einzige in diesem Haushalt, der kräftig genug ist.“
Am Auto begrüßte Stefan seinen Schwiegervater, der stirnrunzelnd fragte:
„Was bitte schön ist eine Weinziege?“
Stefan überlegte kurz, was Wildfried meinte. Dann fing er lauthals an zu lachen. Er hatte nicht mehr daran gedacht, dass Wilfried seit gut zwei Jahren schlecht hörte, weshalb man in seiner Gegenwart lauter sprechen musste.
„Der Einzige, nicht die Weinziege!“
„Ach so.“ Wilfried nickte zustimmend und öffnete den Kofferraum.
Ihm war es keineswegs peinlich, ständig etwas misszuverstehen. Im Gegenteil.
Schon oft gab es aufgrund seiner fauxpas mächtig was zu lachen, wodurch so manch ermüdender Abend gerettet wurde.
Stefan hob die Trolleys aus dem Wagen, um sie ins Haus zu ziehen. Ein Bauarbeiterpfiff untermalte seinen Gang, den er ausgiebig vor dem Spiegel geübt hatte.
„Mensch Dagmar, du siehst echt spitzenmäßig aus. Ich bin ganz neidisch. Vielleicht kannst du mir ja in den nächsten Tagen dein Geheimnis verraten.“
Dagmar warf den Kopf nach hinten.
„Stefan, du Charmeur, hab vielen Dank für die Blumen. Nun rück’ schon raus mit der Sprache! Du willst doch etwas?“
Sie kniff ihm in die Wangen und hakte sich unter. Zusammen gingen sie ins Haus. Dann fuhr sie fort:
„Jetzt aber Schluss mit der Schleimerei. Was wirst du uns denn heute auftafeln?“

Am Abend saßen alle vier gemütlich beisammen. Je weiter die Zeiger der Uhr voranschritten, desto ausgelassener wurde die Stimmung. Der Weinkeller leerte sich unaufhaltsam, während die Konsumenten des dort gelagerten Rebensafts immer voller wurden.
Irgendwann kam Stefan auf die Idee, eine Runde Charade zu spielen. Schließlich blieben sie bei dem Begriff „Freie Liebe“ hängen und diskutierten heftig über die 70er Jahre, die Wilfried, im wahrsten Sinne des Wortes, am eigenen Leib miterlebt hatte.
„Also Wilfried!“
Stefans Zunge hatte mittlerweile gefühlte drei Kilo zugenommen.
„Wenn ich das so höre“, lallte er, „kann ich nur sagen, dass viele Schwule heute genau das ausleben, was du in den 70ern genießen durftest. Freie Liebe wird bei uns Homos ganz groß geschrieben.“ Stefan riss die Arme in die Höhe, um die Dimension Charade-mäßig darzustellen.
Dann nahm er Haralds Hand in seine und lächelte ihn leicht süffisant an.
„Zum Glück gibt es aber auch Ausnahmen.“ Ein Kussmund in seine Richtung besiegelte das Gesagte.
Dagmar meldete sich zu Wort.
„Siehst du, Wilfried“, dabei stieß sie ihn an, „ich sage ja immer: Alles kommt wieder.“
Wilfried, der mittlerweile ein bisschen müde war, zuckte zusammen und brummelte: „Was ist? Ach so! Ja klar, kommen wir wieder.“
„Du glaubst nicht, was es alles in der Welt der Schwulen gibt“, fuhr Stefan fort.
„Denk dir etwas aus, das dir unvorstellbar scheint, und nehme das Ganze mal
zehn. Erst dann bist du annähernd dran.“
Er machte eine kleine Pause, während Dagmar tatsächlich grübelte.
„Ein Tipp, Sex mit Dingen zu haben, die aus mehr Silikon bestehen als die Brüste von Pamela Anderson, ist nur die Spitze des Eisbergs oder, um beim passenden Bild zu bleiben, das Reservoir eines Kondoms.“
Dagmar gab es auf. Wahrscheinlich hatte sie ihre Fantasie mit dem Wein weggespült.
„Ich glaube, ich bin dafür zu betrunken. Vielleicht sollten Wilfried und ich langsam ins Bett gehen.“
Als Wilfried seinen Namen hörte, war er wieder hellwach.
„Was ist mit mir?“
Harald erhob sich von seinem Stuhl und ging zu seinen Eltern.
„Geht mal in die Kiste. Zum Tratschen bleibt uns noch genug Zeit.“ Er gab beiden einen Kuss auf die Wange.
„Schlaft schön.“
Wilfried fragte sich, ob er richtig gehört hatte? Seine Jungs wollten noch auf die Piste?
Er sah auf seine Uhr und stellte fest, dass es erst kurz vor elf war. Harald hatte recht. Es war wirklich noch genug Zeit, das Tanzbein zu schwingen.
„Um das Thema von eben abzuschließen“, wandte sich Stefan noch mal an Dagmar, „es gibt beim Sex unter Schwulen nichts, was es nicht gibt. Denk mal drüber nach.“
Wilfried schlurfte mittlerweile Richtung Bad, um sich fürs Bett fertigzumachen, als Stefan ihn einholte und tönte:
„Ich werde auch mal in die Koje gehen. Schließlich braucht mein Teint mindestens acht Stunden Schlaf.“
Wilfried liebte diesen Kerl und war froh, dass sein Sohn solch ein Glück hatte.
Sicher, ein paar Enkelkinder wären schön gewesen. Aber damit hatte er sich abgefunden. Wilfried fand nur, dass sein Sohn es wenigstens mal mit einer Frau versuchen sollte. Denn er war schon immer der Meinung, dass man nichts ablehnen sollte, was man nicht probiert hat. Das war beim Essen genauso wie beim Sex.

Wilfried öffnete seine Augen und sah auf den Radiowecker. 2:43 Uhr.
Neben seiner altersbedingten Hörschwäche hatte er nun auch Probleme mit der Blase. In einer Nacht dreimal zum Klo war keine Seltenheit.
Wilfried schlug die Bettdecke zur Seite, stand auf und öffnete die Zimmertür. Im Haus war es stockdunkel. Er blieb stehen, damit seine Augen sich an die Schwärze gewöhnen konnten.
Dann hörte er auf einmal Stimmen, die aus dem Erdgeschoss kamen. Wenn ihn nicht alles täuschte, war auch die einer Frau dabei. Langsam tastete sich Wilfried zur Treppe. Vielleicht war Harald mittlerweile zurück von seinem Tanzabend und schaute noch ein bisschen Fernsehen. Stufe für Stufe kam er dem Geräusch näher. Im Wohnzimmer angekommen, stellte er fest, dass der Bildschirm schwarz war wie die Dunkelheit um ihn herum.
„Seltsam.“, flüsterte er vor sich hin, „Woher die Stimmen wohl kommen?“
Mittlerweile waren einzelne Wortfetzen zu verstehen, die durch ein tiefes Lachen ergänzt wurden. Dann vernahm er Worte von Harald. Zuerst dachte Wilfried, er hätte sich verhört. Doch als der Satz Miranda, ich war ungezogen in sein Ohr drang, war er sich sicher, dass diese Stimme seinem Sohn gehörte.
Die Neugier des Alten war nun ungebremst. Hatte Harald tatsächlich eine Frau mitgebracht? Doch was war mit Stefan? Wilfried war hin- und hergerissen. Einerseits war er von Harald enttäuscht, weil er vor nicht mal vier Stunden Stefan seine Treue beteuert hatte, doch andererseits ging nun endlich sein stiller Wunsch in Erfüllung. Harald hatte Sex mit einer Frau.
Und Stefan hatte es selbst gesagt: „Es gibt bei Schwulen nichts, was es nicht gibt.“
Langsam näherte Wilfried sich dem Zimmer, aus dem die Stimmen drangen, und hörte nun deutlich, was gesprochen wurde.
„Nein, Stefanie, nicht ...“
„Wie oft soll ich es ihnen sagen? Sie sollen mich Miranda nennen!“
Eine kleine Pause trat ein. Wilfried ging noch näher und erhaschte einen Blick durch den Türspalt.
Harald lag gefesselt auf dem Bett und warf seinen Kopf theatralisch hin und her. Daneben, mit dem Rücken zur Tür, stand eine bronzehaarige Frau in einer knappen Krankenschwester-Uniform. Miranda.
„Nein, Miranda, bitte tu mir das nicht an! Ich kann dir noch von Nutzen sein.“
„Tja", sagte „Miranda“, während sie die Spritze aufzog, "dann werden wir wohl nicht mehr viel von Ihnen haben. Schade, ich hatte mich so darauf gefreut, Ihre vielen Talente kennen zu lernen."
Wilfried lächelte, zog mit der Hand über seinen Mund, als würde er einen imaginären Reißverschluss betätigen und legte den Rückwärtsgang ein. Dabei knackten seine Knochen. Ein weiteres Mal verfluchte er sein Alter.
„Miranda“ drehte sich abrupt um.
„Hast du das gehört? Ich glaube, da ist jemand.“
Harald fing an zu lachen.
„Ach Stefan, ich habe dir gleich gesagt, wir sollten für die nächsten zwei Wochen auf unsere Rollenspiele verzichten.“

Letzte Aktualisierung: 24.10.2011 - 16.30 Uhr
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