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Vorgegebenes Textfragment | Oktober 2011

Ehrenamt macht glücklich
von Gisela Reuter

Hin und wieder habe ich spontane Einfälle, die ich am liebsten sofort in die Tat umsetze. Vermutlich aus dem Grunde, damit ich nicht wieder abspringe und gute Vorsätze aus Bequemlichkeit in den Wind schlage.

Diesmal passierte es ausgerechnet nach einer Fernsehsendung, in der ehrenamtliche Mitarbeiter eines Seniorenheims über ihre Freiwilligentätigkeit berichteten. Freiwilligentätigkeit. Ehrenamt. Diese Worte haben etwas Erhabenes. Und fünf bis sechs Stunden pro Woche sind nun wirklich nicht zu viel. Die älteren Herrschaften werden mir am Abend dankbar hinterherwinken, wenn ich das Haus verlasse. Ich werde ihnen den Lebensabend versüßen und ein Lächeln in ihre runzeligen Gesichter zaubern. Ich werde Weihnachtsgeschichten vorlesen, zur Adventszeit mit ihnen basteln und sie unter dem Christbaum mit kleinen Geschenken beglücken.
Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit. Die Herzen von älteren gebrechlichen Menschen zu erfreuen, erzeugt bestimmt ein größeres Glücksgefühl als die Anschaffung einer Handtasche mit sieben übersichtlichen Fächern.

Beschwingt schreite ich durch die Eingangshalle und werde fröhlich von der Leiterin in Empfang genommen und in die Obhut von Schwester Miranda übergeben.
Als ich nach einer kurzen Einführungsrunde das Zimmer von Opa Edmund betrete, bereue ich jedoch meine aufopfernde Haltung vorübergehend, da ich mit dem Einsetzen von Zahnprothesen nicht die geringste Erfahrung habe und zudem nicht sicher bin, ob dies überhaupt in meinen Tätigkeitsbereich fällt.
„Bann bol Bilpfe“, nuschelt Edmund zahnlos aus seinem Bett heraus und zeigt auf die Türe. Ich verstehe kein Wort und hole Hilfe.
„Es bedarf einiger Übung“, erklärt Miranda, während Edmund artig den Mund öffnet und sich seine Zweiten mit einem schmatzenden Geräusch an den Gaumen pappen lässt. „Wenn Sie möchten, können Sie mich bei meiner Runde begleiten und das Zähneeinsetzen unter meiner Aufsicht trainieren.“
Ich lehne dankend ab, beteuere, dass ich lediglich zum Basteln und Vorlesen engagiert bin, nehme neben Edmunds Bett Platz und zücke mein mitgebrachtes Buch. Das Vorlesen gestaltet sich ein wenig mühselig, weil die Batterien von Edmunds Hörgerät leer sind. Nach drei Seiten bin ich heiser und mein Zuhörer schläft.

Ich beschließe, jemand anderen mit meiner Anwesenheit zu beglücken. Miranda begleitet mich in Zimmer 386, weil dort das Gebiss bereits eingesetzt ist und kein Hörgerät benötigt wird. Leider möchte die dort wohnende Dame nichts vorgelesen bekommen, sondern lieber ausführlich von ihren Zuckerwerten, dem Bluthochdruck und anderen Unpässlichkeiten berichten. Diesmal schlafe ich ein.

Für meinen nächsten Besuch habe ich buntes Papier, Scheren, Klebstoff und eine Bastelanleitung für Weihnachtssterne besorgt. Miranda führt mich in Zimmer 217. Es ist ein Doppelzimmer und die beiden Damen Gertrud und Gretel empfangen mich dankbar mit der Aussicht auf die zu bastelnde Weihnachtsdekoration für die gesamte Etage.

„Aber nicht wieder einschlafen“, sagt Miranda mit leichtem Unterton. Ich nicke verschämt und kippe mein Bastelzeug auf den Tisch.
Gertrud will rote Pappe und die blaue Schere. Gretel will goldene Pappe, aber ebenfalls die blaue Schere. Ich erkläre den Damen geduldig, dass die Farbe völlig unerheblich sei, und lese derweil die Anleitung. Sie scheint recht kompliziert, und da Gertrud und Gretel sich absolut nicht einigen können, wer nun welche Schere benutzt, und ich nicht kapiere, wie man an welcher Stelle das Papier faltet, schlage ich vor, alternativ ein Weihnachtslied zu singen. Aber auch da kommen die beiden Damen auf keinen gemeinsamen Nenner. Als ich versuche, ihre heftige Diskussion mit „Vom Himmel hoch“ zu übertönen, betritt Miranda das Zimmer und erkundigt sich ein wenig ungehalten, weshalb es hier so lautstark zugeht.
„Das mit dem Basteln hat nicht geklappt“, entschuldige ich mich. Miranda erklärt kühl, dass die beiden Damen nun ein wenig Ruhe bräuchten, und bittet mich, das Zimmer zu verlassen. Kleinlaut schleiche ich hinter ihr her.

Auf dem Flur begegnen wir einem scheinbar orientierungslosen Herrn mit Rollator, dem die redselige Dame von neulich gerade ins Ohr brüllt, dass er sich auf der falschen Etage befindet, die Cafeteria im Untergeschoss liege und er jemanden suchen soll, der ihn dorthin begleitet. Da ich selber bislang noch nichts Produktives in Sachen Ehrenamt geleistet habe, biete ich mich an, diese Aufgabe zu übernehmen.
Ich schiebe den Herrn samt Rollator in den Fahrstuhl und drücke auf K, was sich jedoch als falsch herausstellt, von mir aber erst bemerkt wird, als der Aufzug schon wieder weg ist. So warten wir geduldig in dem kühlen Kellerflur auf die Rückkehr. Bereits nach wenigen Minuten ist der Fahrstuhl wieder da und spuckt eine verblüffte Miranda mit einem Stapel Handtücher auf dem Arm aus.
„Was machen Sie denn hier?“, fragt sie verdutzt.
„Ich wollte mir mal den Keller ansehen“, lüge ich und halte den Rollator-Herrn am Ärmel fest, weil er Anstalten macht, hinter der kopfschüttelnden Miranda herzulaufen.

Zur bevorstehenden Weihnachtsfeier erkläre ich mich bereit, ein kleines Klavierkonzert zu geben. Miranda runzelt die Stirn, nickt aber zustimmend. Ich freue mich darauf, endlich mal mit einer Tätigkeit zu glänzen, nachdem ich vorgestern gegen eine Bodenvase gelaufen bin, Miranda sich beim Aufheben der Scherben verletzt hat und die Dame aus Zimmer 386 noch immer zutiefst beleidigt ist, weil ich über ihrer ausgedehnten Krankheitsschilderung eingeschlafen bin.
Zudem habe ich den Eindruck, dass ich Miranda eher eine Last als eine Unterstützung bin, weil ich vergangene Woche versehentlich eine Kollegin zu Fall gebracht habe, die gerade mit einer Bettpfanne über den Flur lief. Der Rollstuhl von Frau Müller wollte nicht so wie ich es wollte und vielleicht hatte ich auch ein zu hohes Tempo drauf. Aber zum Glück ist der Schwester nichts passiert. Bloß die Pfanne war unglücklicherweise voll, und der Deckel flog nach links und der Rest nach rechts.

Während ich nervös meine Noten sortiere und überlege, ob die ehrenamtliche Aufgabe in diesem Haus tatsächlich meiner Neigung entspricht, rücken die Mitarbeiter des Hauses eifrig einige Stühle zurecht. Das Klavier wird von den Zivis in der festlich geschmückten Cafeteria vor die Stuhlreihen geschoben und ich beginne, mich warm zu spielen. Wenigstens das klappt.
Der Hausmeister erscheint und fragt, ob es gut wäre, dass ich mit dem Rücken zu den Zuhörern sitze. Mir ist diese Position nicht unrecht, da ich gelöster bin, wenn mich niemand anschaut, aber er setzt sich durch und so versuchen wir zu zweit das Instrument zu drehen. Wir schieben und ziehen Millimeter um Millimeter.
Indem Miranda noch ruft, dass wir lieber die Zivis zurückholen sollen, macht es mit einem Male ‚knacks’ in meinem Rücken.
Ich kippe nach vorne und meine Unterarme donnern auf die Tastatur.
Zweiundvierzig Tasten schlagen gleichzeitig an und übertönen meinen Schmerzensschrei.
Ich will mich aufrichten, doch das funktioniert nicht.
Miranda eilt erschrocken heran und fragt, ob sie mir helfen könne.
Ich schüttele den Kopf und wispere, dass ich wohl einen Arzt brauche.
Natürlich ist kein Arzt im Haus und natürlich dauert es zwanzig Minuten, bis ein diensthabender Doktor kommt. Und natürlich sitzen die ersten Gäste bereits in den vorderen Reihen und starren mich an, wie ich so unbeweglich mit dem Oberkörper auf den Tasten liege und mich keinen Zentimeter bewegen kann.
Miranda hat bereits die Ampulle mit dem schmerzlindernden Mittel geköpft und der Arzt desinfiziert derweil meine Pobacke. Er hat einen gewaltigen Hexenschuss diagnostiziert und empfiehlt absolute Bettruhe.
Die Leiterin des Hauses tätschelt meine Hand und murmelt, dass ihr Seniorenheim eigentlich doch recht gut mit genügend Mitarbeitern besetzt und mein Einsatz in Zukunft nicht mehr zwingend erforderlich sei.
„Tja“, sagt Miranda, während sie die Spritze aufzieht, „dann werden wir wohl nicht mehr viel von Ihnen haben. Schade, ich hatte mich so darauf gefreut, Ihre vielen Talente kennen zu lernen.“

Ich bezweifele ja, dass sie es tatsächlich ernsthaft bedauert, und beschließe, alternativ in die Taschenproduktion einzusteigen und unentgeltlich Sieben-Fächer-Handtaschen herzustellen. Diejenigen Frauen, die mit überdurchschnittlich viel Utensilien und wenig Ordnungssinn ausgestattet sind, werden es mir danken.



©2011, Gisela Reuter

Letzte Aktualisierung: 23.10.2011 - 23.10 Uhr
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