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Vorgegebenes Textfragment | Oktober 2011

Klangfarben
von Frank Atteln

Natalia wartete darauf, dass ein neues Selbst entstand, das sie mit ihrer Phantasie ausfüllen konnte. Auf dem Weg zurück ins Leben wollte sie die Zeugnisse des Leidens in den Charme der Zivilisation kleiden, bis mit der Zeit Körper, Geist und Haltung wieder einer Frau ihres Alters entsprachen. Am Anfang, stellte sie sich vor, würde es wie mit einem neuen Instrument sein, das eingespielt werden muss, bevor sich eine harmonische Klangfarbe stabilisiert. Die Unsicherheit der ersten Wochen würde aber weichen, versprach sie sich. "Mann hat Angst vor Schwitzen, schickt Frau arbeiten. Ist gerecht oder nicht?" rief die Friseurin und lachte. Natalia schreckte aus ihren Gedanken hoch. Der Ehemann der Friseurin hatte den Laden betreten. Er war ein kräftiger Chinese, lebenslustig wie seine Frau und meist gut gelaunt. "Wenn Touristen erste Mal nach Deutschland kommen, glauben anfangs: ist hier Serviceland. Aber ist nicht so, muss man alles selber machen. Bist Du Tourist?" Er produzierte einen Laut der Missbilligung und verschwand in den hinteren Räumen. "Alter Kollektivkapitalist", rief sie ihm hinterher und begann, das Stanniol aus Natalias Haaren zu entfernen. "Ein Mann, ein Sarg", sagte sie, "aber ohne Männer ist das Leben langweilig. Was, Frau Obermüller?" Natalia schob das Kinn nach vorne. Nach einer kleinen Pause murmelte sie: "Gewiss." Als wäre diese erste Reaktion ihrer Kundin ein Startsignal, redete sich die Friseurin in Fahrt: "Wissen Sie, wir wollen übermorgen nach China fliegen, mein Mann will seine Eltern besuchen, und ich hätte ihn als Führer, der die Landessprache spricht. Bequemer geht es nicht. Aber vier Wochen warten wir jetzt auf das Visum, mein Mann fährt inzwischen fast täglich zum Konsulat nach Frankfurt, und heute ist schon Donnerstag." Sie ließ Redeschwall auf Redeschwall folgen, schamponierte, duschte und föhnte. An der Kasse sagte sie: "Was ich noch fragen wollte, Frau Obermüller: Wie geht es eigentlich Ihrem Mann?" Das geht Dich gar nichts an, du blödes Plapperluder, schoss es Natalia durch den Kopf. Sie erwiderte: "Hmm. - das weiß man nicht so genau." "Ja, Gott sei Dank steckt man nicht drin, nicht wahr?" Ihr Zwerchfellreflex überraschte Natalia. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, es gluckste in ihr, der Bauch zitterte, ein Lachen wollte heraus und - konnte doch nicht die steifen Rippenbögen passieren. Ihr entwich ein Laut wie Rabenkrächzen. Als der Reflex abstarb, setzten Bauchkrämpfe ein. Ihr war die Atmung wieder bedrängt und sie fühlte sich, als hätte sie Lungenentzündung - wund, elend und erschöpft. Ohne einen Blick für die Umwelt verließ sie den Salon und rannte beinahe in eine Frau mit Kinderwagen.

Im Bestattungsinstitut wurde ihr mitgeteilt, die Leichenkosmetikerin habe noch einige Fragen. Man führte sie in einen gut gekühlten Raum, in dem sich eine biegsame, schwarz gekleidete Gestalt mit grauem Schal und grauer Mütze über einen Toten beugte und sang. Auf einem Rollwagen neben ihr waren die verschiedensten Fläschchen, Schälchen und Werkzeuge ausgebreitet, und sie tupfte und pinselte, hielt zum Betrachten und Prüfen inne und setzte ihr Werk singend fort. So völlig aufgegangen in ihrer Aufgabe war sie, dass es nicht in ihr Bewusstsein gedrungen zu sein schien, dass jemand den Raum betreten hatte. Der Bürobedienstete, der Natalia in das frostige Herrschaftsgebiet der versunkenen schmalen Person begleitete, räusperte sich und wollte gerade zu sprechen ansetzen, als das Wesen herumfuhr, sie beide mit einem strahlenden Lächeln anblickte und sagte: "Bitte lassen Sie mich raten. - Sie sind die Frau Obermüller, nicht wahr? Ich finde es so spannend, zu prüfen, ob ich mir vorstellen kann, wer mit wem verheiratet ist. War, meine ich, war, nicht wahr, verheiratet war. Leider. Ich bin Miranda, Visagistin für die letzte Vorstellung. Und nun lösen Sie meine Spannung, bitte: Sind Sie die Obermüllerin?" Natalia nickte. Miranda war eine schlanke Frau Mitte zwanzig mit kleinen Brüsten und einem sehr hübschen Gesicht, eine grünäugige Bayerin, der in zwanzig Jahren auch barocker Charme gut stehen würde. "Sie müssen entschuldigen, ich stelle mir für jeden Toten eine Geschichte vor. Manchmal bringen die Verwandten auch ein Foto, dann habe ich eine Gestaltungsvorgabe. Meist muss ich aber nur mit meiner Inspiration modellieren wie ein plastischer Chirurg. Der hier zum Beispiel sieht ein bisschen aus wie Breschnew, finden Sie nicht? Ich glaube, dass niemand will, dass ich diese Ähnlichkeit hervorhebe." Wieder griff sie zum Pinsel und trug etwas Farbe auf seine Lippen auf. "Ich müsste ihm jetzt noch die Augenhöhlen etwas aufspritzen, er hat vor seinem Tod viel abgenommen. Danach können wir über Ihren Mann sprechen, den Rest polstere ich meinem Breschnew später auf. Ist das ok für Sie?" Natalia nickte wieder und machte ein paar Schritte in den Raum. Ihr gefiel die quirlige junge Frau, die gerade ein Schnütchen zog und mit einer langsamen Bewegung unter dem Vorhang ihres Rollwagens eine Spritze hervorholte. Sie wirkte jetzt nachdenklich. Von draußen drang das Geräusch einer Düsenmaschine herein. "Tja", sagte Miranda, während sie die Spritze aufzog, "dann werden wir wohl nicht mehr viel von Ihnen haben. Schade, ich hatte mich so darauf gefreut, Ihre vielen Talente kennen zu lernen." Sie seufzte. Mit einem leisen "Doswidanje, towarisch Leonid" setzte sie die Nadel an. Natalia studierte ihre Bewegungen aufmerksam. Nach dem Unterspritzen mussten die Einstichstellen gesäubert und mit Farbe zugedeckt werden, damit ein sich über den Aufgebahrten Beugender nichts bemerken konnte. In all der Zeit erzählte Miranda ihr Leben. Vom Studium und dem Geldverdienen, vom Putzen im Puff, von zudringlichen und schüchternen Callcenter-Mitarbeitern, von ihrem Freund, ihrer Katze und der Leidenschaft für Zimmerpflanzen. Der Bürobedienstete war längst gegangen. Natalia fühlte sich lebhafter. Sie begann zu reden. Sie erzählte von sich, von ihrem Mann, seinem langsamen Tod, ihrer Ehe, seinen Scherzen, davon, wie sie einmal in einem australischen Hotel ein leidenschaftliches Liebespaar gespielt und bei den Gästen für Gesprächsstoff gesorgt hatten, wie sie in einer Waliser Bed & Breakfast-Pension den Zimmerwirt gegen das Torfstechen in Schottland aufgewiegelt hatten, sie erzählte von seiner Zärtlichkeit und seiner Liebe, und sie merkte, wie gut es ihr tat zu sprechen. Miranda war eine sehr aufmerksame Zuhörerin, und keiner von beiden machten die tiefen Temperaturen etwas aus.

Als Natalia das Bestattungsinstitut verließ und sich unter den Strom der Passanten mischte, fiel ihr das Atmen so leicht, dass es keine Mühe machte. Und das Erzählen von früher hatte etwas in ihr geweckt. Sie ging an einem Telefonladen vorbei und sah drei gegelte Verkäufer über ihren Aktenordnern hängen. Kein Kunde war zu sehen. Sie fühlte einen verlockenden Impuls in sich aufsteigen und betrat das Geschäft. Die Anthrazitanzüge blieben stumm und vermieden jeden Augenkontakt. "Sind die Herren gerade beschäftigt oder hat einer von Ihnen zufällig Zeit?" Niemand reagierte. "Entschuldigung, bedient hier jemand?" Einer von ihnen, ein Jüngling mit blonden Haaren, antwortete mit abschreckend ranzig stinkender Langeweile in der Stimme: "Ich dachte, Sie wollten sich zunächst umschauen." Die beiden anderen Männer sahen sich feixend an und feierten ihren Sieg. Einer hob seinen Aktenordner und machte einen Strich auf einem darunter liegenden Blatt Papier. Natalia setzte nach. "Ich habe da ein Prepaid-Handy gesehen und würde es gerne für einen jungen Herren kaufen, der dringend einen zweiten Kommunikationskanal braucht. Wären Sie bitte so liebenswürdig?" Der Blonde blätterte eine Seite in seinem Aktenordner um und erwiderte, ohne den Blick zu heben: "Das für 39 Euro ist ausverkauft, aber der Praktikant, der das Schild von der Straße nehmen soll, ist in der Mittagspause. Es gäbe eines für günstige 120 Euro, ein gutes Auslaufmodell. Haben Sie Ihren Ausweis dabei?" Natalia machte einen konsternierten Gesichtsausdruck. "Ausweis? Ich dachte es ist ein Prepaid." "Der Ausweis wird benötigt zur Registrierung beim Vertragsanbieter. Soll das Handy denn ein Geschenk sein oder können Sie Ihren Mann mitbringen?" Sie lachte. "Wenn es mein Mann wäre, wäre es kein Problem, dann käme ich ja an seinen Ausweis." Jetzt blickte der Verkäufer sie zum ersten Mal an. Mit einem verschwörerischen Grinsen sagte er augenzwinkernd: "Wir können die Registrierung auch auf Sie machen. Dem Handy liegt eine Karte bei, mit der Sie eine Umtragung auf Ihren jungen Herrn beim Anbieter beantragen können, die füllt er einfach aus und schickt sie ab." "Ich könnte mir auch einfach seinen Ausweis geben lassen und nachher noch einmal wiederkommen." "Nein nein, er muss schon selbst unterschreiben." "Sehen Sie, wäre es mein Mann, wäre es schon wieder kein Problem, ich könnte mir von ihm einfach eine Vollmacht geben lassen." Nun glaubte der Jüngling die Situation sicher erfasst zu haben, grinste breit und sagte leise: "Ja, es gibt Fälle, wo der eigene Name besser nicht auftaucht. Kommen Sie doch wirklich einfach mit Ihrem jungen Herrn wieder hierher." Natalia setzte die Schlusspointe. Sie kniff die Mundwinkel zusammen und murmelte: "Oh je, dann wird es wohl nicht beim Prepaid bleiben", drehte sich um und verließ den Laden. Drei Stimmen riefen im Chor: "Auf Wiedersehen!" Sie setzte sich ins Café gegenüber, um zu beobachten, wie die eben noch leblosen Anthrazitanzüge eine rege Betriebsamkeit an ihren Telefonen entfalteten. Ihrem Mann hätte der Spaß gefallen, und wie sie an ihn dachte, durchströmte sie ein warmes Gefühl. Ein Lächeln legte sich auf Ihr Gesicht, und ein Beobachter hätte einen Funken der Wärme in ihren Augen sehen können. Natalia fühlte sich seit langer Zeit wieder besser.

Letzte Aktualisierung: 27.10.2011 - 10.54 Uhr
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