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Blaues Blut | November 2011
Erinnerungen
von Sonja B.-Hoffmann

Heinz Gräber lebte zurückgezogen am Rande des Dorfes. Er stand jeden Morgen Punkt sieben Uhr auf, ging er als erstes in die Küche, um sich einen Kamillentee zu kochen und trottete dann ins Bad. Er wechselte täglich sein Hemd, rasierte sich nass, weil dies die Haut schonte, und cremte sich sorgfältig ein. Seine ergrauten Haare kämmte er Zeit seines Lebens über den Kopf nach hinten und fixierte sie mit Haarspray. Nach der Morgentoilette, die immer mindestens eine halbe Stunde dauerte, setzte er sich ans Fenster, las Zeitung und beobachtete das Jagdschlösschen, das auf der gegenüber liegenden Straßenseite stand. Dabei beschlich ihn jedes Mal Wehmut, da es seit Jahrzehnten mehr und mehr verfiel. Stürme hatten bereits Löcher ins Dach gerissen, in einzelnen Fenstern fehlten die Scheiben und auch der kleine Park verwilderte zusehends. Oft betrachtete er durch sein Fernglas die Edelrosen und es schmerzte ihn, dass sie zu einem dornigen Buschwerk verwucherten. Manchmal verirrten sich Wanderer hierher, um das einstige Feriendomizil der Adelsfamilie von Wittgenstein zu sehen. Dann achtete er darauf, dass sie das Grundstück nicht betraten. Meist aber war das Anwesen umgeben von einer endlosen Stille.

Es war im Juni, als diese Stille gebrochen wurde. Gräber schlurfte gerade durch seine kleine Essstube Richtung Küche, als der Motor eines Wagens aufheulte. Er hielt inne und zog sich kurzerhand am Tisch entlang zum Fenster und sah nach draußen. Vor dem Schlosstor stand ein Kleinlaster, aus dem eine Frau mit schulterlangen Haaren ausstieg. Sie öffnete die Hecktür ihres Wagens und zog aus dem Inneren Kisten, die sie auf dem Kiesweg abstellte. Einem Impuls folgend ergriff Gräber den Fenstergriff, um es zu öffnen. Etwas in ihm hielt ihn jedoch ab, sie wie die anderen wegzuscheuchen.
Er beobachte sie weiter und die Fremde schleppte die Behälter durch die Parkanlage ins Jagdschloss, das in Gräbers Augen unbewohnbar war. Das feuchte Gemäuer stank nach Moder, der Putz blätterte von den Wänden , es gab weder Heizung, Wasser noch Strom.
Gräber schüttelte den Kopf.
Die junge Frau holte aus dem Wagen Zigaretten und zündete sich eine an. Gräber nahm sein Fernglas und studierte ihre Gesichtszüge. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig, aber sie war keine Adelige. Dafür erschienen ihm ihr Mund zu voll und die Haut zu gebräunt von der Sonne. Auch in ihren Bewegungen konnte er nichts Anmutiges entdecken. Eine Frau aus dem einfachen Volk, würde die Gräfin von Wittgenstein sagen, so wie sie auch ihn, ihren Gärtner, bezeichnet hatte.
Andererseits konnte er sich nicht vorstellen, dass die Gräfin ihr Schlossgrundstück verpachtet hatte. Gräber musterte die Augenpartie der Fremden. Die Mandelform erschien ihm vertraut. Vielleicht irrte er sich?
Die junge Frau holte ihr Handy aus der Jeans und schaute zu ihm rüber. Gräber lehnte sich instinktiv zurück, damit sie ihn nicht sehen konnte.
Sein Telefon klingelte.
„Ruhe“, schimpfte er in Richtung Diele. Ein Gespräch mit Dora, die Einzige, die bei ihm anrief, konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen.
Die Fremde wippte mit dem Fuß, während sie weiter ihr Handy ans Ohr hielt. Offensichtlich erreichte sie niemanden, der ihr behilflich sein konnte.
Wenn er noch jung wäre, … In seiner Erinnerung sah er die Gräfin, wie sie sich nach einem Ausritt beim Absteigen abgemüht hatte. Ihr Reitrock hatte sich im Sattel verfangen und er hatte es gewagt, ihr mit seinen erdigen Händen behilflich zu sein. Fünfundvierzig Jahre war das her. Von einem Tag auf den anderen verschwand sie mit ihrem Mann und den Kindern.
Kein Abschied. Keine Nachricht.
Und er hatte gewartet. All die Jahre den Park und die Rosen gepflegt. Er würde es heute noch tun, wenn nicht diese Knochenschmerzen wären. Er zitterte innerlich bei diesen Gedanken.
Die junge Frau stand nun hinter der HecktĂĽr ihres Wagens. Sie beugte sich ins Innere und zog einen Karton hervor. Etwas kippte und eine FlĂĽssigkeit schwappte auf den Boden. Schnell packte sie zu, bevor der Rest herunterfiel.
„Herr Gräber!“
Dora stand mit feuerroten Wangen in der EsszimmertĂĽr, bepackt mit prallgefĂĽllten Taschen voller Lebensmittel.
„Ich hoffe, das reicht diese Woche. Eine Kartoffelsuppe, Gulasch und einen Lammeintopf habe ich vorgekocht. Brot, Salami und Ihren geliebter Kamillentee stelle ich in den Vorratsschrank.
Sie lächelte und trug ihre Schätze in die Küche.
„Frau Berner?“
„Ja?“
Gräber hörte die Kühlschranktür auf- und zugehen.
„Gegenüber! Haben Sie das mitbekommen?“, brüllte er Richtung Küche.
„Was?“
„Jemand zieht ins Schloss.“
Dora kam aus der Küche und schaute verständnislos auf die Straße. „Wer?“
„Ich beobachte sie schon die ganze Zeit. Ich muss wissen, wer sie ist.“
„Dann werden Sie sie fragen müssen“, antwortete Dora lakonisch und wandte sich zum Gehen.
„Sie werden das für mich tun.“
Gräber sagte dies mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete.
„Keine Zeit, Herr Gräber.“
„Können Sie mir nicht diesen einen Gefallen tun?“
„ Nächste Woche vielleicht. In zwei Stunden geht unser Flieger. Mein Mann wartet draußen und Ihr Wocheneinkauf hat ihn ohnehin schon überstrapaziert.“
„So lange kann ich nicht warten. Es kostet Sie eine Minute. Eine einzige Minute. Ich zahle auch extra.“
„Es geht nicht. Außerdem, erinnern Sie sich, gestern Abend? Diese Frau, die sie sprechen wollte.“
„Was hat das damit zu tun?“
„Ich musste sie wegschicken, weil Sie mit niemanden etwas zu tun haben wollen. Ich glaube, das könnte diese Frau gewesen sein. Sie wollte sich bestimmt als Ihre neue Nachbarin vorstellen, hatte auch eine Blume in der Hand.“
„Reden Sie nicht so ein blödes Zeug.“
„Sie wissen immer alles besser.“
„Und Sie geben immer zuviel Pfeffer in den Eintopf. Er ist ungenießbar.“
„Wiedersehen Herr Gräber, bis in einer Woche.“ Dora zog die Zimmertür hinter sich zu.

Es dämmerte mittlerweile und hinter den zierlichen Butzenscheiben des Schlosses schimmerte es bläulich. Ab und zu sah er ihren Schatten vorbeihuschen.
Was war eine Woche Warten gegen fünfundvierzig Jahre, fragte sich Gräber immer wieder.
Plötzlich quietschte das Parktor und er spürte, wie sich ein Eisenring um seinen Brustkorb legte und festzog. Wenn sie jetzt wegfuhr, verschwand sie vielleicht für immer.
Die junge Frau trat ins Mondlicht und schaute nach rechts Richtung Dorf, als erwarte sie von dort jemand. Dann blickte sie zu ihm herüber. Ihre Augen hefteten sich an sein Fenster. Er hatte kein Licht angemacht und war sich sicher, dass sie ihn nicht sehen konnte, und trotzdem spürte er, wie seine Glieder weich wurden. Er fröstelte plötzlich.
Sie lief den Weg entlang, blieb stehen und verschränkte die Arme. Nach ein paar Minuten lief sie zurück ins Schloss und ihr Schatten tauchte hinter den Butzenscheiben auf.
Gräbers Blick wanderte zum Parktor. Sie hatte es offen stehen lassen. Vermutlich wollte sie zurückkehren. Als sie jedoch nach einer halben Stunde immer noch nicht aufgetaucht war, war er sich sicher, dass sie es vergessen hatte.
Gräber stemmte sich von seinem Stuhl hoch, quälte sich mit kurzen Schritten ins Schlafzimmer und zog die dunkelbraune Strickjacke über. Dann nahm er den Haustürschlüssel vom Haken und schlurfte nach draußen.
Eine milde Brise schlug ihm entgegen. Er betrachtete seinen Kirschbaum, dessen Spitze bis ans Hausdach reichte. Er trug reichlich Früchte. Im Schlosspark hatte er damals zur selben Zeit einen Kirschbaum gepflanzt. Die Gräfin hatte die Süße dieser Früchte geliebt.
Er hatte sich mit seinen Händen am Ast festgehalten und hochgezogen und ihr die Süßesten gepflückt. Sie hielt ihre Augen geschlossen, als er die Frucht zwischen ihre Lippen schob. Und dann…, er konnte sich an jede Einzelheit erinnern, an die Weichheit ihrer Lippen, an die Röte, die in ihre Wangen schoss und an das Girren, das er ihrer Kehle entlockt hatte.
Das Dorf unterhalb von ihnen hatte von alldem nichts mitbekommen.
Gräber bewegte sich mühsam fort.
Vor dem Parkeingang schimmerte eine dunkelblaue Flüssigkeit auf dem Boden. Die Ränder waren eingetrocknet. Es sah aber nicht wie Wandfarbe aus, eher wie Blut.
Wie kam er jetzt auf Blut? Blaues Blut?
Gräber verscheuchte diese Gedachten und betrat den Park.
Der einst von ihm korrekt geschnittene Rasen hatte sich in eine kniehohen Wiese verwandelt. Seine weißen Edelrosen rankten an den Metallstäben des eingewucherten Pavillon empor und bogen sich wild in alle Richtungen. Die Steine knirschten unter seinen Füßen, als er zu ihnen schlurfte. Er nahm eine Blüte zwischen seinen Fingern und roch daran. Der Rosenduft stieg ihm in die Nase und er hörte das unwirkliche Lachen der Gräfin, als er ihr eine blaue Züchtung versprach. Ebenbürtig wollte er sein. Er, der Gärtner, wie lächerlich.
„Wer sind Sie?“
Die helle Stimme hinter seinem Rücken trieb ihm die Tränen in die Augen.
Vor fĂĽnfundvierzig Jahren sagte diese helle Stimme die Worte, die sich in sein Herz gebrannt haben: Ich kann nicht, Heinz.
„Wenn Sie nicht augenblicklich sagen, wer Sie sind, rufe ich die Polizei.“
Er holte Luft, doch er brachte keinen Laut hervor.
„Ich bin nicht alleine, hören Sie, und ich habe ein Gewehr.“
Er wollte sich umdrehen, ihr zeigen, dass sie keine Angst zu haben brauchte, doch seine Beine gehorchten nicht. Dann hörte er die Schlosstür und wie eine Eisenkette fiel die Starre von ihm ab. Er blickte sich um und sah ihren Schatten im Schlossinneren. In wenigen Minuten würde die Polizei vorfahren. Vorher musste er ihr erklären, wer er war.
Gräber schleppte sich zum Schlosseingang hoch und blieb dort stehen. Er starrte durch die Türscheibe.
Ein sechsflammiger Kronleuchter erhellte den Raum. Die Gräfin rannte ihren Kindern hinterher. Eine Locke hatte sich aus ihrer Frisur gelöst, auf deren Sitz sie immer so bedacht war. Die Kleinen juchzten und fegten um die Jugendstilmöbel herum. Unerwartet hielt die Gräfin inne und schaute ihn an. Sein Blick fiel auf eine Glasvase, die neben ihr auf einem Tischchen stand. Sie nahm daraus die Blume in die Hand, eine blaublütige Rose.
In der Ferne hörte Gräber ein Jagdhorn. Er lächelte.

Letzte Aktualisierung: 27.11.2011 - 14.34 Uhr
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